Tradition heißt nicht Pflege der Asche, sondern Bewahrung einer Flamme

Christine Bergmann

Tradition heißt nicht Pflege der Asche, sondern Bewahrung einer Flamme

Ansprache der Bürgermeisterin von Berlin Dr. Christine Bergmann am 20. Juli 1993 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Frau Bundesministerin,

Frau Präsidentin des Abgeordnetenhauses,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Tradition heißt nicht Pflege der Asche, sondern Bewahrung einer Flamme“, hat Jean Jaurés einmal gesagt. Unsere heutige Zusammenkunft an diesem Ort steht im Zeichen solcher Tradition: Wir gedenken ein weiteres Mal des Widerstandes gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime – im nächsten Jahr jährt sich dieser Gedenktag zum fünfzigsten Mal.

Gemeinsam mit Familienangehörigen und Hinterbliebenen wollen wir die Erinnerungen an mutige Frauen und Männer bewahren und die Glut ihres selbstlosen Einsatzes in uns wach halten. Solche Erinnerung ist mehr als Geschichte. Sie führt uns immer wieder auf uns selbst zurück, stellt immer wieder die bohrende Frage nach der eigenen Verantwortung gegenüber Unrecht und Repression. Hat jeder von uns in seiner und ihrer Zeit genug getan, um gegen menschenverachtende und inhumane Politik Widerstand zu leisten? Diese Frage ist die Flamme, die wir mit der Tradition des 20. Juli in uns wach halten sollten.

Berlin war im Dritten Reich das Zentrum des Widerstandes, wie es auch während der dunklen Zeit das Zentrum der Gewaltherrschaft war. Berlin stand als Mittelpunkt des alten Preußen auch immer für beides: Für die funktionierende preußische Staatsmaschinerie, in der man nicht nach dem Sinn von Befehlen fragte, aber auch das Preußen, dessen wir heute gedenken, das sich früh schon im Marwitz’schen Grabspruch fand: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“

Dietrich Bonhoeffer hat den Sinn dieses Satzes in eigenen Worten auch für den deutschen Widerstand gegen Hitler verwendet, er sagte: „Gehorsam ohne Freiheit ist Sklaverei. Freiheit ohne Gehorsam ist Willkür. Der Gehorsam bindet die Freiheit, die Freiheit bindet den Gehorsam“.

Die Männer und Frauen des 20. Juli haben diese Worte beherzigt, und viele haben dafür mit dem Leben bezahlt. Wir sind ihnen bis heute dankbar für ihren Einsatz, für ihr Vorbild.

Sie waren nicht die einzigen, die Hitler Widerstand entgegensetzten. Es gab Einzelne, wie Georg Elser, es gab die Weiße Rose und die Rote Kapelle, es gibt Namen, die niemand mehr kennt. Es waren nicht viele, und immer verzweifelte Versuche – allesamt zum Scheitern verurteilt. Wir Heutigen dürfen nie vergessen, welches Ausmaß an Mut und auch Opferbereitschaft damals nötig war, um in dieser Schattenzeit deutscher Geschichte aktiven Widerstand zu leisten.

Umso mutiger wirkt dann das Handeln der Männer und Frauen, die wir heute ehren und derer wir uns seit fast 50 Jahren mahnend erinnern. Glaube und Hoffnung des Widerstandes, seine Geduld und Tapferkeit, sagte der kürzlich verstorbene Heinrich Albertz einmal, seien wie ein Seil gewesen, an dem er sich habe festhalten können. Was wir heute gebrauchen, sei damals gelebt worden.

Es waren wenige, die mit ihren Aktionen Wegbereiter für das Deutschland nach 1945 geworden sind. Aber in einer Zeit, in der diese demokratisch verfasste deutsche Republik wieder Schaden zu nehmen droht, in der sich vor allem Jugendliche bewusst auf schrecklichste Kapitel deutscher Geschichte berufen und ungeheuerliche Schandtaten begehen, ist es vielleicht wichtiger denn je, an jene Zeit zu erinnern, als durch mangelnde Wachsamkeit Freiheit und Demokratie verloren gingen. Jedes Opfer menschenverachtenden Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus ist zu viel – damals wie heute. Jeder von uns, der hier schweigt, der nur zuschaut und die Gräueltaten des vergangenen Jahres verdrängt, lädt sich Schuld auf. Jenseits aller historischen Differenzierung müssen wir die Lehre der Vergangenheit als leidenschaftliche Glut in uns bewahren. Denn gerade jetzt ist es dringlicher denn je, für diese demokratische politische Kultur einzustehen.

Fritz-Dietlof von der Schulenburg hat kurz vor seiner Hinrichtung gesagt: „Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einem namenlosen Elend zu bewahren.“ Alle am 20. Juli Beteiligten, alle anderen im Widerstand haben uns etwas Unersetzliches hinterlassen: eine Menschlichkeit, ohne die ein Neubeginn nicht möglich gewesen wäre. Der „Aufstand des Gewissens“ ließ Gewissen erst wieder entstehen.

Wir danken ihnen, und wir danken ihren Familien, ihren Freunden und politischen Weggefährten. Wir werden sie nicht vergessen. Wir denken an sie, und wir denken an die vielen Millionen, die Opfer der Barbarei geworden sind. Diese Erinnerung wird uns heute und für die Zukunft den richtigen Weg weisen.







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