Die Männer und Frauen des 20. Juli stehen für die Kontinuität eines demokratischen Deutschlands

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Harry Ristock

Die Männer und Frauen des 20. Juli stehen für die Kontinuität eines demokratischen Deutschlands

Rede des Senatsdirektors der Schulverwaltung Harry Ristock bei der Gedenkfeier für die Schüler der Berliner Oberschulen am 1. Juli 1974 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Liebe Schülerinnen und Schüler,

meine Damen und Herren!

Am 20. Juli 1974 wird sich zum 30. Mal der Tag jähren, an dem Männer und Frauen unseres Volkes einen letzten Versuch unternahmen, das Mordsystem des Nationalsozialismus zu beenden. Das Attentat auf Hitler sollte den Weg des Verbrechens gegenüber anderen Völkern, gegenüber dem eigenen Volk, dem sinnlosen Sterben und den Weg in den Untergang beenden.

In dieser Gedenkstätte - wenige Meter hinter diesem Monument, wurden diejenigen brutal ermordet, die ihr Gewissen, ihre Menschlichkeit, ihre politische Überzeugung zwang, gegen die Gewaltherrschaft des nationalsozialistischen Reiches anzutreten. Ihnen erwächst daraus menschlicher und historischer Rang.

In einer Zeit, in der der Begriff „Heldentum“ eine vielfältige Interpretation erfährt, bleibt unzweifelhaft und unbestreitbar die Bedeutung der Männer und Frauen des 20. Juli 1944.

Brecht spricht im Arturo Ui davon, dass es gilt, „den Schoß auszutrocknen, aus dem das kroch“. Beschreiben wir kurz die Wurzeln, die Bedingungen, aus denen das kroch und wuchs. Beschreiben wir das Werden des Mördersystems „Nationalsozialismus“.

Anders als in den sich demokratisierenden Gesellschaften - z.B. Frankreichs und Englands - befand sich das deutsche Volk über Jahrhunderte in einer Untertanen-Entwicklung. Der Bürgergeist zerbrach in den provinziellen, muffigen Feudalgewalten einzelner Landesfürsten.

Zerstörung der Zentralgewalt im frühen Mittelalter,

das Aussterben der Städte im 30-jährigen Krieg,

das Fehlen einer, alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden, freien, bürgerlichen Entwicklung,

die unselige Allianz des Bündnisses zwischen den Feudalherren und dem Großkapital im vorigen Jahrhundert,

jener aus den Kloaken des Ungeistes kriechende Antisemitismus, der zugleich zum psychischen Herrschaftsinstrument über das Bewusstsein nicht mündiger Bürger wurde,

all das floss ein in die Ausgangsvoraussetzungen der Weimarer Republik. Für einige war diese Republik lediglich ein vorübergehender Mantel, um gesellschaftlich zu überleben, andere sahen in der parlamentarischen Republik nur einen Übergang und wiederum andere - ferngelenkt durch ihre kommunistische Zentrale außerhalb Deutschlands - förderten das Chaos, um - wie sie meinten - nach dem Abwirtschaften der Nationalsozialisten selbst die Macht zu übernehmen. Rechte und linke Extremisten, Kommunisten, Industrielle und Großgrundbesitzer der Habsburger Front vereinten sich gegen die Demokratie. Sie zerschlugen gemeinsam die schwache Republik und ermöglichten damit erst den Nationalsozialismus.

Bringen wir es auf eine Kurzformel:

Faschismus, das ist ein Bündnis von reaktionären, kleinbürgerlichen Massen mit aus deren Mitte und gleichem Geist entwachsenden Führern;

Faschismus, das sind die Minderwertigkeitskomplexe nichtemanzipierter Menschen, die sich im Größenwahn ihrer Führer scheinbar zu emanzipieren glauben,

Faschismus, das war die Förderung eines verbrecherischen Unternehmens durch die Reaktionäre aus der Großindustrie, die Großgrundbesitzer und einem reaktionär bestimmten Heer sowie einer Verwaltung und Justiz, die einäugig - ja blind - den Faschismus förderte, tolerierte und nur gelegentlich schwächlich bekämpfte.

Viele derer, die am 20. Juli 1944 ihr Leben einsetzten, haben erst spät Ursachen, Zusammenhänge und Bedingungen erkannt. Aber darüber ist nicht zu richten, denn sie wagten ihr eigenes Leben, um spät - aber, wie sie glaubten, nicht zu spät - den Wahnsinn zu beenden.

Über diesen deutschen Widerstand urteilte Winston Churchill im britischen Unterhaus:

„In Deutschland lebte die Opposition, die durch ihre Opfer und eine entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde … solange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar und unerkennbar, weil sie sich tarnen mussten. Aber in den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden. Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah, aber ihre Taten und Opfer sind das Fundament eines neuen Aufbaues.“

Wie kam es zur Bildung dieses Widerstandes?

Seit dem Sommer 1940 trafen sich oppositionelle Männer aller politischen Richtungen, die durch eine gemeinsame, christliche und soziale Anschauung verbunden waren, auf dem Gut des Grafen Helmuth James von Moltke in Kreisau in Schlesien. Der „Kreisauer Kreis“ entwickelte Reformpläne, vor allem für eine künftige übernationale und föderalistische Zusammenarbeit in Europa. Trotz der Zusammenarbeit mit entschiedenen Sozialisten, wie dem Pädagogen Reichwein und den sozialdemokratischen Politikern Mierendorff und Leber, blieben die innenpolitischen Vorstellungen unklar. Die moralische Aussage überwog. Jedoch haben die Gespräche des Kreisauer Kreises viel dazu beigetragen, Widerstandskämpfer verschiedener konfessioneller und politischer Herkunft zusammenzuführen.

Die Gruppe von Studenten und Hochschullehrern um die Geschwister Scholl, die 1942/43 in München Flugblätter verteilte, die sich gegen Regierung und Krieg richteten, folgte wie andere dem Gewissen und opferte sich auf, ohne auf größere Erfolge gegen das Regime hoffen zu dürfen. Hier opponierten Jugendliche, die bereits durch die HJ-Erziehung gegangen waren:

„Im Namen der deutschen Jugend fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen, zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat. In einem Staat rücksichtsloser Knebelung jeder freien Meinungsäußerung sind wir aufgewachsen. HJ, SA, SS haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht.

‚Weltanschauliche Schulung’ hieß die verächtliche Methode, das Selbstdenken in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken … Es gilt den Kampf jedes einzelnen von uns um unsere Zukunft, unsere Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewussten Staatswesen.

Freiheit und Ehre! Zehn lange Jahre haben Hitler und seine Helfershelfer die beiden herrlichen deutschen Worte bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht, wie es nur Dilettanten vermögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen. Was ihnen Freiheit und Ehre gilt, haben sie in zehn Jahren der Zerstörung aller materiellen und geistigen Freiheit, aller sittlichen Substanz im deutschen Volk genügsam gezeigt. Auch dem dümmsten Deutschen hat das furchtbare Blutbad die Augen geöffnet, das sie im Namen von Freiheit und Ehre der deutschen Nation in ganz Europa angerichtet haben und täglich neu anrichten. Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet.“

Hans Scholl war zum Widerstand durch die eigene Anschauung der deutschen Besatzungspolitik im Osten gekommen. Das gleiche galt auch für viele jüngere Offiziere, die ab 1943 immer stärker zur Gewaltanwendung und zum politischen Attentat auf Hitler drängten. Nur so schien es möglich zu sein, den nationalsozialistischen Führerstaat tödlich zu treffen und das Leben vieler Menschen zu retten. Pläne zum Staatsstreich und Tyrannenmord arbeitete der Generalstabsoffizier Claus Graf Schenk von Stauffenberg aus, der, in Tunis schwer verwundet, Mitte 1944 Stabschef des Befehlshabers des Ersatzheeres wurde. Hier erhielt er die Möglichkeit, einen „legalen“ Plan gegen „innere Unruhen“ mit Ausnahmezustand und Übernahme der vollziehenden Gewalt durch die Armee auszuarbeiten: Das Unternehmen „Walküre“.

Stauffenberg nahm Verbindung zu aktiven Vertretern der politischen Linken auf, besonders zum ehemaligen Reichstagsabgeordneten Julius Leber. Tatsächlich hatte zur Zeit der Umsturzpläne keine deutsche Widerstandsgruppe irgendeine Unterstützung von außen zu erwarten. Abscheu vor den deutschen Untaten und gegenseitiges Misstrauen bewogen die gegen Deutschland verbündeten Mächte der „Anti-Hitler-Koalition“, von Deutschland die bedingungslose Übergabe ohne Zusicherungen und Verhandlungen zu fordern. Generalmajor von Tresckow, einer der Verschwörer, ließ Stauffenberg mitteilen: „Das Attentat (auf Hitler) muss erfolgen … Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“

Hitler besuchte während der Kriegszeit nicht mehr die Städte, auch kaum Truppeneinheiten. Er hielt sich zumeist in seinem „Führerhauptquartier“ auf, das sich Mitte 1944 in der „Wolfsschanze“ in Ostpreußen befand. Stauffenberg hatte als einziger vom engeren Verschwörerkreis Zugang zu Hitlers Lagebesprechungen. So wurde er, der Planer des Umsturzes, auch mit dem Attentat beauftragt, das wegen seiner, durch die Verwundung bedingten, körperlichen Behinderung nur ein Sprengstoffattentat sein konnte. Es gelang ihm am 20. Juli 1944, eine Aktentasche mit Sprengstoff in der Nähe Hitlers abzustellen und nach Berlin zurückzufliegen. Durch einen Zufall überlebte Hitler, kaum verletzt.

Stauffenbergs entschlossener Versuch, den Plan „Walküre“ und den Umsturz dennoch vom Armee-Oberkommando in der Berliner Bendlerstraße aus durchzusetzen, misslang trotz einiger Teilerfolge. Am Abend des gleichen Tages wurde Stauffenberg mit seinen engsten Mitarbeitern erschossen. Eine neue Verhaftungswelle rollte über Deutschland, die außer den Verschwörern und ihren Familienangehörigen auch andere aktive und potentielle Gegner des Regimes erfasste. Viele der Inhaftierten mussten noch Ende April 1945 sterben; ein schwerer Verlust für die deutsche Demokratie der Nachkriegszeit!

1943 hatte das Justizministerium 5684 Hinrichtungen registriert, im Jahre 1944 waren es 5764. Die Zahl der Hinrichtungen wird für 1945 auf mindestens 800 geschätzt, ungerechnet die Opfer sogenannter „Militärgerichte“. Wir sind nach 1945 daran gegangen, die parlamentarische Demokratie wiederaufzubauen. Selbst wenn man Mängel und Schwächen einbezieht ist uns das gelungen. Unsere parlamentarische Demokratie spiegelt keine Harmonie wieder. Sie ist durch den Kompromiss geprägt. Sie unterliegt dem Gesetz der Berechtigung vieler Strömungen und Gruppen. Sie schließt die Allmacht einer Partei, einer Strömung, einer Gruppe, einer Clique aus.

Gerade die Jugend unseres Landes hat Ende der 60er Jahre mit dazu beigetragen, das Reformpotential erheblich zu erweitern, und wir wissen um die dringend notwendige weitere demokratische Ausfüllung unseres Grundgesetzes.

Die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 ließen ihr Leben, weil sie ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit, von Menschenwürde, von sozialer Verantwortung nicht untreu werden wollten.

Sie standen und stehen für die Kontinuität eines demokratischen Deutschlands.

Sie, liebe Schülerinnen und Schüler, die Sie in diesem Land nach den Schrecken der Hitlerbarbarei geboren sind, haben Ihre Verantwortung. Diese, Ihre Verantwortung, richtet sich nicht nur auf die Bewältigung der Vergangenheit. Das ist in erster Linie Aufgabe Ihrer Väter. Ihre Verantwortung geht in die Zukunft! Wehren Sie den Anfängen totalitärer, autoritärer und elitärer Verengung! Streiten Sie für die Freiheit, die wie Rosa Luxemburg sagte - immer auch die Freiheit des Andersdenkenden ist!

Dieser Tag und das Tun der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 ist für uns eine unauflösbare Verpflichtung.