Eine politische und moralische Legitimation für das neue gemeinsame Deutschland

Manfred Stolpe

Eine politische und moralische Legitimation für das neue gemeinsame Deutschland

Gedenkrede des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg Dr. Manfred Stolpe am 20. Juli 1991 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wie steht das neu vereinte Deutschland zum 20. Juli 1944?

Was hat uns dieser Tag im Angesicht neuer Herausforderungen und unerwarteter Probleme zu sagen?

Wird der ostdeutsche Zuwachs das hier in Jahrzehnten gehütete Erbe ändern oder gar gefährden?

Um es gleich vorweg zu sagen, ich glaube, der 20. Juli 1944 ist uns seit dem Oktober 1989 und dem Oktober 1990 näher gekommen, muss wichtiger werden.

Denn der 20. Juli 1944 hat den Deutschen die Ehre gerettet und gibt die moralische Berechtigung, wieder in einem deutschen Staat zusammenzuleben.

Hitler hatte das eine Deutschland verspielt. Die Frauen und Männer des deutschen Widerstandes gegen Hitler haben uns ein Anrecht auf die Deutsche Einheit erhalten.

Der Aufstand der Gewissen gegen die menschenverachtende und massenmörderische Tyrannei, der aufrechte Gang, um das Unmögliche zu wagen, und der bewusste Opfertod für die Nachgeborenen sind eine politische und moralische Legitimation für das neue gemeinsame Deutschland!

Voller Erfurcht verneigen wir uns vor den Zehntausenden, die in den zwölf Jahren der finsteren Nacht über Deutschland ihren Widerstand mit dem Leben bezahlten, als Liberale, als Konservative, als Sozialisten, als Kommunisten; als Deutsche aus allen deutschen Ländern und allen Schichten des Volkes. Ihr weithin unbekanntes, verborgenes Schicksal leuchtet auf in unserem Gedenken an die Tapferen des letzten großen Versuches, Deutschland zu retten. Sie setzten das unübersehbare Zeichen eines anderen Deutschlands, das gegen Barbarei und Völkermord stand. Sie taten es entgegen der öffentlichen Meinung und im Wissen um die geringen Erfolgschancen. Sie taten es im Bewusstsein der sittlichen Notwendigkeit ihrer Tat für die Zukunft Deutschlands.

Menschenwürde, Rechtssicherheit und Freiheit wurden in Hitlers Deutschland mit Füßen getreten und für halb Europa in ihr Gegenteil verkehrt. Schweigen, Abducken, Wegsehen wurden zur passiven Komplizenschaft mit den Henkern. Millionen Deutsche sahen sich, um des Überlebens willen, dazu gezwungen. Die Opfer, deren wir heute gedenken, haben um der Bewahrung der Menschlichkeit willen und wegen einer Zukunftschance für Deutschland widerstanden. Diese Gesinnung hat Henning von Tresckow so treffend mit der Erinnerung an die biblische Geschichte von Sodom beschrieben. Sodom musste verbrennen, weil in ihm die zehn Gerechten nicht gefunden wurden.

Jetzt haben wir die Chance, in einem Deutschland zu leben und dürfen fragen, was uns der 20. Juli 1944 heute sagen kann.

Nur drei Gedanken möchte ich hervorheben:

1. Die Kraft der Gemeinsamkeit.

Im Widerstand haben sich deutsche Menschen über politischen Streit und landsmannschaftliche Aversionen hinweg einer übergeordneten Aufgabe gestellt. Sie haben vorrangige Wertigkeiten erkannt. Sie haben das Gift der Rechthaberei gemieden und die Kraft der Gemeinsamkeit für eine große Aufgabe gewonnen. Vorhandene Gegensätze oder politische Differenzen erfuhren sie nicht lähmend, sondern produktiv. Im Parteienstreit entdeckten sie angesichts der gemeinsamen Mitte der Menschlichkeit die Kraftquelle verschieden gelagerter Energien. Die Überzeugung von unverrückbaren Grundgemeinsamkeiten und unübersehbaren gemeinsamen Aufgaben setzte neue Kräfte frei.

2. Das Gebot der Menschenwürde.

Bewegend aus den Berichten über den Opfergang der Frauen und Männer des 20. Juli ist ihre tiefe Überzeugung von der sittlichen Verpflichtung zur Menschenwürde, die ihr Handeln bestimmte. Die Erfahrung von der massenhaften Verletzung der Menschenrechte, von der Ausrottungspolitik und Rechtlosigkeit, von der erbarmungslosen Verfolgung anderer Rassen und Meinungen schuf ihre Bereitschaft zum Widerstand. Das Nazi-Regime brachte mit seinen brutalen Eingriffen in das Leben und die Freiheit von Menschen eine absolute Eskalation der Unmenschlichkeit. Und doch war es keine Einmaligkeit. Es ist eine fortgesetzte Gefahr auch für die Deutschen. Helmuth James von Moltke schrieb die bleibende Mahnung: „Ich habe mein ganzes Leben lang ... gegen den Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt.“

Wenig tröstet die Beobachtung, dass auch andere Völker gefährdet sind.

3. Den Anfängen wehren.

Der 20. Juli war auch ein Versuch, sich aus den Folgen des eigenen politischen Versagens zu befreien. Denn ein Dutzend Jahre zuvor war Hitler unterschätzt, als das geringere Übel, ja als willkommene Rettung vor einer kommunistischen Gefahr begrüßt worden. Die Zerstrittenheit der Demokraten hatte Hitler groß gemacht. Er nutzte ihre Differenzen und verstand es, das Volk zu verwirren. Soziale Ungerechtigkeiten konnten missbraucht, Spannungen geschürt werden. Ängste um Arbeit und Wohnung begünstigten Fremdenhass. Die Hetze gegen Juden und Ausländer fand einen guten Nährboden und konnte sich schon im Vorfeld der Hitlerherrschaft ausbreiten. Beseitigung der sozialen Ursachen, geduldige Erziehung, aber auch entschlossene Polizeimaßnahmen waren die Ausnahme. Das Zusehen und Abwarten der Verantwortlichen aber auch der Breite der Bevölkerung begünstigten eine folgenschwere Fehlentwicklung.

Heute sehen wir im Osten Deutschlands scheinbar harmlose Anzeichen neonazistischer Verhaltensweisen. Wohl sind es verschwindende Minderheiten. Aber es ist ein unübersehbares Warnsignal. Es könnte sich erheblich verstärken, wenn es nicht ernst genommen und nicht alles getan wird, was vor sechs Jahrzehnten in Deutschland unterblieb. Der Faschismus wurde von wenigen begonnen und durch das Schweigen vieler begünstigt. Heute kann auch unzureichende Sensibilität für notwendige Rücksichtnahme z.B. auf antifaschistische Gedenkstätten unliebsame Entwicklungen begünstigen.

Erinnerung rät zur Vorbeugung.

Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen aus Brandenburger Sicht anbringen:

Unmittelbar nach dem 20. Juli 1944 und in den ersten Jahren danach wurde auch von kommunistischer Seite die Widerstandsleistung gewürdigt. Schon seit 1947 aber kam eine neue Linie auf, die den Kampf gegen Hitler nur noch als Teil des Klassenkampfes deutete. Die Vertreter des Militärs, des Adels, der Wirtschaft, der Beamten, der bürgerlichen Intelligenz, der Kirchen wurden nicht mehr nach ihren Taten, sondern nach ihrer klassenmäßigen Herkunft bewertet. Danach konnten sie keine wirklichen Widerstandskämpfer sein. „Denn sie waren Fleisch vom Fleische des deutschen Imperialismus“. Sie wurden als Interessenvertreter der Junker und des Finanzkapitals verunglimpft, die letztlich keinen antifaschistischen Kampf geführt hätten. Gerade die aus Brandenburg oder Sachsen stammenden hervorragenden Persönlichkeiten des 20. Juli wurden über Jahrzehnte totgeschwiegen. Das an ihren Familien begangene Unrecht, u.a. die Enteignungsmaßnahmen der Nazis, wurde fortgesetzt und bis heute nicht wieder gutgemacht.

Die Wahrheit ließ sich auch im Osten auf Dauer nicht unterdrücken. Seit den 80er Jahren waren es vor allem Historiker in der DDR, die Schritt für Schritt die Tatsachen herausarbeiteten und an die Öffentlichkeit brachten.

Das macht es heute leichter, der Bevölkerung und vor allem der Jugend die wirkliche Bedeutung des 20. Juli zu vermitteln.

In Potsdam, der Stadt, aus der zahlreiche Beteiligte des 20. Juli kommen, haben der Preuße von Tresckow und der Sachse Olbricht den militärischen Aufstandsplan Walküre erarbeitet. Im ehemaligen Victoria-Gymnasium, der heutigen Helmholtz-Oberschule, wird in Kürze, zur Wiedereinrichtung des Gymnasiums, der ehemaligen Schüler gedacht, die im Widerstand gegen Hitler ihr Leben ließen.

Preußen war ein frühes Opfer der Hitler-Bewegung. Schon am 20. Juli 1932 wurde seine demokratische Regierung beseitigt und damit eine wichtige Stütze der Weimarer Republik gestürzt. Als Preußen zerstört war, konnte Hitler kommen.

Preußens Traditionen wurden dann auf das Schlimmste missbraucht. Viele Frauen und Männer des Widerstandes wussten sich der Toleranz, der Wahrhaftigkeit, der Rechtsstaatlichkeit als preußischen Tugenden verpflichtet. Diese Bindung war ihnen Motivation des Handelns. Ihr Erbe setzt den einzig möglichen Maßstab, Erinnerung an Preußen wach zu halten.

Unsere jüngste Geschichte drängt Vergleiche auf. Diktatur haben wir auch in der DDR erfahren. Unter dem Mehltau einer sanfteren aber nicht minder festen Gewalt, unter der Disziplinierung der europäischen Friedenspflicht und mit dem Beruhigungsventil einer Ausreise-Ausweisungs-Möglichkeit tat sich der Widerstand in der DDR schwer.

Vergleiche können in die Irre führen. Eine Gleichsetzung des Nazisystems mit der SED-Herrschaft wäre eine grobe Geschichtsfälschung, die Ursachen, Zusammenhänge, Sachzwänge und Handhabung außer Acht lassen würde. Ähnlichkeiten dürfen uns heute nicht zu blindem Antikommunismus verführen. Der hat sich schon in der Weimarer Republik als gefährlicher Irrtum herausgestellt und würde uns heute den Weg nach vorn und auch nach Osteuropa verstellen.

Die Aufarbeitung der letzten 40 Jahre liegt noch vor uns. Pauschalurteile, Hysterie, Sensationsmache werden die Wahrheit und den inneren Frieden nicht fördern. Ohne eine differenzierte Würdigung von Sachverhalten, Absichten, Zusammenhängen und Folgen wird Gerechtigkeit nicht zu finden sein. In Erinnerung wird dabei bleiben müssen, dass Zehntausende Träger des SED-Systems sich seit Mitte der 80er Jahre innerlich abwandten und dem Umbruch nicht widerstanden, ja nicht wenige ihn förderten.

Aber im Kern sind Diktaturen gleich. Statt Freiheit und demokratischer Mitwirkung gibt es Behinderung und Bevormundung. Statt unabhängiger Rechtssicherheit wird das Recht instrumentalisiert und gebeugt. Die staatliche Obhut und der vorgewaltete Schutz lassen die Menschen verkümmern; behindern, entmündigen und beschädigen sie.

Der Wind der Freiheit ist rauer, die Herausforderungen an den Einzelnen in der Demokratie sind größer und eine Marktwirtschaft birgt auch Gefahren. Doch die Menschen können nicht auf Dauer in einer Fressgefangenschaft gehalten werden. Die Würde der Persönlichkeit drängt auf Entfaltung.

Tapfere stehen auf, wollen das Unmögliche und Unvernünftige, lassen sich nicht beruhigen und haben trotz aller Niederlage und Opfer die Geschichte für sich. Das galt 1944 und das galt 1989. Im Alltag unseres persönlichen Handelns dürfen wir nie vergessen, dass die Wahrhaftigen in ihrer Selbstlosigkeit Geschichte machen. Sie haben Politik nicht als Kunst des Möglichen verstanden, sondern handelten, als ob die Utopie Wirklichkeit wäre. Wir brauchen solche Menschen auch in Zukunft!

Heute stehen wir mitten in der Aufgabe, Deutsche Einheit zu realisieren.

Missverständnisse und Ängste, Anspruchsdenken und Rücksichtslosigkeit fördern Emotionen. Ungelöste Eigentumsfragen lassen noch erhebliche Probleme erwarten.

Das Zusammenwachsen der Deutschen wird weder mit Goldkäfigen noch mit Paragraphennetzen einzufangen sein. Es muss erarbeitet werden. Wechselseitig muss über Informationen und Gespräche Verständnis wachsen. Nicht übereinander, sondern miteinander muss geredet werden. Jede Möglichkeit der Zusammenarbeit ist zu nutzen. Sie fördert am schnellsten die Einsicht, dass wir uns ergänzen und brauchen.

Das Erbe des 20. Juli 1944 ist eine wichtige Möglichkeit der Zusammenarbeit, denn wir können uns besinnen, dass große Aufgaben Gemeinsamkeit und Opferbereitschaft fordern.

Wir können uns besinnen, dass Deutschland in europäischen und globalen Zusammenhängen lebt und gefordert ist und dass niemand aus seiner Verantwortung entlassen ist.

Dietrich Bonhoeffer brachte es am 21. Juli 1944 auf den Punkt:

„Nicht das Beliebige, sondern das Rechte Tun und Wagen. Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen. Nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit. Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens ...“







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