"Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen, bis er dem Recht zum Sieg verholfen hat."

Karl Meyer

„Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen, bis er dem Recht zum Sieg verholfen hat.“

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer am 20. Juli 1991 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Evangelium und Predigttext (Mt 12,9 – 21):

„Er ging in ihre Synagoge. Dort saß ein Mann, dessen Hand verdorrt war. Sie fragten ihn: Ist es am Sabbat erlaubt zu heilen? Sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn. Er antwortete: Wer von euch wird, wenn ihm am Sabbat sein Schaf in eine Grube fällt, es nicht sofort wieder herausziehen? Und wie viel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf? Darum ist es am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun. Dann sagte er zu dem Mann: Streck deine Hand aus: Er streckte sie aus, und die Hand war wieder ebenso gesund wie die andere. Die Pharisäer aber gingen hinaus und fassten den Beschluss, Jesus umzubringen.

Als Jesus das erfuhr, ging er von dort weg. Viele folgten ihm, und er heilte alle Kranken. Aber er verbot ihnen, in der Öffentlichkeit von ihm zu reden. Auf diese Weise sollte sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist:

Seht, das ist mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem ich Gefallen gefunden habe.

Ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Völkern das Recht verkünden. Er wird nicht zanken und nicht schreien, und man wird seine Stimme nicht auf den Straßen hören.

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen, bis er dem Recht zum Sieg verholfen hat.

Und auf seinen Namen werden die Völker ihre Hoffnung setzen.“

I.

Das heutige Evangelium sagt einfach: Sie fassten den Beschluss, Jesus umzubringen. Ohne jeden Grund tut man das nicht.

1. Was war für den Beschluss maßgebend?

Maßgebend war, dass Jesus den entscheidenden Maßstab setzte: keinen Menschen zugrunde gehen zu lassen, weil er so wertvoll ist.

Jesus hat die Sache auf den Punkt gebracht: Seine Gegner überschreiten für ein Tier selbst die strengsten religiösen Gesetze. Ein Schaf, das ihnen in eine Grube fällt, holen sie auch am Sabbat heraus. Und Jesus findet: Das ist in Ordnung.

Aber Jesus nimmt als Beispiel ein Schaf und sagt damit: Faktisch tut der Mensch so etwas für ein Nutztier.

Der Mensch ist aber letztlich nie ein Nutzmensch. Wenn die Hilfe für einen Menschen in Not also nicht seinem eigenen Nutzen dient, dann fragt der Mensch sofort: Bin ich denn der Hüter meines Bruders? Dann interessiert er sich wenig dafür, ob der andere lebt oder zugrunde geht. Dann findet er schnell edle und gar religiöse Vorwände für sein Nichthandeln.

Dabei gilt: „Wie viel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf?“ Muss man dem Menschen deswegen nicht noch viel eher helfen?

Jesus steht an der Stelle Gottes und fragt: Wo ist dein Bruder Abel? Und er steht an der Stelle des Menschen und hütet seinen Bruder. Dadurch packt er an das Gewissen. Dadurch deckt er den schlimmen Hintergrund des guten Scheins, im religiös umkleideten Vorwurf gegen ihn, das mörderische Desinteresse des Menschen am anderen Menschen auf.

Das ist der Punkt, weshalb sie ihn beseitigen wollen. Jesus macht ihnen klar: Homo homini lupus. Der Mensch ist für den anderen Menschen ein Wolf – und dabei sollte er gerade sein Hüter gegen die Wölfe sein.

2. Viele Reiche der Geschichte haben den Menschen als Nutzwesen betrachtet und manchmal, wenn Menschen sich nicht darauf reduzieren ließen, Tiere besser behandelt als Menschen. Die totalitären Regime unseres Jahrhunderts haben mit ihren technischen Möglichkeiten zur Manipulierung der Meinungen und zur Überwachung von Abweichlern den Wert des Menschen am perfektesten in Frage gestellt und untergraben und sich um das Leben des einzelnen Menschen wenig geschert.

Sie haben auch immer versucht, in die Versuchbarkeit des Menschen einzudringen, der sich vom Mitmenschen dispensiert. Sie wollten Gott zu einem Gott des Rituals reduzieren, der für das tägliche Leben unerheblich ist, den Gott und Vater Jesu Christi aber ausschalten, der vor allem am vollen Leben jedes Menschen ein Interesse hat. Die Nationalsozialisten waren Meister darin.

Aber Gott hat sich Zeugen bewahrt. Viele haben beim Unrecht nicht mitmachen mögen. Manche haben im Namen Gottes wirklich nicht mitgemacht, Große und Kleine, Gebildete und Ungebildete. Einige von ihnen waren durch ihre Stellung und verschiedene Umstände berufen, Größeres anzugehen. Sie haben durch ihr Handeln die Lage aufgedeckt. Wen wundert es, dass es ihnen ergangen ist wie ihrem Meister Jesus: Man hat den Beschluss gefasst, sie umzubringen, wenn sich dazu die Gelegenheit bieten würde.

Wir sind hier zusammengekommen, um für alle besonders derer zu gedenken, die sich zu gemeinsamer Aktion zusammenfanden, als sich der Knoten schürzte, als das Netz zugezogen wurde, als deutlich wurde, dass es für das deutsche Volk schlimm enden würde. Sie haben den Versuch gemacht, eine entscheidende Wende herbeizuführen. Es ist ihnen leid gewesen um ihr Volk, und sie haben Gott die Ehre gegeben, der ein Gott der Menschen ist.

II.

Jesus gerät in die Konfrontation. Aber wie verhält er sich? Das ist das zweite Thema unseres Textes.

Er bleibt bei der Sache, die ihm aufgetragen ist: Er verkündet und gibt Leben. Jesus sucht nicht die Provokation. Er lässt sich auch nicht leicht in Provokation hereinziehen. (Dieser Weg wird auf Golgatha enden.)

In diesem einfachen Verhalten erfüllt sich für Matthäus eine alte Verheißung, die auch heute noch bewegt:

„Seht, das ist mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem ich Gefallen gefunden habe.

Ich werde meinen Geist auf ihn legen, und er wird den Völkern das Recht verkünden. Er wird nicht zanken und nicht schreien, und man wird seine Stimme nicht auf den Straßen hören.

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen, bis er dem Recht zum Sieg verholfen hat.

Und auf seinen Namen werden die Völker ihre Hoffnung setzen.“

1. Wie kommt solch eine Verheißung, ein Lied, das durch Jahrhunderte gesungen wird, zustande?

Es wächst aus Vorgaben Gottes, aus Enttäuschungen, Einsicht und Hoffnungen.

Diese Verheißung ist gewachsen aus der Frustration über große leere Worte, große Taten und Revolutionen, die den Völkern einen Augenblick lang große Hoffnungen gemacht, ihnen aber immer danach ein bitteres Erwachen beschert haben.

Sie ist gewachsen aus der Einsicht in die Voraussetzungen und Bedingungen, die eine grundlegende Veränderung der Menschen und der Gesellschaft ermöglichen.

Die Grundvoraussetzungen sind:

die Fähigkeit zum behutsamen Umgang mit Spuren des Lebens,

Wahrnehmung von Resten des Lebens,

Ansetzen am Geringsten und Kleinsten,

die Fähigkeit zum Glauben an die Macht Gottes, der aus dem Nichts etwas machen kann,

die Fähigkeit, das Gewissen und das Herz des Menschen anzurühren.

Der Protest gegen Unmenschlichkeit ist gut. Aber auch der Protest trägt jeweils nur so weit, wie die Menschen, die protestieren, menschlich sind, menschliche Substanz haben. Sonst löst nur ein Unrechtssystem das andere ab. Und die Substanz erweist sich meistens in Stille und Sanftmut.

2. Jesus hat diese Substanz.

Sein Denken und Handeln ist gespeist vom Geiste Gottes. Auf Ihn dürfen sich mit Recht die Hoffnungen der Völker richten.

Schauen wir auf die Menschen, die heute stellvertretend für viele im Blickpunkt stehen. Woraus war ihr Handeln gespeist?

Es war gespeist aus Begeisterung, nicht aus der manipulierten Begeisterung der Massen, die sich hierhin und dorthin neigt, sondern aus der erlittenen und nüchternen Begeisterung, die sich am Geist Gottes entzündet hat, dessen Hauptwerk in dieser Welt die barmherzige Menschwerdung des Sohnes Gottes war, weil der Mensch so viel wert ist. So bleiben sie ihrem Ziel treu.

Es war gespeist aus menschlicher Ganzheit. Mehr als alle anderen Fähigkeiten und Fertigkeiten war bei den Zeugen des Widerstandes entwickelt die Fähigkeit zur Ganzheit, zur Hingabe und zur Treue.

Sie zeigt sich in der Treue zu ihren Ehefrauen. Die Treue ist gegenseitig. Sie zeigt sich ebenso in der liebenden Treue der Ehefrauen zu ihren Männern – über den Tod hinaus. Es ist eine Treue zu den gemeinsam gewollten Werten, für die auch die Frauen die Konsequenzen wie Gefängnis und Enteignung und Zurücksetzung selbst nach dem Krieg getragen haben. Josef Wirmer schreibt am 8. September, kurz bevor er hier aufgehängt und ermordet wird, an seine Frau: „Wichtig ist mir, Dir zu danken für Dein Leben der Liebe für mich und Dir zu sagen, daß ich Dich immer sehr und nur immer Dich geliebt habe.“ Das Wort hat dieselbe Unbedingtheit an sich wie sein soziales Engagement im Beruf und wie seine Arbeit für den Widerstand.

III.

Gern wünschen wir dem hohen Einsatz und der Tugend den offenkundigen Erfolg. Erfolglosigkeit stellt uns in Frage. Das ist das Schicksal der Männer und Frauen aus dem Widerstand gegen Hitler.

Nichts – so sieht es zunächst aus – ist geblieben für sie und für Deutschland. Es war ihre schwere Anfechtung, und die Machthaber verstärkten sie, wenn z.B. ein Pflichtverteidiger ausführte, sie hätten selbst erkannt, dass Gott gegen sie entschieden habe. Und die Frage mag bei vielen Hinterbliebenen nagen: Wofür dieses Opfer?

Mehr als anderes ist wegweisend und tröstend der Tod Jesu. Auch ihm blieb die Anfechtung nicht erspart. Unter dem Kreuz sagt der Hauptmann aber beim Tode Jesu: „Wahrhaftig, dieser Mann war gerecht.“ Und sogar: „Dieser Mann war Gottes Sohn.“ Jesus Christus ist auferstanden, wirkt durch die Geschichte weiter, und er ist auf seine Weise dabei, dem Recht zum Sieg zu verhelfen. Und auf Ihn setzen die Völker ihre Hoffnung.

Eine Weise auf Seinem Weg zum Sieg des Rechts war der Kampf seiner Zeugen gegen Hitler.

Alle, die damals Hüter ihrer Brüder und Schwestern sein wollten, sind eingezeichnet in die Gestalt des Gerechten. Viele wollten bewusst zu Ihm gehören. Wie sie den gewaltsamen Tod auf sich nahmen, das deckte auf, dass sie zu Ihm gehören, dass sie inneren Anteil an Ihm haben. Sie wirken in Ihm weiter durch die Geschichte. Ihr Handeln und Sein geht in die Evolution der Menschheit ein, bis sie die Gestalt Christi erreicht, bis das Recht zum Sieg gekommen ist.

Jesus Christus ist Gottes Vermächtnis für die ganze Menschheit.

Die, derer wir heute gedenken, sind als Zeugen für Gottes Interesse am Menschen vor allem ein Vermächtnis für Deutschland. Es ist ein Talent, das wir nicht vergraben dürfen, sondern mit dem wir wuchern sollen.

Schreiben wir das Vermächtnis, das uns in den Männern und Frauen um den 20. Juli 1944 geschenkt ist, ein in das Evangelium des heutigen Tages, sagen wir es mit seinen Grundgedanken, so heißt es:

1. Jeder Mensch ist unendlich viel wert, ihr dürft sein Leben deshalb nicht zugrunde gehen lassen, ihr müsst es heilen, ihr müsst das Leben wahrnehmen, die Reste des Lebens, die unscheinbaren Anfänge des Lebens lieben, gerade wenn es euch nichts nützt. Seinetwegen dürft ihr gegebenenfalls die Konfrontation mit der in den Tod verliebten Welt nicht scheuen.

2. Wenn ihr das wollt, wenn euch der Mensch so viel wert ist, dann bildet euch und die anderen Menschen so, dass ihr Substanz habt:

Sinn für das Leben und Liebe zum Leben sind wichtig: „Die Welt ist kein Kerker. Es ist Lust und Freude und Hoffnung und Belohnung in ihr.“ (Josef Wirmer an seine Frau Hedwig aus Plötzensee am 5. September 44) Gleichzeitig ist Einsicht ins Leben wichtig, „auch die Einsicht, daß es im Leben nicht auf Fordern und Genießen ankommt, sondern auf Treue, Dienst und Opfer“ (Josef Wirmer an seinen Bruder Otto am 14. August 44 aus Ravensbrück).

Aus beiden ergibt sich die Notwendigkeit, nach Tugend zu streben: Klarheit, Festigkeit, Geduld, Beherrschtheit, Angemessenheit des Handelns, Freundlichkeit, Sanftmut.

3. Wenn euch der Mensch etwas wert ist, wenn ihr dem Recht zum Sieg verhelfen wollt,

dann ist wahre Begeisterung nötig, nicht eine von außen induzierte Emotion, die die Hohlheit verdeckt und die unter dem Hauch einer wirklichen Gewalt vergeht. Sie geht zusammen mit Beherrschtheit und Mut.

Wahre Begeisterung ist verbunden mit der Ganzheit der Gestalt, besonders mit der Ganzheit einer Liebe.

So unverbrüchlich oder beliebig wie die Gestalt eurer Ehe ist, so unverbrüchlich oder beliebig wird auch die Gestalt eurer Zusage zu anderen Menschen sein. Die Zeugen des 20. Juli 1944 haben uns das deutlich vorgelebt.

Welche gewaltige Kraft für den notwendigen Kampf auf allen Feldern wird einem Menschen zuwachsen, der sagen darf:

Geliebt habe ich

Dich immer sehr und nur immer Dich.

4. Hören wir ein letztes Wort Josef Wirmers, das er stellvertretend für viele, die hier in Plötzensee und anderswo gelitten haben, uns sagt:

„Wenn ihr einst nach dem Sturm dieser Zeit wieder in Frieden lebt, dann hebt gelegentlich maI das Glas und denkt an mich.“ (Brief an Dr. Wilhelm Elmendorff aus Ravensbrück am 16. August 44)

Ein schönes Wort der Überlegenheit in aller Not und der Zuversicht für die Lebenden.

Den Wunsch zu erfüllen, wäre eine schöne Form der Dankbarkeit, die uns im vereinigten Vaterland ansteht, nun da der tiefe Riss heilt, den die Katastrophe hinterließ. Wir können das heute Mittag tun.

Jetzt feiern wir Eucharistie – Danksagung:

Wir erheben den Kelch im dankbaren Gedenken an Gottes Geschenk, dass Jesus Christus von Anfang bis Ende für uns da war, im dankbaren Andenken auch an das Geschenk, dass Menschen sich durch Seine Gnade haben einfügen können in Sein Leben für uns. Wir trinken dann aus diesem Kelch sein Blut, sein Leben, ausgeschüttet für uns. Möge es uns und vielen zum Leben gereichen.

Amen.







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