"Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde."

Winfried Böttler

„Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“

Predigt von Pfarrer Winfried Böttler am 20. Juli 1992 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

liebe Gemeinde!

Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass ich vor dieser Predigt Furcht hatte und noch habe. Ich kann wohl kaum ermessen, welche Erinnerungen heute an diesem Ort bei Ihnen wieder lebendig werden. Und: kann man an diesem Ort, hier im Hinrichtungsschuppen von Plötzensee, wo das Böse, das Widergöttliche scheinbar uneingeschränkt herrschen konnte, überhaupt Gottes Wort verkündigen? Wäre hier nicht ein nüchternes politisches Wort angemessener als eine Predigt?

Nun, an nüchternen politischen Worten wurde gestern Abend schon manches gesagt, und ich habe die Hoffnung, dass das heute an anderer Stelle auch noch einmal getan wird. Also will ich meine geistliche Aufgabe wagen. Sie alle machen mir Mut dazu, weil Sie zum Gottesdienst hier an diese grausige Stätte gekommen sind. Und die Widerstandskämpfer selber machen mir Mut dazu, weil viele von ihnen bezeugen, dass Glaube und biblische Botschaft sie in beidem getragen haben: bei ihrem politischen Handeln und auch nach dem Scheitern auf dem Weg zur Hinrichtung. Und beides soll auch uns heute bewegen: die politischen Pläne und Taten und das Leiden, das diese Menschen damit auf sich genommen haben.

Wegweisung soll uns dabei ein Wort der Bibel sein. Die Losung der Herrnhuter Brüdergemeine für den heutigen Tag scheint mir dazu hilfreich und geeignet. Es ist der 5. Vers aus dem 23. Psalm: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.“

Vielleicht kennen Sie den Bilderzyklus in unserer Kirche: Alfred Hrdlickas Plötzenseer Totentanz. Es sind überwiegend düstere Bilder darüber, wie der Mensch des Menschen Wolf ist. Beginnend mit Kains Brudermord führen die Bilder über den Tod auf Golgatha bis zu den Hinrichtungen in Plötzensee und gewaltsamen Toden in unseren Tagen: Tod im Showbusiness oder Tod einer Minderheit. Drastisch erzählen die Bilder die schreckliche Seite des Todes: Nicht alt und lebenssatt wird da gestorben, sondern gewaltsam in der Blüte des Lebens. Menschen spielen dem Tod die Musik zu seinem Tanz.

Eines der Bilder aber, sie haben es zusammen mit dem Liederzettel erhalten, ist ganz anders: entspannt und voller Zuversicht. Es ist heiter im ureigensten Sinn des Wortes, also hell. Es zeigt die einzigen hellen Gesichter im ganzen Zyklus: Männer, die zusammensitzen und Brot miteinander teilen. Dieses Bild „Emmausmahl“ ist eine Auslegung unseres Psalmverses: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“ Hier wird spürbar, wofür Außenstehende manchmal gar kein Verständnis haben, dass Gott selbst an einem Ort gegenwärtig ist, wo scheinbar das Böse uneingeschränkt herrscht. Wie das Böse herrscht, das wird nicht verschwiegen: Einer wird abgeführt zur Hinrichtung. Aber selbst von seinem strahlenden Haupt geht eine Zuversicht aus, die diesen schlimmen Weg begleitet. „Als wir vom letzten Abendmahl hinweggingen, da fühlte ich eine fast unheimliche Erhabenheit, ich möchte es eigentlich Christusnähe nennen. Rückblickend erscheint sie mir als ein Ruf.“ So schreibt Peter Yorck von Wartenburg im Abschiedsbrief an seine Mutter. Ein Satz des Glaubens, der sich einer theoretischen Erörterung entzieht. Eine solche Glaubenserfahrung kann man nur geschenkt bekommen, und zu solchem Geschenk gehört wohl auch die Bereitschaft, Leiden auf sich zu nehmen, so wie von Wartenburg und die andern Widerstandskämpfer es getan haben.

„Vielleicht kommt doch einmal die Zeit, wo man eine andere Würdigung für unsere Haltung findet, wo man nicht als Lump, sondern als Mahnender und Patriot gewertet wird.“ Dieser Satz, ebenfalls von von Wartenburg aus dem Abschiedsbrief an seine Mutter, aus dem ersten Raum der neu gestalteten Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße hat mich tief getroffen bei meinem ersten Besuch dort und lässt mich seither nicht mehr los. Er enthält eine ganz intensive Botschaft.

Einerseits natürlich das ganze Leid nach dem Scheitern und der Verhaftung, die Anfechtung in einsamen Stunden und unter den Verhören: als Lump gescholten, auf erniedrigende Weise be- und misshandelt. Einen Schimmer dieses Elends vermittelt auf den Bild- und Tondokumenten das entsetzliche Geschrei im Gerichtssaal, mit schäbigsten persönlichen Verunglimpfungen.

Aber er hat auch eine ganz zuversichtliche Botschaft: die ganze Eindeutigkeit und Gewissheit, dass das, was getan wurde, notwendig und richtig war und dass der jetzige Weg zwar nicht erhofft war, aber als Konsequenz miteinkalkuliert werden musste.

Als Patriot wollte er und die meisten andern begriffen werden. Als ein Mensch also, der aus Verantwortung und Zuneigung zu seinem Vaterland, oder weniger patriarchalisch ausgedrückt, zu seiner Heimat gehandelt hat. Vielleicht ist Patriotismus keine genuin christliche Tugend. Der christliche Glaube will uns lehren, in ökumenischen, also in weltweiten Strukturen zu denken und zu fühlen. Aber global denken und Patriot sein, das muss kein Widerspruch sein. Ich denke, dass der, in dessen Namen wir hier Gottesdienst feiern, auch ein Patriot war. Er hat gelitten um des Heiles seines jüdischen Volkes willen, zu dem er gehörte. Er tat dies allerdings so, dass es auch anderen Völkern, sogar uns Deutschen, zum Heil gereichen kann. Das scheint mir doch wahrer Patriotismus zu sein: eine Tat zum Wohlergehen einer begrenzten Menschengruppe, die auch andern Nutzen bringen kann.

Habe ich damit auch die Pläne der Verschwörer und anderer Widerstandskämpfer richtig beschrieben? Sie hatten bei ihrer Unternehmung zuerst Deutschland im Sinn. Aber wäre ein Erfolg nicht auch gut und hilfreich für viele andere Völker gewesen?

„Vielleicht kommt doch einmal die Zeit ...“. Mehr als dieses „vielleicht doch“ war damals wohl nicht möglich. Aber was hat es für ein Gewicht! Ist es nicht wie die meist leisen, aber immer klaren und aufrechten Worte der Angeklagten im Gerichtssaal angesichts jenes tobenden und schreienden Mannes in der Richterrobe?

Ist er denn auch ein prophetisches Wort, dieser Satz? Ist sie gekommen, diese Zeit? Ist sie noch da, oder ist sie bereits wieder im Verschwinden? Wurden sie als die Patrioten, die sie waren, akzeptiert? Immerhin, auf vielen Gedenktafeln für die Opfer des Krieges, die ja mancherorts auch die Kirchen zieren, haben sie entweder lange gefehlt oder sind sie heute noch nicht verzeichnet, diese Männer und Frauen, die im Kampf gegen die Verderber der Heimat umgebracht wurden.

Der 20. Juli aber scheint doch inzwischen eine feste Einrichtung stellvertretend für den gesamten Widerstand. Haben die Zeichen, die sie als Mahnende und Patrioten setzen wollten, ein wenig ausgestrahlt über die Feiern und Gedenkreden dieses Tages hinaus, hinein in die Herzen der Menschen in unserm Land?

Wir werden wohl über die Frage nicht hinauskommen. Vielleicht können wir sogar nur das Fragezeichen unterstreichen. Aber das wenigstens sollten wir uns doch zumuten. Immerhin manifestiert sich neu erstarkender Rechtsradikalismus in unserm Land nicht nur in Wahlergebnissen. Ich habe noch im Ohr, wie selbst seriöse Medien anlässlich der Beisetzung von Marlene Dietrich hier in Berlin glaubten, sich zumindest mit der Frage auseinandersetzen zu müssen, ob sie nun eine Landesverräterin war oder nicht.

Und was soll man davon halten, dass in Eberswalde, also praktisch vor den Toren Berlins, ein schwarzer Einwohner nicht nur von Jugendlichen zu Tode geprügelt wurde, sondern dass die Täter offensichtlich Verständnis und Rückhalt bei großen Teilen der Bevölkerung finden, wie ich vergangene Woche anlässlich der Gerichtsverhandlung in zwei Zeitungen gelesen habe?

Natürlich kann man mit diesen Beispielen die Frage nicht einfach verneinen, ob die Zeit gekommen ist, für die die Widerstandskämpfer gearbeitet und gelitten haben. Aber ich denke, diese Beispiele umreißen für uns ein Aufgabenfeld, das in der logischen Konsequenz des Widerstandes gegen die Nationalsozialisten liegt. Und das nicht nur aus politischen Gründen, sondern um des Glaubens willen. Der, der den Tisch deckt im Angesicht der Feinde, der bietet damit doch keine Ablenkung und billige Tröstung, sondern der bietet Stärkung und Kräftigung für die Auseinandersetzung, in die er uns gestellt hat. Der mutet uns zu, diese Auseinandersetzung zu bestehen. Und er verschweigt uns nicht, dass es Feinde gibt, denen es zu widerstehen gilt.

Gebe Gott, dass wir das miteinander lernen. Es ist gut, wenn wir dies ökumenisch tun, über die Grenzen der Konfessionen hinweg, so wie heute hier. Auch wenn wir noch an getrennten Tischen des Herrn uns die Stärkung holen, ist sie geeignet, uns die Kraft zu geben, die wir brauchen, um den Feinden des Lebens zu widerstehen.

Amen.