Predigt Plötzensee

Dr. Karl Meyer OP, Hamburg


Predigt beim Ökumenischen Gottesdienst am 20. Juli 2019 in der Gedenkstätte Berlin-Plötzensee


Evangelium vom Samstag der 15. Woche im Jahreskreis (20.Juli.2019)


Von dort ging er weiter und kam in ihre Synagoge. Und siehe, da saß ein Mann, dessen Hand verdorrt war. Sie fragten ihn: „Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen. Sie suchten ihn nämlich anzuklagen. Er aber sprach zu ihnen: Wer von euch, der ein einziges Schaf hat, wird es nicht packen und herausziehen, wenn es ihm am Sabbat in eine Grube fällt? Wieviel mehr ist ein Mensch als ein Schaf? Deshalb ist es am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun. Dann sagte er zu dem Mann: Streck deine Hand aus. Er streckte sie aus, und die Hand wurde wiederhergestellt – gesund wie die andere. Die Pharisäer aber gingen hinaus und fassten den Beschluss, Jesus umzubringen.


Als Jesus das erfuhr, ging er von dort weg. Viele folgten ihm danach. Und er heilte sie alle. Er gebot ihnen, dass sie ihn nicht bekannt machen sollten, damit erfüllt werde, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist:


Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem ich Gefallen gefunden habe,


Ich werde meinen Geist auf ihn legen. Und er wird den Völkern das Recht verkünden.


Er wird nicht streiten und nicht schreien, und man wird seine Stimme nicht auf den Straßen hören.


Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht nicht auslöschen, bis er dem Recht zum Sieg verholfen hat. Und auf seinen Namen werden die Völker ihre Hoffnung setzen. (Mt 12, 9-20)


Verehrte, liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus!


Jeden Morgen um 6 Uhr höre ich: „Die Nachrichtenlage am Morgen!“:  Drei von Journalisten ausgewählte Ereignisse aus einer Unzahl von Geschehnissen, dazu ein kurzer Kommentar eines Korrespondenten des NDR, der Denkrichtungen vorschlägt, und ein paar andere Ereignisse, natürlich eines vom Sport und die Wetterlage werden gegeben. „Kommen Sie gut informiert in den Tag.“


Vorgeschlagen werden mir Ereignisse, die ich mir zu Eigen machen sollte. Und damit soll ich in den Tag kommen, an dem ich nicht nur zu funktionieren habe, sondern auch die eine oder andere Entscheidung treffen muss.


Mit all dem stehen wir auch am Morgen des 75. Gedenkens an den öffentlich unübersehbaren Aufstand  gegen Adolf Hitler, das Zentrum des Nazi-Regimes. Wir stehen hier am Hinrichtungsschuppen von Plötzensee, der unübersehbar das Misslingen des Aufstands vor Augen führt.


Auch zu den Ereignissen des 20. Juli 1944 hat es in diesen Tagen viele Informationen zu Vorinformationen gegeben, die alle zu rechtem Wissen führen wollen.  Als gutes Wissen gilt heute natürlich fast alternativlos kritisches Wissen, das das vorherige Wissen als falsch oder mangelhaft entlarvt.


Aus vielem Wissen kann sich nicht nur neues Vorwissen, sondern auch das Gewissen bilden, so wie aus vielen Bergen ein Gebirge, aus manchen Wassern ein Gewässer entsteht.


Die Frage ist: Welches Gewissen trägt durch den Tag in die Zukunft?


Gewissen bildet sich aus dem Grundwissen, dass Gutes zu tun ist und aus Erfahrungen, wie Leben geht und gehen sollte.


Die einen wissen und sind dessen gewiss: Beschenkt werden, empfangen und dadurch reich sein ist die Grundlage, daraus bildet weitergeben, im Strom des Lebens stehen, und es entsteht ein gutes lebendiges Gefüge der Menschen.


Andere Menschen leben in einem anderen Gefüge, dem Gefühl des trotz allen  Reichtums ständigen Mangels und der Verlassenheit in allen Kontakten, und sie  setzen daher auf Konkurrenz und die  Nutzung aller Ressourcen, nicht zuletzt auch menschlichen Lebens. Was nicht nützlich  ist, wird entsorgt.  Die Nazis kannten schon das „lebensunwerte Leben“. Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Menschen gelten als Müll, beklagt Papst Franziskus. Selbst Gott, soweit er nützlich ist, wird eingebaut – und sonst entsorgt.   


Zwischen diesen Ansätzen tobt der Kampf mit all seinen Spielarten.- Manchmal in versteckter, manchmal in allerhärtester Form.


Jesus von Nazaret ragt unter den Menschen heraus. Tiemo Peters nennt ihn „den unwahrscheinlichsten aller Menschen“: Er lebt in einem Gefüge des Lebens, das aus der Unendlichkeit zuströmt und das alle Nutz-Systeme sprengt. Er steht für die Quelle, aus der er schöpft, die er seinen und unseren Vater nennt, und wird Quelle für die Menschen, die Leben brauchen. ER sieht ihre Bedürftigkeit nach Leben  und ihre Möglichkeiten, in Leben hineinzuwachsen. Sein Wesen ist es, zu den Menschen unterwegs zu sein. In seinem Gefüge können alle leben und wiederhergestellt werden.   Und niemand ist auszuschließen.


Der Kampf geht durch die ganze Geschichte.


In welche Art des Kampfes jemand gestellt ist, ist geheimnisvoll vorgegeben. Niemand sucht sich seine Zeitstelle und seinen Ort in der Welt aus.


Menschen entwickeln sich zudem aus unterschiedlichsten Vorgaben. Ihr Gewissen erwacht an den unterschiedlichsten Konstellationen.


Jesus nennt als eine Einsicht der Weisheit: „Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, jeder schlechte Baum schlechte.  An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“


Aber das ist nicht alles:  Auch das geknickte Rohr kann einen Fruchtstand tragen. Auch  der glimmende Docht kann Ursprung eines Großfeuers  sein.  Es braucht nur den, der die Ursprünge hegt und die Reste des Lebens schützt, damit das geschieht.


Jesus kann es und tut das: Der Geistleib des Menschen hat nicht nur Gene zur Vorgabe, sondern auch geistliche Wiedergeburt und Heilung sind Ursprünge.


Wir hier sind berührt durch den Kampf zwischen Licht und Dunkel  mitten im zwanzigsten Jahrhundert.


Adolf Hitler  ist ein Lucifer, von dem sich viele zu großem Leben entzündet fühlen und dem sie sich besinnungslos anvertrauen. Eine Minderheit  jedoch erwacht, durchblickt den Glanz, den er verbreitet,  und sieht in ihm immer mehr den großen Vollstrecker des Bösen, wie ihn Hans-Bernd von Haeften vor Freisler genannt hat.


Kampf zwischen Irrlicht und wahrem Licht, zwischen Versklavung und dem Weg in die Freiheit verläuft nicht nach innerweltlichem Maßstab als Sieg unterschiedlicher Ideale.


Jesus hat sehr wohl gesehen – und seine Jünger wollten es nicht gern wahrhaben – dass in diesem Kampf Leiden und Tod unvermeidlich sind, ja sogar wesentlich dazugehören.


Es ist deswegen nicht von ungefähr, dass Dietrich Bonhoeffer sein Gedicht: ‚Stationen auf dem Weg zur Freiheit‘ am 21.Juli 1944 geschrieben hat.


Die Stationen auf dem Weg zur Freiheit werden ausgearbeitet. Nicht nur Zucht und Tat gelten, sondern mehr noch Leiden und Tod brechen die Bahn und öffnen das Tor zur Großen Freiheit.


Wir heute nach 75 Jahren werden aufgerufen: Ecce homo. Schaut euch den unwahrscheinlichen Menschen an, der sein Wesen ganz erfüllt!


Schaut Menschen an, die ihm begegnen.



  • Es gibt Menschen, die dem Schein des Bösen ganz unterworfen sind und Meister der Schuldverschiebung werden.

  • Es gibt Frühreife, die einen untrüglichen Blick für Gut und Böse haben,

  • es gibt Menschen, die viel Zeit brauchen, damit das wahre Wissen um den Menschen und das Gewissen erwachen kann.


Den Überstieg von Tat zu Leiden als Stufe zu ihrer höheren  Freiheit annehmen zu sollen, ist dann die schwerste Herausforderung, eine große  Versuchung.


“Homo non tentatus non christianus.” Steht am Frontbalken eines Hauses in Celle. Ein Mensch der nicht versucht wurde, ist kein Christ.


In der Versuchung ist es dunkel.  Und doch bricht das Licht wahrer Menschlichkeit immer wieder durch.


Zu unsrer tiefen Information erzählt  Hans Lilje über Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg:


„Da werden mit einem Male unhörbar die beiden Riegel meiner Zellentür zurückgeschoben, und lautlos öffnet sich ein Spalt. In der Nische steht Frei­herr von Guttenberg, der mit leisen Zeichen zum Schweigen mahnt. Als alles still ist, führen wir im Flüsterton eine kurze Unterhaltung. ‚Finden Sie nicht, Herr Pfarrer, dass wir alle in dieser Lage die Ölbergszene aus dem Neuen Testament viel besser verstehen?‘ Er ist nicht der einzige in diesem Hause, der Pascals unvergleichliche Meditation über die Gethsemane-Geschichte kennt und liebt, und wir reden hier nun ein wenig davon, welchen Trost dieses Stück des Neuen Testaments gerade uns gewährt. Ich werde die Dostojewskijsche Szene nicht vergessen: das dunkle, zweifach dunkle Haus, draußen der Höllenlärm von Flak und Bomben, und drinnen diese geflüs­terte Unterhaltung über den Sohn Gottes, der in jener Nacht am Ölberg allen Nächten das Grauen genommen hat und hinfort bei denen ist, die in den Nächten kämpfen, ringen und beten. Ich kann den Mann nicht vergessen: (...)  Wäre er je bei diesem Akt schlichter mutiger Menschlichkeit ertappt worden, so wären die Folgen für ihn selbst unabsehbar gewesen. Aber er lebte aus jener Güte, die aus der geheiligten Furchtlosigkeit erwächst. Er gehört zu denen, die in diesem Hause das Bild menschlicher Würde und Hoheit reingehalten haben.“


Hier wird aufgedeckt, was ein Frei-herr jenseits gesellschaftlicher Ordnungen wirklich ist. Noch einmal: „er lebte aus jener Güte, die aus der geheiligten Furchtlosigkeit erwächst“. Diese Freiheit finden wir auch unter den einfachsten Menschen.  Johanna Rahtgens hat solche Frei-frauen und Frei-herren  in ihrem Lebensbericht bewegend geschildert.  Sie haben ihr, der alles genommen war, fraglos geholfen.


Noch fundamentaler ist, was der irische Arbeiter Matt Talbot, der durch die Tiefen und Höhen des Menschseins gegangen ist, sagt: „Wahrer Adel stammt einzig vom Blute des Gottessohnes.“


Für die Gefangenen im Zellengefängnis Lehrter Str.  war es deshalb so wichtig, Leib und Blut des Herrn zu empfangen, damit sie im Angesicht des Todes wahre Menschen werden und bleiben konnten.


Aus der grenzenlosen Vorgabe Jesu für alle sind immer Menschen auf den Weg gekommen. Schon als Vorbild  Elia auf der Flucht vor Isebel unter dem Ginsterstrauch und dann in der Kraft der geheimnisvollen Speise auf langem Weg zum Gottesberg Horeb, Petrus auf dem verwegenen Weg hinter Jesus her in die Verleugnung und dann im Lauf zum leeren Grab. Ein enttäuschter  Kleophas und sein Gefährte auf dem Weg nach Emmaus und dann bei absoluter Dunkelheit zurück nach Jerusalem. Ein fanatischer Saulus auf dem Weg nach Damaskus und danach tastend und geführt in die neue Welt.


Besondere Wege finden wir immer wieder:


Stauffenberg geht am Vorabend des Attentats auf Adolf Hitler in die Rosenkranz-Basilika  in Berlin-Steglitz. Der Historiker, der es wie nebenbei anmerkt,  bleibt uns die Auskunft schuldig, woher Stauffenberg  diese so verborgen in einer Nebenstraße liegende Kirche kannte und ihm für diesen so wichtigen Tag einen Freiraum bot – und nicht nur bei Gedichten von Stefan George blieb.


Alfred Delp ist auch irgendwie auf dem Weg. Ein fast zu beweglicher und unruhiger Geist für die damalige katholische Kirche . Wegen „seiner protestantischen Neigungen“ wurde er bei manchen Jesuiten kritisiert.  Jetzt in der Haft wird er von seinem Provinzial zur Feierlichen Profess  zugelassen.  Die Jesuiten nehmen ihn in ihren inneren Kreis. Er unterschreibt mit gefesselten Händen. Die Jesuiten bergen ein Kleinod des Geistes und des Gewissens in ihrer Gemeinschaft, und Alfred Delp weiß, dass er im Ausgeliefertsein ein unverbrüchliches Zuhause hat.


Jetzt müsste ich eigentlich  eine Zeit der Stille einhalten, in der Sie sich die Wege  der Ihnen Vertrauten  vergegenwärtigen könnten. Jeder Weg ist ein einmaliger.


Von ihnen allen, die den Weg gegangen sind,  gilt der Zusage Jesu: „Ihr seid meine Freunde“ oder sein Wort an einen Gesprächspartner: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“  


Hier und heute geht es jetzt um uns:


Als Perspektive ist uns die Losung des heutigen Tages gegeben: Das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt. (Jesaja 11,9. Losung für Samstag, 20. Juli 2019.)


Jede und jeder von uns darf noch besser  informiert in diesen 75. Gedenktag gehen, da auch uns zugesagt und gereicht wird:
Leib Jesu, gegeben für dich. Jesu Blut, vergossen für dich. 


Die Frage ist: Was ist heute meine Station auf dem Wege zur Freiheit?


Heute am Tag des öffentlichen Gedenkens drängen sich viele Gedanken auf, verehrende und kritische. An diesem Tag soll das unterschiedliche Denken vieler füreinander fruchtbar werden. Thomas von Aquin hält fest, dass selbst in jeder Irrlehre Wahrheit verborgen ist, die der Suche nach tieferer Wahrheit dient. Ein erster Schritt!


Das Misslingen des Anschlages auf Adolf Hitler hat uns über viele Jahre  ermöglicht, die tiefe Macht der Wahrheit und die unantastbare Würde des Menschen mitten in der äußersten Ohnmacht zu erfahren,  anzuerkennen und uns zu Herzen zu nehmen.


Pilatus konnte sich nicht entziehen. Er konnte zur Menge über den zerschlagenen Jesus mit der Dornenkrone nur sagen: Ecce homo!  Seht, der Mensch! (Joh 19,6)


Der Mensch – vergegenwärtigt auch in allen, die ihr Leben weggegeben haben.


Wir haben Zeit – und können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen!


Ich bin gestern  Nachmittag geraume Zeit in der Rosenkranz-Basilika in Steglitz gewesen und habe mich der so wichtigen Stunde vor 75 Jahren  ausgesetzt – für heute – für mich.


Ich wünsche mir, dass ich aus dieser Feier unter den Fleischerhaken von Plötzensee in den Tiefenschichten meiner Seele gut informiert in diesen Tag komme, mit dem gewissen Wissen über die Macht der Wahrheit und die Heiligkeit ihrer  Zeugen, und  mit dem wissenden Gewissen, dass das Leben einiger Menschen besonders mir mit meinem kleinen Maß an Menschlichkeit unvertretbar anvertraut ist. Der menschgewordene Herr Jesus, auch für mich gegeben, gebe dazu seine Kraft!


Dasselbe erbitte ich auch jeder und jedem von Ihnen.


Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, bewahre eure Herzen und  eure Gedanken in Christus Jesus (Phil 4,7). Amen.