Uns ist ein Wächteramt aufgegeben

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Carl-Heinz Evers

Uns ist ein Wächteramt aufgegeben

Gedenkrede des Berliner Senators für Schulwesen Carl-Heinz Evers am 9. Juli 1964 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Henning von Treskow, Generalmajor und einer der entscheidenden Männer des deutschen Widerstandes gegen Hitler, sagte am 21. Juli 1944, bevor er sich selbst den Tod gab: „Jetzt wird die ganze Welt über uns herfallen und uns beschimpfen. Aber ich bin nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, dass wir recht gehandelt haben. Ich halte Hitler nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern auch für den Erzfeind der Welt. Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin sind, so hoffe ich, dass Gott Deutschland um unsertwillen nicht verderben wird.“

Heute versammeln sich hier, an der Richtstätte in Plötzensee, wie in jedem Jahr kurz vor den Sommerferien, Schüler und Lehrer der Berliner Schule, um zu gedenken und zu bekennen: Wir, die junge und die jüngere Generation danken allen Männern und Frauen des deutschen Widerstandes gegen Hitler dafür, dass wir das jetzt mit Selbstachtung tun dürfen, wenn wir unsere Nationalität nennen. Zwanzig Jahre sind seit dem 20. Juli 1944 vergangen, aber es sind nicht einmal zwanzig Jahre nach der letzten Vergasung, nicht einmal zwanzig Jahre, seit hinter dieser wand gehenkt wurde, wenig mehr als zwanzig Jahre nach den Überfällen auf ein Nachbarland nach dem andern. Das ist etwa das Drittel eines Menschenlebens nach Mord, Terror, Unmenschlichkeit in Deutschland und im Namen Deutschlands.

Denn all das, was seit jenem 30. Januar 1933 geschah - es geschah im Namen Deutschlands, im Namen des Volkes, dem wir angehören und in das wir hineingeboren und hineingestellt sind. Unser Name wurde geschändet, weil das Bild des Menschen täglich hundert und tausendfach geschändet wurde.

Woher nehmen wir alle, die wir Deutsche sind, heute den Mut, Angehörigen anderer Völker und deutschen Mitbürgern jüdischen Glaubens ins Auge zu sehen, ihnen die Hand zu reichen und sie um Vergebung zu bitten für das, was durch Angehörige unseres Volkes und im Namen Deutschlands geschehen ist? Woher nimmt jene Generation den Mut, die 1933 Verantwortung für die Geschicke des Gemeinwesens trug? Jene heute älteren Menschen, die es betrieben oder die es zuließen oder die es nicht verhindern konnten, dass die Nacht über Deutschland und dann der Terror über die Welt kam? Jene Generation der Verantwortlichen? Woher nimmt unsere Generation den Mut, jene Menschen in unserem Volk, die 1933 Kinder waren, deren jugendliche Begeisterungsfähigkeit unendlich gewissenlos missbraucht wurde? Diese Deutschen der Kriegsgeneration, die zu Hunderttausenden starben oder verstümmelt wurden, ohne Verantwortung zu tragen dafür, dass es zu 1933 kam und für das, was in den Jahren darauf geschah? - Jene Generation der Missbrauchten? Und woher nehmt Ihr den Mut, Euch noch Deutsche zu nennen, die Ihr damals noch nicht geboren wart und die Ihr heute so alt seid wie unsere Generation - die Generation der Missbrauchten - damals war - und die Ihr doch - wie unsere Generation - ohne Verantwortung für 1933 haftet für das, was in jenen zwölf Jahren im Namen Deutschlands geschah, - die Generation der damals noch nicht Geborenen?

Geschichte ist ein irreversibler Vorgang; man kann sie nicht zurückdrehen; man kann sie nicht ungeschehen machen. Man kann keinen Urlaub von der Geschichte nehmen und dunkle Zeiten ausklammern oder verdrängen. Die Zeit von 1933 bis 1945 gehört zur deutschen Geschichte, zu unserer Geschichte. Sie gehört dazu wie Goethe, Beethoven, Freiherr vom Stein und Albert Einstein. Es ist die gleiche Sprache, in der einerseits Luther das Evangelium in der Muttersprache lesbar machte, in der Kant den Kategorischen Imperativ formulierte und in der Max Planck seine Quantentheorie veröffentliche, - und in der andererseits Vernichtungskommandos gegeben und die Begriffe von der „Endlösung“ und vom „lebensunwerten Leben“ geprägt wurden.

Kein Deutscher kann sich außerhalb dieser Haftung stellen, ob er nun 1933 für oder gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, ob er offenen oder inneren Widerstand leistete oder ob er in jenen apokalyptischen Zeiten das „Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Häuptern und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen“ - anbetete.

Jeder Deutsche haftet: ob er mangels besseren Unterscheidungsvermögens begeistert wurde und mitmachte, - oder ob er sich abkehrte als er zu denken begann und durchschaute und den irregeführten Idealismus zu rächen trachtete; ob er Kind war damals oder noch nicht geboren war, ob er heute in Ost- oder in Westdeutschland lebt. Wir haften alle für das, was im Namen Deutschlands geschah, auch die, die wir keine Schuld tragen, dass es zu 1933 kam und bis 1945 dauern konnte. Wir Jüngeren haften, wie ein Sohn für seinen Vater haftet, wenn er Selbstachtung besitzt. Und wir alle können Verantwortung und Haftung als Deutsche nur ertragen, weil es in jenen Jahren der Finsternis neben dem offiziellen Deutschland noch das „andere Deutschland“ gab. Wie es Henning von Treskow sagte: „Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin sind, so hoffe ich, dass Gott Deutschland um unsertwillen nicht vernichten wird.“

Weil es das Opfer der Widerstandskämpfer gibt, weil sich durch sie das „andere Deutschland“ darstellte, deshalb können wir unsere deutsche Geschichte tragen und ertragen und die Hand ausstrecken zu den Tschechoslowaken, Polen, Russen, zu den Holländern, Belgiern, Luxemburgern, Franzosen, Engländern und Amerikanern, zu den Dänen und Norwegern, den deutschen Mitbürgern jüdischen Glaubens und den Israelis.

Vor wenigen Tagen hatte das Berliner Schülerparlament eine eindrucksvolle Gedenkstunde für die deutschen Widerstandskämpfer. Annedore Leber, deren Mann nach dem 20. Juli 1944 hier gehenkt wurde, sagte zu uns, der Erfolg des deutschen Widerstandes hänge von uns ab, insbesondere von der jüngeren Generation und von der Jugend. Und das heißt: Wir haben ein Vermächtnis zu erfüllen. Und das heißt wiederum, dass wir ehren sollen, nicht zunächst im Gedenken, im Feiern mit Worten, sondern im Alltag und im Tun.

Uns ist ein Wächteramt aufgegeben. Und der Auftrag lautet, dass wir aufpassen müssen, sehr genau und sehr empfindlich und sehr wachsam aufpassen müssen, damit die Würde des Menschen nicht durch neue Willkür angetastet wird. Freiheit und Würde hat man nie in der Tasche. Sie werden immer wieder bedroht sein, so lange es Menschen geben wird. Der ärgste Feind von Würde und Freiheit des Menschen ist die Gleichgültigkeit: dass wir Ansprüche einer Situation nicht erfahren wollen, oder dass wir sie zwar erfahren, aber nicht hören und nicht antworten und nicht verantworten wollen; dass wir nicht unseres Bruders Hüter sein wollen; dass wir träge werden und Freiheit als Besitz, nicht aber als Aufgabe auffassen; dass wir vergessen, was uns John F. Kennedy vor einem Jahr hier in Berlin sagte: „Die Freiheit ist unteilbar, und wenn auch nur einer versklavt ist, dann sind nicht alle frei“; das wir meinen, wir seien nicht betroffen, als vor einigen Monaten ein westdeutscher Politiker kritisierenden Intellektuellen empfahl, sie könnten ja Deutschland verlassen, wenn es ihnen hier nicht gefiele.

Und wachsam sein heißt auch wissen, dass wir stets in Gefahr sind, über die Ideologie und das Denken an die Menschheit den korrekten Menschen, den Nächsten, - den er einen Nächsten braucht, - zu vergessen; und das ist eine besonders gefährliche Form der Gleichgültigkeit.

Politik und Menschlichkeit sind dann identisch, wenn sie den konkreten, den wirklichen Menschen meinen, - den, der einen Nächsten braucht. Wäre wohl der 30. Januar 1933 geschehen, wenn es in diesem Volke nicht so viel Gleichgültigkeit gegeben hätte? Als dann damals etlichen diese Erkenntnis dämmerte, war es zu spät und das Unheil nahm seinen Lauf in immer neuen Unmenschlichkeiten.

Diejenigen aber, die damals nicht gleichgültig waren und Widerstand leisteten, um das geschändete Antlitz des Menschen wieder freizulegen und zu heilen, - sie sind unser Vorbild heute und unsere mahnenden Bürgen, dass wir wieder Selbstachtung haben dürfen, - dass wir als Deutsche Angehörigen anderer Völker und Mitbürgern jüdischen Glaubens ins Auge sehen und ihnen die Hand reichen können.

Jene Widerstandskämpfer, deren wir ehrend gedenken, hatten es viel schwerer als wir heute, sich für die Würde und Freiheit des Menschen einzusetzen. Sie waren einsam, sie konnten dem Mitbürger nicht trauen, und hinter der kleinsten unbedachten Handlung oder Äußerung standen Tod und Sippenhaftung. Sie taten es dennoch, weil sie angesichts des „Tiers mit den zehn Hörnern und sieben Häuptern“ nicht gleichgültig sein konnten und nicht gleichgültig sein wollten.

Wir haben es heute ungleich leichter, weil wir in einem freiheitlichen Gemeinwesen leben und bereit sind, das Vermächtnis jener Männer und Frauen zu erfüllen, die sich in der Hoffnung opferten, dass wir von da an nicht gleichgültig sein würden. Aber wir müssen aufpassen, sehr aufpassen sogar, denn Freiheit und Würde des Menschen sind immer wieder neuen Anschlägen ausgesetzt.

Und jener Seher aus dem letzten Buch des Neuen Testaments spricht außer von dem „Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Häuptern“, dem man das Unheil ansieht, noch von einem zweiten Tier, „das hatte zwei Hörner gleichwie ein Lamm“. Das Tier also, das zwar gar nicht grausam aussieht, aber das dennoch genau so verführt und die Menschen entwürdigt wie das erste Tier.

Können wir dieses zweite Tier, das einem Lamm gleicht, sofort erkennen und beschreiben? Ist es vielleicht die Gleichgültigkeit des Wohlstandes? Ist es das Protzen mit Chrom und PS und der Tod auf unseren Straßen? Ist es die Unduldsamkeit gegenüber anderen Ideologien? Ist es die Selbstgerechtigkeit der Besitzenden? Ist es Interesselosigkeit gegenüber fremdem Leid, die Gleichgültigkeit gegenüber Alten und Kranken, die mangelnde Vorsorge für das Morgen in Gestalt der Vernachlässigung unseres Bildungswesens? Ist es die fehlende Barmherzigkeit gegenüber unseren Landsleuten jenseits der Mauer, die wir sonntags gern unsere Brüder nennen? Ist es Unduldsamkeit gegen die, die unsere deutsche Wirklichkeit beim Namen nennen?

Wir haben ein Wächteramt für Freiheit und Würde des Menschen! Wir jüngeren Deutschen, die wir ohne Schuld haften, haben als „gebrannte Kinder“ ein besonderes Wächteramt für Gerechtigkeit, für Freiheit, für Frieden und für Menschenwürde, weil wir Deutsche dafür haften, dass diese Welt aus den Fugen geriet. Und weil wir das Vermächtnis deutscher Widerstandskämpfer zu erfüllen haben, die uns durch ihr Opfer halfen, unsere Aufgabe zu tragen und unser Wächteramt gegen die Gleichgültigkeit zu erfüllen.

Vor seinem Tod bekannte Ernst von Harnack, der am 5. März 1945 hier in Plötzensee hingerichtet wurde, das, worauf es für uns ankommt: „Das Entscheidende ist nicht, dass man das Ziel erreicht, sondern dass man den richtigen Weg geht.“