Die Motive des Widerstandes zur Richtschnur des Handelns machen

Rudolf Georgi

Die Motive des Widerstandes zur Richtschnur des Handelns machen

Ansprache von Rudolf Georgi bei der Gedenkfeier der Berliner Schulen am 6. Juli 1966 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

„Leuchtender Männer Grab ist die ganze Erde und nicht nur die Inschrift der Säule in der Heimat bezeichnet sie. Auch im fremden Lande lebt ewig in der Brust der Menschen das ungeschriebene Gedächtnis ihrer Gesinnung mehr noch als das ihrer Tat.“ Diese Worte sprach Perikles in der Rede vor den Athenern zum Gedenken für die Gefallenen im Peloponnesischen Krieg.

Wir haben uns heute hier in Plötzensee zusammengefunden, um des deutschen Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu gedenken. Anlass unseres Gedenkens ist die Wiederkehr des Tages, an dem dieser Widerstand durch das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 für alle Welt sichtbar wurde. Ort unseres Gedenkens ist dieses Mahnmal hier an der Hinrichtungsstätte zahlloser Opfer des Widerstandes. Sie versinnbildlicht für uns den Opfertod all der Männer und Frauen, die ihr Leben irgendwo in der Welt gegen die Hitlerdiktatur einsetzten. Wir werden dem Vermächtnis dieser Toten durch Erinnerung allein kaum gerecht: Wir müssen uns vielmehr auf die Motive des Widerstandes besinnen und sie zur Richtschnur unseres Handelns machen.

Wenn nun ich heute zu Ihnen spreche, so stehe ich als der Enkelsohn des Generals der Infanterie Friedrich Olbricht vor Ihnen. Mein Großvater übernahm im Frühjahr 1940 die Aufgaben eines Chefs des Allgemeinen Heeresamtes im Oberkommando des Heeres in dem klaren Bewusstsein, jetzt an einer Stelle zu stehen, die ihm die Möglichkeit bot, für eine Befreiung Deutschlands von der Diktatur Hitlers die Machtmittel der Wehrmacht einzusetzen.

Bei aller Exaktheit der militärischen Vorbereitung des Umsturzes waren sich die Männer des Widerstandes darüber im Klaren, dass es keine Garantie für das Gelingen gab. Sie wussten jedoch, dass auch eine noch so kleine Erfolgschance zum Handeln verpflichtet. Die entscheidende Triebkraft war ihr Gewissen. Sie kamen aus allen Schichten des Volkes: Unter ihnen waren Soldaten und Zivilisten, Protestanten und Katholiken, Liberale und Sozialisten. Ihnen gemeinsam war das Wissen um die Verbrechen, die von Hitler und den ihm Ergebenen im Namen des ganzen deutschen Volkes in Deutschland und Europa begangen wurden. Sie empfanden die Pflicht zur Auflehnung, weil sie wussten, dass sie durch Tatenlosigkeit und Gleichgültigkeit mitschuldig werden würden. Die nationalsozialistische Diktatur war ohne Ausschaltung Hitlers nicht zu beseitigen. Wenn die Männer des 20. Juli den Tyrannenmord als letzten Schritt zur Wiederherstellung der Menschenwürde auf sich nahmen, so reifte dieser Entschluss erst nach langem Ringen jedes einzelnen mit sich selbst. Sehr prägnant drücken diesen Vorgang die beiden Buchtitel von Annedore Leber aus: „Das Gewissen steht auf“ und „Das Gewissen entscheidet“. Konnte dieser Gewissenskonflikt nur in der damaligen Ausnahmesituation entstehen? Zwar ist unterdessen die Entrechtung des einzelnen Menschen im freien Teil unseres Vaterlandes durch eine freiheitliche Staatsform beseitigt, aber noch immer haben nicht alle unsere Mitbürger begriffen, welche Verpflichtung für ihre persönliche Haltung daraus erwachsen ist. Auch heute bedarf das Gewissen jedes einzelnen einer ständigen kritischen Prüfung – wenn auch häufig in sehr viel alltäglicheren Entscheidungen. Gerade angesichts des immer wieder aufflackernden Rechtsradikalismus gilt es, vorbeugend das zu verhindern, was erst zum 20. Juli geführt hat. Dass das Gewissen erneut aber auch vor letzte Entscheidungen gestellt werden kann, weiß jeder, der mit der Mauer leben muss.

Auch ein weiteres Motiv des Widerstandes behält seine Gültigkeit: Die zum Umsturz entschlossenen Männer des Widerstandes lösten mit ihrer Tat in echtem Patriotismus die Verpflichtung gegenüber ihrem Volk und dem Staat ein. Es war ihre Absicht, weitere sinnlose Opfer zu ersparen und dem Menschenrecht wieder Geltung zu verschaffen. Sie wollten die Schande, die über den deutschen Namen gekommen war, aus eigener Kraft beseitigen. Der Staat sollte von seinen verbrecherischen Machthabern befreit und das Staatswesen von Grund auf erneuert werden. Es ist dies ein Ausdruck für die Staatstreue des Bürgers. An mangelnder Staatstreue ihrer Bürger ist die Weimarer Republik gescheitert und auch heute ist wohl ein Staatsgebilde ohne sie auf die Dauer nicht lebensfähig. In unserer freiheitlichen Ordnung besteht die Gefahr, dass der Staat nur als notwendiges Übel hingenommen wird. Aus diesem Grunde sollte ein jeder von uns bereit sein, an seinem Platz und im Rahmen seiner Möglichkeiten Mitverantwortung zu übernehmen. Es gilt, diesen Willen zur Mitverantwortung von Jugend auf in sich zu entwickeln und wachzuhalten. Dazu bieten sich ja schon in der Schule zum Beispiel in der Schülermitverwaltung, im fakultativen Unterricht der Arbeitsgemeinschaften und in einer zeitgemäßen Ausgestaltung des Gemeinschaftskundeunterrichts durchaus Möglichkeiten. Wenn der Artikel 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland das Recht eines jeden auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit garantiert, so sollte dieses Recht genutzt werden, kritisch denkend an dem Gemeinwesen teilzunehmen. Ein Demagoge hitlerscher Prägung dürfte es gegenüber denkenden Menschen sehr viel schwerer haben als gegenüber einer urteilslosen Masse.

Ein anderer Beweggrund zum Widerstand wird aus den Worten des Grafen York von Wartenburg vor dem Volksgerichtshof deutlich: Befragt, was ihn in Konflikt mit dem Nationalsozialismus gebracht habe, antwortete er: „Das Wesentliche ist der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtungen vor Gott.“ So entzündete sich der Widerstand auch an der wachsenden antichristlichen Propaganda und der systematischen Diskriminierung christlichen Glaubens. Einen religiös-christlichen Zug im Gesamtcharakter erhielt die Verschwörung jedoch eigentlich erst während des Krieges. Immer mehr Deutsche, die den Willen zur Information hatten, konnten erkennen, dass die Ausrottung der jüdischen Volksteile zur Staatsidee an sich wurde. Gegen eine andere Erscheinungsform der Missachtung des menschlichen Individuums – das Euthanasieprogramm – bezog der Bischof von Münster, Graf Galen, Stellung: „Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, unproduktive Mitmenschen zu töten, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben.“ In vielen der Abschiedsbriefe hingerichteter Verschwörer findet man Bekenntnisse zum christlichen Glauben. In gemeinsamen Beratungen zwischen Katholiken und Protestanten wurden die christlich motivierten Programmpunkte des Widerstandes erarbeitet. Der Kreisauer Kreis wollte das politische Dasein aus christlichem Geist heraus erneuern. Ein Plan zur staatlichen Neuordnung Goerdelers trug die Überschrift: „Demokratie der zehn Gebote“. Heute scheinen viele Menschen bei uns gleichgültig gegenüber Gott geworden zu sein. Anlässlich der Tausendjahrfeiern der Christianisierung Polens erleben wir immer wieder die Gläubigkeit der polnischen Katholiken, die sich der Machtansprüche eines anderen totalitären Staates erwehren. Legt dies nun den Schluss nahe, dass es äußerster Not und Unterdrückung des einzelnen Menschen bedarf, damit er sich auf seinen christlichen Glauben besinnt?

Die Männer, die hier an dieser Stelle gestorben sind, wollten den nachfolgenden Generationen den Weg zu einem menschenwürdigen Leben in Frieden und Freiheit ebnen. Wenn ihrem Vorhaben auch der äußere Erfolg versagt blieb, so haben sie unser Volk doch von der Kollektivschuld freigestellt. Sie haben uns, der jungen Generation, die Rückkehr in die Gemeinschaft der freien Völker ermöglicht und durch ihr Beispiel gezeigt, dass der Mensch in Grenzsituationen sittlicher Entscheidungen nur seinem Gewissen zu folgen hat. Wenn diese Erkenntnis Allgemeingut unserer Generation wird, ist das Opfer der Toten des Widerstandes nicht umsonst gewesen.






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