"Ich dachte an die vielen Morde."

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Herta Däubler-Gmelin

„Ich dachte an die vielen Morde.“

Ansprache der Bundesministerin der Justiz Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin am 20. Juli 2001 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Sehr geehrter Herr Minister Scharping,

sehr geehrter Herr Bürgermeister Wowereit,

sehr geehrter Herr Spiegel,

sehr geehrte Angehörige und Freunde der Widerstandskämpfer

„Ich dachte an die vielen Morde“ – so antwortet Ulrich Graf Schwerin von Schwanenfeld, Mitglied des Kreisauer Kreises, vor dem Volksgerichtshof, als er nach den Motiven für den Umsturzversuch am 20. Juli gefragt wird.Graf Schwerin von Schwanenfeld kann nur noch hinzufügen: „Die Morde im In- und Ausland“, bevor Freisler, der berüchtigte Vorsitzende jenes Mordinstruments Volksgerichtshof, ihn brutal unterbricht und niederschreit.

„Ich dachte an die vielen Morde“.

Wir gedenken heute der Männer und Frauen des 20. Juli, weil sie den Mut hatten, sich aufzulehnen gegen den „Triumph des Bösen“ – so die Worte von Helmuth James Graf von Moltke.

Ihre Empörung gegen das unfassliche Unrecht führte die unterschiedlichen Gruppen des Widerstands zusammen, Empörung über die heute unvorstellbare Verletzung jeder Menschlichkeit, jeden Rechts.

Der 20. Juli 1944 war ein Aufstand des Muts und des Anstandes gegen dieses Unrecht, ein Aufstand zur Wiederherstellung des Rechts und der Gerechtigkeit.

Er war ein Aufstand der Menschlichkeit gegen die Unmenschlichkeit.

Statt Menschenliebe praktizierte die Nazidiktatur Rassenhass, statt Frieden Krieg.

Wo vorher Menschen ganz unterschiedlicher Nationalitäten in Europa zusammenlebten, vernichteten die Nazis nun „Todfeinde“ und „Untermenschen“.

Dabei nutzten sie Gesetze als bloße Fassade, hinter der sie sich und ihr Unrecht austobten.

Terror und Gewalt ummäntelten sie perfide mit dem Schein der Gesetzlichkeit.

Ausgrenzung, Entwürdigung, Erniedrigung und Vernichtung der Juden,

Vernichtungskrieg gegen die Länder Osteuropas.

Ausrottung von Behinderten und Menschen, die nicht in ihr unmenschliches ideologisches Rassenschema passten und die sie zuvor für „lebensunwert“ erklärt hatten,

Verfolgung und Ermordung von Andersdenkenden,

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.

Dagegen kämpften die Männer und Frauen des 20. Juli und alle, die sich gegen das Nazi-Unrecht empörten.

Daran erinnern wir heute in Dankbarkeit und im Bewusstsein unserer Verpflichtung heute.

Die Männer und Frauen des 20. Juli waren geleitet von der Idee, Recht und Gerechtigkeit wiederherzustellen.

Das einte sie.

Carlo Mierendorff – ein Sozialdemokrat im Kreisauer Kreis – hat das in seinem Aktionsprogramm der Sozialistischen Aktion gefordert. Er setzte die Worte: Die „Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit“ an die erste Stelle.

Ludwig Beck und Carl Friedrich Goerdeler hatten für den gelungenen Umsturz eine Regierungserklärung vorbereitet. Auch sie beginnt mit den Worten: „Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenden Majestät des Rechts.“

Und Helmuth James Graf von Moltke, er war bekanntlich Völkerrechtler, sah für die Zukunft ein gemeinsames internationales Völkergericht vor, das die „Rechtsschänder“, die das Menschenrecht auf unerträgliche Weise verletzen, bestrafen sollte: „Dieses gemeinsame Gericht aller am Kriege gleich auf welcher Seite beteiligten Völker der Welt könnte allein die nötige sittliche und rechtliche Autorität haben, um das Maß sittlicher und rechtlicher Aburteilung auszusprechen, welches die Rechtsschändungen verdienen“, diese Vision hat er uns hinterlassen.

Heute, 60 Jahre später, werden wir Moltkes Vision in die Wirklichkeit umsetzen können. Der ständige Internationale Straf-Gerichtshof wird seine Arbeit bald aufnehmen können; er soll – auch das hatte Moltke gefordert – seinen Sitz in Den Haag haben.

Damit verbinden wir die Botschaft: Völkermörder und Verbrecher gegen die Menschlichkeit dürfen sich an keinem Ort der Welt mehr sicher fühlen!

Wir verdanken den Männern und Frauen des 20. Juli noch viel mehr.

Wir sind ihnen verpflichtet, weil heute alle wissen, auch wenn es längst nicht jeder wissen will, dass ihre Ideale von Toleranz, Nächstenliebe und Menschenwürde unverzichtbar sind für jede lebenswerte, zukunftsfähige Gemeinschaft.

Alle wissen das. Gerade deshalb ist es unsere Verpflichtung und unsere Aufgabe, jene, die das nicht wissen wollen, daran zu erinnern, sie zu ermahnen und zu überzeugen, und sie – wenn das alles nicht helfen sollte – mit den Mitteln des Rechtsstaats entschlossen in die Schranken zu verweisen.

Die Verpflichtung des 20. Juli ist heute Zivilcourage nicht Heldenmut. Hinsehen ist gefordert nicht Wegsehen. Die Anständigen und die Zuständigen müssen das gesellschaftliche Klima schützen und Institutionen fördern und stärken für Demokratie und Toleranz.

Wo auch immer sich rechtsextremistisches Denken zeigt, muss jeder Einzelne dem entschieden entgegentreten.

Zu dieser Zivilcourage gehört Verantwortung, wie Bonhoeffer gesagt hat: „Zivilcourage aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Menschen erwachsen. Die Deutschen fangen erst heute an zu entdecken, was freie Verantwortung heißt.“ Das heißt auch, nicht immer nur nach vorgegebenen Schablonen denken; dem eigenen Urteil zu trauen.

Es ist unsere Verpflichtung, das heute in einer Zeit, in der wir das können, auch zu verwirklichen.

Nicht nur der Mut und die Visionen, sondern gerade die Ideale der Männer und Frauen des 20. Juli haben die Brücke in unsere Zeit gebaut:

Helmuth James Graf von Moltke formulierte als Aufgabe für die Zukunft, „das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger“ wiederherzustellen. Das haben die Väter und Mütter unserer Verfassung im obersten Gebot unseres Grundgesetzes, Artikel 1, mit den Worten verankert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – verpflichtend für jeden einzelnen Bürger und – selbstverständlich gerade auch für den Staat.

Auch viele andere zentrale Grundsätze unserer Verfassung nehmen auf, was jene mutigen Männer und Frauen in ihrem Kampf gegen das Nazi-Unrecht, gegen das die Frauen und Männer gedacht und geschrieben haben.

Umso beschämender war, dass unser Rechtsstaat Bundesrepublik erst spät – viel zu spät – an viele Männer und Frauen aus dem Widerstand mit jener Achtung und jenem Respekt gedacht hat, die sie doch verdienen.

Auch ihre ausdrückliche, sprich, rechtliche Rehabilitierung nach Widerstand und Ermordung hat lange, viel zu lange, auf sich warten lassen.

Wir erinnern mit Scham an jenes erst Jahre später aufgehobene Urteil des BGH, das den Volksgerichtshof, jenes Nazi-Mordinstrument, sogar als „Gericht“ und seine willfähigen Mitglieder als „Richter“ anerkennen wollte.

Es hat bekanntlich bis zum Jahr 1998 gedauert, bis alle Unrechts-Urteile der nationalsozialistischen Strafgerichte endlich aufgehoben waren.

Dietrich Bonhoeffers Familie hatte Recht, als sie in einem Leserbrief 1996 schrieb: „Dietrich Bonhoeffer hat keine Rehabilitierung nötig. Es gibt nichts Ehrenvolleres, als dass er und seine Mitstreiter (...) ihr Leben im Widerstand eingesetzt und geopfert haben. Dietrich Bonhoeffer ist es, der (...) nun 50 Jahre lang Deutschland in der Welt rehabilitiert.“

Lassen Sie mich hinzufügen: Auch wenn es ein großer politischer Erfolg ist, dass durch Zusammenwirken von Bundesregierung, Bundestag und Wirtschaft in diesem Jahr endlich mit der Auszahlung der längst überfälligen Entschädigung für die ehemaligen Zwangsarbeiter begonnen wird, so kann uns das nicht nur mit Freude erfüllen – auch dieser Versuch der Wiedergutmachung von Unrecht und schrecklichem Leid kommt so unendlich spät.

„Ich dachte an die vielen Morde“ – so hat es Graf Schwerin von Schwanenfeld auf den Punkt gebracht. Das Mitgefühl mit den Ermordeten und die Erkenntnis des Unrechts der Mörder hat den Männern und Frauen des 20. Juli die Kraft zum Widerstand gegeben. Sie hatten damit ein Ideal einer menschenwürdigen Gesellschaft, das auch noch Leitbild für unser politisches Handeln in der Zukunft ist.

Wir ehren die Männer und Frauen des Widerstandes, weil sie – so Dietrich Bonhoeffer – im Optimismus eine Lebenskraft sahen, „die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt.“ Tatsächlich: Das Erbe des Widerstandes wirft sein Licht auch in die Zukunft.







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