Vaterland – Tägliche Pflicht zur Mitmenschlichkeit
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Carl-Heinz Evers
Vaterland – Tägliche Pflicht zur Mitmenschlichkeit
Gedenkrede des Berliner Senators für Schulwesen Carl-Heinz Evers am 6. Juli 1966 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
Die Gedenktage, die wir im freien Teil Deutschlands begehen, sind unbequem - unbequem wie unsere Geschichte.
Mit unseren Gedenktagen ist nicht die Erinnerung an glückliche Tage verbunden. Das gilt vom 17. Juni genauso wie für den 20. Juli. Wir markieren Tage der Niederlage. Wir trauern um Opfer, denen der Erfolg des Tages versagt blieb. Wir ehren den Widerstand, der unter fast aussichtslosen Bedingungen dem Gewissen folgte.
Eine Stunde wie diese, zu der sich heute wie in jedem Jahr kurz vor den Sommerferien Schüler und Lehrer der Berliner Oberschulen versammeln, ist unbequem. Denn sie vergegenwärtigt Fragen, denen sich viele entziehen möchten. Ein Ereignis wie der 20. Juli 1944, - eine Mauer, hinter der Widerstandskämpfer gehenkt wurden, erlauben keine Gleichgültigkeit und kein Vergessenwollen. Sie gestatten auch nicht die Flucht in die Heroisierung. Sie zwingen zum Nachdenken.
Dieser Drang zum Nachdenken ist heilsam: heilsam in einer Zeit, in der erneut Bücher verbrannt wurden; - heilsam in einer Situation, in der in unserer Stadt noch vor wenigen Monaten Briefkästen und Haustüren brannten; heilsam in einer Wirklichkeit, in der nicht nur einige Unbelehrbare, sondern auch junge Menschen sich in einer rechtsradikalen Partei sammeln, deren Parolen und Programme jenem Ungeist ähneln, der Schande und Spaltung über Deutschland und Mord und Trauer für die Welt brachte. Was haben wir versäumt, dass es zu solchem neuen Ungeist kommen konnte, dessen Auswirkungen wir zwar nicht überschätzen sollten, dessen Chancen wir aber auch keinesfalls unterschätzen und bagatellisieren dürfen.
Andererseits ist dieser Drang zum Nachdenken auch heilsam in einer Zeit, in der wir uns stärker fragen nach den Möglichkeiten deutscher Politik und in der wir uns dem Vollzug der Verantwortlichkeit für die Nation deutlicher zu stellen begonnen haben. Gerade jetzt bedürfen wir der Maßstäbe einer nationalen Politik, die unserem Volke aus einer Lage heraushelfen soll, in die es durch eigene Fehler und Verbrechen hineingeraten ist. „Es waren vaterländische Gefühle, die Sorge um mein Deutschland, das Bemühen um seine innere und äußere Entwicklung, die mein Handeln bestimmten“, so schrieb einer der Männer, die hinter dieser Mauer gehenkt wurden, in seinem Abschiedsbrief.
Dieses Handeln richtete sich gegen die Regierung, die vorgab, die Interessen des Vaterlandes zu verteidigen; gegen eine verbrecherische Machtpolitik, die im Namen dieses Vaterlandes mordete und andere Unmenschlichkeiten beging.
Dem „Vaterland“ war also ein höherer Wert übergeordnet. „Sorge um Deutschland“ bedeutete also nicht unmenschliche Erstarrung gegenüber den Lebens- und Freiheitsrechten des eigenen Volkes und anderer Völker. Und das „Bemühen um innere und äußere Entwicklung“ bedeutete nicht Machtausbreitung, Gewalt und Unterdrückung.
In dem vorbereiteten Aufruf der deutschen Freiheitsbewegung heißt es: „Durch grausame Massenmorde ist unser guter Name besudelt. Wir wollen unsere Ehre und damit unser Ansehen in der Gemeinschaft der Völker wiederherstellen. Wir wollen mit den besten Kräften dazu beitragen, die Wunden zu heilen, die dieser Krieg den Völkern geschlagen hat, und das Vertrauen zwischen ihnen wieder neu zu beleben.“
Damit war ein Zeichen zur Umkehr gegeben, nachdem - wie im 19. Jahrhundert prophezeit - in rasender Geschwindigkeit der „Weg von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität“ beschritten worden war. Das unreflektierte, gefühlsüberladene „Vaterland“ versank in den Gewalttaten der SS, in den sorgfältigen Fahrplänen der Deutschen Reichsbahn für den Zielbahnhof Auschwitz, in den beflissenen Kommentaren der Wissenschaftler, in der Mittäterschaft oder dem tatenlosen Beiseitestehen der meisten. Es versank jener gedankenlose Patriotismus, der „Deutschland, Deutschland über alles“ auf eine anmaßende und brutale Weise wörtlich nahm. Nicht der 8. Mai 1945, sondern der 30. Januar 1933 ist der Tag der deutschen Katastrophe.
Die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes taten - spät zwar und zu spät - den entscheidenden Schritt und beendeten die Vergötzung der eigenen Nation, Spät, und zu spät taten sie den Schritt, den aufrechte Demokraten - wenige, zu wenige - bereits vor jenem Teufelstag im Jahre 1933 getan hatten und für den sie danach mit Freiheit, Gesundheit und Leben bezahlen mussten, lange vor jenem 20. Juli 1944, als die Unmenschlichkeit schon über elf Jahre ihren Lauf genommen hatte.
Wenn heute in Deutschland so etwas wie ein nationales Bewusstsein möglich ist, dann deshalb, weil es jenen Widerstand der ersten Stunde und auch der letzten Stunde gab, - dann angesichts der Mauern und der Wände der Richtstätten, des Stacheldrahtes der Gefängnisse und Lager, in denen das „andere Deutschland“ litt und sich opferte, nicht angesichts der Siegessäulen und der Denkmäler des offiziellen Deutschlands der ersten viereinhalb Jahrzehnte dieses Jahrhunderts.
Was heißt dann aber „Vaterland“ angesichts dieser Erfahrung? „Vaterland“ kann nichts anderes sein als der Raum unserer täglichen mitmenschlichen Verantwortung, in den wir hineingestellt sind. Der Raum, in dem der konkrete Nächste lebt, für den wir Verantwortung haben und für den wir da sein sollen. Der Raum, in dem wir Verantwortung tragen für die Geschicke unseres Gemeinwesens als einer Heimstatt freier Menschen.
So unbequem unsere Geschichte ist - wir können nicht aus ihr heraustreten. Wir haften für sie, wie ein Sohn für den Vater haftet, wenn er Selbstachtung besitzt. Haftung aber bedeutet nicht Rechtfertigung der alten Fehler, sondern Abkehr von ihnen. Haftung erfordert ein klares Bewusstsein des Gewesenen und eine deutliche sittliche Entscheidung für mitmenschliche und soziale Tugenden.
Deshalb können wir auch sagen, was nationale Politik nicht ist: Das Aufrechnen der eigenen Schuld gegen fremde; selbst wenn das möglich wäre, befreit es uns nicht von der eigenen Verantwortung. Das Hängen an „alter Größe“; denn einer solchen Größe entsprach nicht das notwendige Maß des Vollzugs der Verantwortung. Das Drängen nach Macht, die über das hinausgeht, was wir zur Wahrung unserer Freiheit brauchen.
Nationale Politik erweist sich dagegen: Am eigenen Verhalten, das das Vertrauen der anderen Völker ermöglicht und rechtfertigt; an der Wahrung der eigenen Freiheit, die erst den Raum zur selbständigen Verantwortung schafft, an der tätigen Sorge um jenen Teil Deutschlands, der noch heute für uns alle die Last des von Deutschland begonnenen und verlorenen Krieges trägt.
Von hier erfährt auch eine Politik, die in einer weltpolitischen Situation des Status quo die nationale Substanz wahren will, ihren Auftrag und ihre Berechtigung. Eine so verstandene nationale Politik bedeutet Verantwortung und Hilfe für die Menschen im anderen Teil Deutschlands, die in einem ganz wörtlichen Sinne haften für die Fehler und Verbrechen unserer gemeinsamen Geschichte. Nationale Politik heute bedeutet, jede vertretbare Chance, auch die kleinste, zu nutzen, um menschliche Verbindungen aufrecht zu erhalten und neu zu knüpfen, damit einmal überhaupt noch etwas wiederzuvereinigen ist. „Vaterland“ ist kein abstrakter Begriff, keine berauschende Parole, sondern eine tägliche konkrete Pflicht zur Mitmenschlichkeit, damit wir nicht nur die gleiche Sprache sprechen, sondern unter den gleichen Wörtern auch dasselbe meinen und verstehen.
Manche möchten uns einreden, die Nachkriegszeit sei zu Ende. Sie ist nicht zu Ende; und es wäre zu fragen, ob sie jemals zu Ende sein sollte, wenn wir sie als eine Zeit nach dem Kriege, nach der Hitlerdiktatur und dem Widerstand gegen sie, und nach den Erfahrungen, die wir daraus gewinnen können, verstehen wollen. Gerade angesichts dieser Mauer und der anderen Mauer in Berlin wollen wir uns das sagen.
Erfahrungen sind unbequem. Sie zwingen mündige Menschen zum Nachdenken und zu praktischen Folgerungen. Die Gedenktage unserer Geschichte sind auch keine Ergebnisse von „Betriebsunfällen“. Sie haben Ursachen. Dass die Nazis an die Macht kamen, ist nicht zu erklären mit dem Versailler Vertrag oder mit der Weltwirtschaftskrise. Dass sie an der Macht blieben und die Welt und unser eigenes Volk ins Unglück stürzten, lag nicht daran, dass manche ausländische Staaten sich mit jenem System arrangierten oder dass der Widerstand dann zu spät einsetzte. Das Grundübel war, dass es in diesem Volke zu wenige Demokraten gab. Das Grundübel war die mangelhafte Demokratisierung der Gesellschaft in Deutschland.
Der Demokratie und damit der Würde des Menschen in Deutschland eine Heimstatt zu geben, sie nicht mehr ins Exil zu schicken, mit Füßen zu treten und zu verbrennen - das ist heute nationale Politik. Und damit ehren wir auch die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes und die zahllosen Opfer der Unmenschlichkeit, zu deren Gedächtnis wir uns hier versammelt haben. Ehren tut man nicht in Feiern und Worten, sondern im Alltag und im Tun. Besonders uns Jüngeren ist ein Wächteramt aufgegeben. Wir müssen aufpassen, sehr genau und sehr empfindlich und sehr wachsam aufpassen, damit nicht Freiheit und Würde des Menschen durch neue Willkür angetastet werden. Freiheit und Würde hat man niemals ein für allemal in der Tasche. Sie werden immer wieder bedroht sein durch reine Machtpolitik auf der einen Seite und besonders durch Gleichgültigkeit auf der anderen.
Aus der Verantwortung dieses Wächteramtes fragen wir: Gibt es nicht auch in unserer Gesellschaft schon wieder Ansätze einer Vergötzung des Staates und der Macht? Ist unsere Gesellschaft schon frei von der Verherrlichung des Irrationalen, von der Verketzerung des mündigen, kritischen Denkens? Ist unsere Gesellschaft frei von der Unbeweglichkeit der Privilegierten, die Chancengleichheit und Mitbestimmung als Anmaßung empfinden? Ist sie bereit zur tätigen Anerkennung des anderen als des anderen und zum fairen Austragen der Konflikte?
Wir haben noch viel zu tun und täglich zu tun, wenn wir im Sinne der Männer und Frauen des Widerstandes gegen die Tyrannei unser Vaterland zu einer wirklichen Heimstatt freier, mündiger Menschen machen wollen.
Carl-Heinz Evers
Vaterland – Tägliche Pflicht zur Mitmenschlichkeit
Gedenkrede des Berliner Senators für Schulwesen Carl-Heinz Evers am 6. Juli 1966 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
Die Gedenktage, die wir im freien Teil Deutschlands begehen, sind unbequem - unbequem wie unsere Geschichte.
Mit unseren Gedenktagen ist nicht die Erinnerung an glückliche Tage verbunden. Das gilt vom 17. Juni genauso wie für den 20. Juli. Wir markieren Tage der Niederlage. Wir trauern um Opfer, denen der Erfolg des Tages versagt blieb. Wir ehren den Widerstand, der unter fast aussichtslosen Bedingungen dem Gewissen folgte.
Eine Stunde wie diese, zu der sich heute wie in jedem Jahr kurz vor den Sommerferien Schüler und Lehrer der Berliner Oberschulen versammeln, ist unbequem. Denn sie vergegenwärtigt Fragen, denen sich viele entziehen möchten. Ein Ereignis wie der 20. Juli 1944, - eine Mauer, hinter der Widerstandskämpfer gehenkt wurden, erlauben keine Gleichgültigkeit und kein Vergessenwollen. Sie gestatten auch nicht die Flucht in die Heroisierung. Sie zwingen zum Nachdenken.
Dieser Drang zum Nachdenken ist heilsam: heilsam in einer Zeit, in der erneut Bücher verbrannt wurden; - heilsam in einer Situation, in der in unserer Stadt noch vor wenigen Monaten Briefkästen und Haustüren brannten; heilsam in einer Wirklichkeit, in der nicht nur einige Unbelehrbare, sondern auch junge Menschen sich in einer rechtsradikalen Partei sammeln, deren Parolen und Programme jenem Ungeist ähneln, der Schande und Spaltung über Deutschland und Mord und Trauer für die Welt brachte. Was haben wir versäumt, dass es zu solchem neuen Ungeist kommen konnte, dessen Auswirkungen wir zwar nicht überschätzen sollten, dessen Chancen wir aber auch keinesfalls unterschätzen und bagatellisieren dürfen.
Andererseits ist dieser Drang zum Nachdenken auch heilsam in einer Zeit, in der wir uns stärker fragen nach den Möglichkeiten deutscher Politik und in der wir uns dem Vollzug der Verantwortlichkeit für die Nation deutlicher zu stellen begonnen haben. Gerade jetzt bedürfen wir der Maßstäbe einer nationalen Politik, die unserem Volke aus einer Lage heraushelfen soll, in die es durch eigene Fehler und Verbrechen hineingeraten ist. „Es waren vaterländische Gefühle, die Sorge um mein Deutschland, das Bemühen um seine innere und äußere Entwicklung, die mein Handeln bestimmten“, so schrieb einer der Männer, die hinter dieser Mauer gehenkt wurden, in seinem Abschiedsbrief.
Dieses Handeln richtete sich gegen die Regierung, die vorgab, die Interessen des Vaterlandes zu verteidigen; gegen eine verbrecherische Machtpolitik, die im Namen dieses Vaterlandes mordete und andere Unmenschlichkeiten beging.
Dem „Vaterland“ war also ein höherer Wert übergeordnet. „Sorge um Deutschland“ bedeutete also nicht unmenschliche Erstarrung gegenüber den Lebens- und Freiheitsrechten des eigenen Volkes und anderer Völker. Und das „Bemühen um innere und äußere Entwicklung“ bedeutete nicht Machtausbreitung, Gewalt und Unterdrückung.
In dem vorbereiteten Aufruf der deutschen Freiheitsbewegung heißt es: „Durch grausame Massenmorde ist unser guter Name besudelt. Wir wollen unsere Ehre und damit unser Ansehen in der Gemeinschaft der Völker wiederherstellen. Wir wollen mit den besten Kräften dazu beitragen, die Wunden zu heilen, die dieser Krieg den Völkern geschlagen hat, und das Vertrauen zwischen ihnen wieder neu zu beleben.“
Damit war ein Zeichen zur Umkehr gegeben, nachdem - wie im 19. Jahrhundert prophezeit - in rasender Geschwindigkeit der „Weg von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität“ beschritten worden war. Das unreflektierte, gefühlsüberladene „Vaterland“ versank in den Gewalttaten der SS, in den sorgfältigen Fahrplänen der Deutschen Reichsbahn für den Zielbahnhof Auschwitz, in den beflissenen Kommentaren der Wissenschaftler, in der Mittäterschaft oder dem tatenlosen Beiseitestehen der meisten. Es versank jener gedankenlose Patriotismus, der „Deutschland, Deutschland über alles“ auf eine anmaßende und brutale Weise wörtlich nahm. Nicht der 8. Mai 1945, sondern der 30. Januar 1933 ist der Tag der deutschen Katastrophe.
Die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes taten - spät zwar und zu spät - den entscheidenden Schritt und beendeten die Vergötzung der eigenen Nation, Spät, und zu spät taten sie den Schritt, den aufrechte Demokraten - wenige, zu wenige - bereits vor jenem Teufelstag im Jahre 1933 getan hatten und für den sie danach mit Freiheit, Gesundheit und Leben bezahlen mussten, lange vor jenem 20. Juli 1944, als die Unmenschlichkeit schon über elf Jahre ihren Lauf genommen hatte.
Wenn heute in Deutschland so etwas wie ein nationales Bewusstsein möglich ist, dann deshalb, weil es jenen Widerstand der ersten Stunde und auch der letzten Stunde gab, - dann angesichts der Mauern und der Wände der Richtstätten, des Stacheldrahtes der Gefängnisse und Lager, in denen das „andere Deutschland“ litt und sich opferte, nicht angesichts der Siegessäulen und der Denkmäler des offiziellen Deutschlands der ersten viereinhalb Jahrzehnte dieses Jahrhunderts.
Was heißt dann aber „Vaterland“ angesichts dieser Erfahrung? „Vaterland“ kann nichts anderes sein als der Raum unserer täglichen mitmenschlichen Verantwortung, in den wir hineingestellt sind. Der Raum, in dem der konkrete Nächste lebt, für den wir Verantwortung haben und für den wir da sein sollen. Der Raum, in dem wir Verantwortung tragen für die Geschicke unseres Gemeinwesens als einer Heimstatt freier Menschen.
So unbequem unsere Geschichte ist - wir können nicht aus ihr heraustreten. Wir haften für sie, wie ein Sohn für den Vater haftet, wenn er Selbstachtung besitzt. Haftung aber bedeutet nicht Rechtfertigung der alten Fehler, sondern Abkehr von ihnen. Haftung erfordert ein klares Bewusstsein des Gewesenen und eine deutliche sittliche Entscheidung für mitmenschliche und soziale Tugenden.
Deshalb können wir auch sagen, was nationale Politik nicht ist: Das Aufrechnen der eigenen Schuld gegen fremde; selbst wenn das möglich wäre, befreit es uns nicht von der eigenen Verantwortung. Das Hängen an „alter Größe“; denn einer solchen Größe entsprach nicht das notwendige Maß des Vollzugs der Verantwortung. Das Drängen nach Macht, die über das hinausgeht, was wir zur Wahrung unserer Freiheit brauchen.
Nationale Politik erweist sich dagegen: Am eigenen Verhalten, das das Vertrauen der anderen Völker ermöglicht und rechtfertigt; an der Wahrung der eigenen Freiheit, die erst den Raum zur selbständigen Verantwortung schafft, an der tätigen Sorge um jenen Teil Deutschlands, der noch heute für uns alle die Last des von Deutschland begonnenen und verlorenen Krieges trägt.
Von hier erfährt auch eine Politik, die in einer weltpolitischen Situation des Status quo die nationale Substanz wahren will, ihren Auftrag und ihre Berechtigung. Eine so verstandene nationale Politik bedeutet Verantwortung und Hilfe für die Menschen im anderen Teil Deutschlands, die in einem ganz wörtlichen Sinne haften für die Fehler und Verbrechen unserer gemeinsamen Geschichte. Nationale Politik heute bedeutet, jede vertretbare Chance, auch die kleinste, zu nutzen, um menschliche Verbindungen aufrecht zu erhalten und neu zu knüpfen, damit einmal überhaupt noch etwas wiederzuvereinigen ist. „Vaterland“ ist kein abstrakter Begriff, keine berauschende Parole, sondern eine tägliche konkrete Pflicht zur Mitmenschlichkeit, damit wir nicht nur die gleiche Sprache sprechen, sondern unter den gleichen Wörtern auch dasselbe meinen und verstehen.
Manche möchten uns einreden, die Nachkriegszeit sei zu Ende. Sie ist nicht zu Ende; und es wäre zu fragen, ob sie jemals zu Ende sein sollte, wenn wir sie als eine Zeit nach dem Kriege, nach der Hitlerdiktatur und dem Widerstand gegen sie, und nach den Erfahrungen, die wir daraus gewinnen können, verstehen wollen. Gerade angesichts dieser Mauer und der anderen Mauer in Berlin wollen wir uns das sagen.
Erfahrungen sind unbequem. Sie zwingen mündige Menschen zum Nachdenken und zu praktischen Folgerungen. Die Gedenktage unserer Geschichte sind auch keine Ergebnisse von „Betriebsunfällen“. Sie haben Ursachen. Dass die Nazis an die Macht kamen, ist nicht zu erklären mit dem Versailler Vertrag oder mit der Weltwirtschaftskrise. Dass sie an der Macht blieben und die Welt und unser eigenes Volk ins Unglück stürzten, lag nicht daran, dass manche ausländische Staaten sich mit jenem System arrangierten oder dass der Widerstand dann zu spät einsetzte. Das Grundübel war, dass es in diesem Volke zu wenige Demokraten gab. Das Grundübel war die mangelhafte Demokratisierung der Gesellschaft in Deutschland.
Der Demokratie und damit der Würde des Menschen in Deutschland eine Heimstatt zu geben, sie nicht mehr ins Exil zu schicken, mit Füßen zu treten und zu verbrennen - das ist heute nationale Politik. Und damit ehren wir auch die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes und die zahllosen Opfer der Unmenschlichkeit, zu deren Gedächtnis wir uns hier versammelt haben. Ehren tut man nicht in Feiern und Worten, sondern im Alltag und im Tun. Besonders uns Jüngeren ist ein Wächteramt aufgegeben. Wir müssen aufpassen, sehr genau und sehr empfindlich und sehr wachsam aufpassen, damit nicht Freiheit und Würde des Menschen durch neue Willkür angetastet werden. Freiheit und Würde hat man niemals ein für allemal in der Tasche. Sie werden immer wieder bedroht sein durch reine Machtpolitik auf der einen Seite und besonders durch Gleichgültigkeit auf der anderen.
Aus der Verantwortung dieses Wächteramtes fragen wir: Gibt es nicht auch in unserer Gesellschaft schon wieder Ansätze einer Vergötzung des Staates und der Macht? Ist unsere Gesellschaft schon frei von der Verherrlichung des Irrationalen, von der Verketzerung des mündigen, kritischen Denkens? Ist unsere Gesellschaft frei von der Unbeweglichkeit der Privilegierten, die Chancengleichheit und Mitbestimmung als Anmaßung empfinden? Ist sie bereit zur tätigen Anerkennung des anderen als des anderen und zum fairen Austragen der Konflikte?
Wir haben noch viel zu tun und täglich zu tun, wenn wir im Sinne der Männer und Frauen des Widerstandes gegen die Tyrannei unser Vaterland zu einer wirklichen Heimstatt freier, mündiger Menschen machen wollen.