"Verantwortung für eine Politik im Sinne der Männer und Frauen des 20. Juli"

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Harry Ristock

„Verantwortung für eine Politik im Sinne der Männer und Frauen des 20. Juli“

Gedenkrede des Senatsdirektors der Schulverwaltung Harry Ristock am 10. Juli 1973 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Zum 29. Male jährt sich der Tag unserer Erinnerung an die Männer und Frauen, die am 20. Juli 1944 den letzten Versuch unternahmen, das mörderische System des Nationalsozialismus zu beenden. Mit dem Attentat auf Hitler sollte dem Morden nach außen und innen ein Ende bereitet werden.

Es ist nicht gelungen. Hier in der Hinrichtungsstätte, nur wenige Meter hinter dem Mahnmal, wurde der Widerstand gebrochen, ermordete das Regime kurz vor seinem eigenen Ende auf brutale Weise diejenigen, die aus tiefer Überzeugung und Verantwortung heraus die Gewaltherrschaft des nationalsozialistischen Reiches beenden wollten. Sie gehörten zu den Besten unseres Volkes. Dass sie den letzten Versuch in einer aussichtslosen Situation wagten, macht ihren geschichtlichen Rang aus.

Über den deutschen Widerstand urteilte Winston Churchill im britischen Unterhaus:

„In Deutschland lebte eine Opposition, die durch ihre Opfer und eine entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem edelsten und größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde ... solange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar und unerkennbar, weil sie sich tarnen mussten. Aber in den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden.

Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah, aber ihre Taten und Opfer sind das Fundament eines neuen Aufbaues.“

Wie kam es zur Bildung dieses Widerstandes?

Seit dem Sommer 1940 trafen sich oppositionelle Männer aller politischen Richtungen, die durch eine gemeinsame christliche und soziale Anschauung verbunden waren, auf dem Gut des Grafen Helmuth James von Moltke in Kreisau in Schlesien.

Der „Kreisauer Kreis“ entwickelte Reformpläne für den Aufbau und die Organisation eines deutschen Staatswesens nach dem nationalsozialistischen Regime. Auch für eine künftige übernationale und föderalistische Zusammenarbeit in Europa. Allerdings blieben trotz der Mitarbeit entschiedener Sozialisten, wie dem Pädagogen Reichwein und den sozialdemokratischen Politikern Mierendorff und Leber, die innenpolitischen Vorstellungen unklar. Konkrete Schlussfolgerungen fehlten. Es überwog die moralische Aussage. Dennoch waren die Gespräche des Kreisauer Kreises nicht sinnlos.

Sie haben dazu beigetragen, Widerstandskämpfer verschiedener konfessioneller und politischer Herkunft zusammenzuführen.

Zum Widerstand gehörten auch Studenten und Hochschullehrer - etwa die Geschwister Scholl -, die 1942/43 in München wirkten. Auf ihren Flugblättern, die sich gegen Krieg und Knechtung richteten, hieß es:

„Im Namen der deutschen Jugend fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat.

In einem Staat rücksichtsloser Knebelung jeder freien Meinungsäußerung sind wir aufgewachsen.

HJ, SA, SS haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu narkotisieren versucht.

‚Weltanschauliche Schulung’ hieß die verächtliche Methode, das Selbstdenken in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken ... Es gilt den Kampf aufzunehmen um unsere Zukunft, den Kampf um unsere Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewussten Staatswesen.“

Freiheit und Ehre!

Hitler und seine Handlanger haben diese Begriffe verdreht, ausgequetscht, abgedroschen. Was ihnen Freiheit und Ehre galt, haben sie in den Jahren der Zerstörung aller materiellen und geistigen Freiheit, aller sittlichen Substanzen im deutschen Volk hinreichend gezeigt. Das furchtbare Blutbad hat schließlich auch dem Letzten die Augen geöffnet, das im Namen von Freiheit und Ehre der deutschen Nation in ganz Europa angerichtet wurde.

„Der deutsche Name bleibt für immer geschändet“ war die Furcht dieser jungen Menschen, „wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht und ihre Peiniger zerschmettert“.

Hans Scholl war durch die eigene Anschauung der deutschen Besatzungspolitik im Osten zum Widerstand gekommen.

Das gleiche galt auch für viele jüngere Offiziere, die ab 1943 immer stärker zur Gewaltanwendung und zum politischen Attentat auf Hitler drängten. Nur so schien es möglich zu sein, den nationalsozialistischen Führerstaat zu treffen und das Leben Tausender von Menschen zu retten.

Pläne zum Staatsstreich und Tyrannenmord arbeitete der Generalstabsoffizier Claus Graf Schenk von Stauffenberg aus, der, in Tunis schwer verwundet, Mitte 1944 Stabschef des Befehlshabers des Ersatzheeres wurde. In dieser Eigenschaft erhielt er die Möglichkeit, einen „legalen“ Plan gegen „innere Unruhen“ mit Ausnahmezustand und Übernahme der vollziehenden Gewalt durch die Armee auszuarbeiten: das Unternehmen hieß „Walküre“.

Von außen hatte keine der deutschen Widerstandsgruppen Hilfe zu erwarten. Die Abscheu vor den Untaten und gegenseitiges Misstrauen bewogen die verbündeten Mächte der „Anti-Hitler-Koalition“, von Deutschland die bedingungslose Kapitulation ohne Zusicherungen und Verhandlungen zu fordern. Deshalb ließ Generalmajor von Tresckow, einer der Verschwörer, Stauffenberg mitteilen:

„Das Attentat (auf Hitler) muss erfolgen … Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig. “

Stauffenberg nahm auch Verbindung zu aktiven Vertretern der politischen Linken auf, besonders zum ehemaligen Reichstagsabgeordneten Julius Leber. Der Zusammenhang wurde deutlicher.

Hitler besuchte während der Kriegszeit kaum noch Städte oder Truppeneinheiten. Er hielt sich zumeist in seinem „Führerhauptquartier“ auf, das sich Mitte 1944 in der „Wolfsschanze“ in Ostpreußen befand. Stauffenberg hatte als einziger vom engeren Verschwörerkreis Zugang zu Hitlers Lagebesprechungen. So wurde er, der Planer des Umsturzes, auch mit dem Attentat beauftragt, das wegen seiner durch die Verwundung bedingten körperlichen Behinderung nur ein Sprengstoffattentat sein konnte. Es gelang ihm, am 20. Juli 1944, eine Aktentasche mit Sprengstoff in der Nähe Hitlers abzustellen und nach Berlin zurückzufliegen. Die Bombe explodierte, aber durch einen Zufall überlebte Hitler - kaum verletzt.

Unmittelbar nach der Explosion wurde der Plan „Walküre“ eingeleitet. Hitler wurde für tot erklärt, das Armee-Oberkommando in der Bendlerstraße übernahm die Führung. Als die ersten Meldungen von dem Misslingen des Attentats eintrafen, brach der Aufstand zusammen. Noch am Abend des gleichen Tages wurden Stauffenberg und seine engsten Mitarbeiter erschossen. Eine Verhaftungswelle rollte über Deutschland, die außer den Verschwörern und ihren Familienangehörigen auch andere aktive und potentielle Gegner des Regimes erfasste. Viele der Inhaftierten mussten noch Ende April 1945 sterben; ein schwerer Verlust für die deutsche Demokratie der Nachkriegszeit.

1943 hatte das Justizministerium 5.684 Hinrichtungen registriert, im Jahre 1944 waren es 5.764. Die Zahl der Hinrichtungen wird für 1945 auf mindestens 800 geschätzt, ungerechnet die Opfer sogenannter Militärgerichte.

Wie konnte es in diesem unserem Volk zur Errichtung einer derartigen seelenlosen Mordmaschinerie kommen!

Wie ist zu verhindern, dass derartiges sich wiederholt!

Wie ist - um es mit Brecht zu formulieren - der Schoß auszutrocknen, aus dem das kroch?

Die Ursachen, Quellen, Wurzeln des deutschen Nationalsozialismus reichen tief in die Geschichte. Es sind dies die fehlende Demokratisierung des flachen Landes und die bis in die Neuzeit hineinreichende Feudalherrschaft genauso wie das Ausbleiben erfolgreicher Reformen und das unselige Bündnis zwischen einem Teil des deutschen Liberalismus und den konservativ-reaktionären Gewalten des vorigen Jahrhunderts. Schließlich stellten auch das Untertanenbewusstsein der Mittelstandsmassen, Antisemitismus und die Blut- und Boden-Theorien deutschtümelnder Reaktionäre den Nährboden für die Machtergreifung der zu Mördern werdenden Kleinbürger.

Wir finden hier die Beweisführung dafür, dass auf Zeit die Massen ihren Führern und die Führer den Massen entsprachen.

Was verbleibt?

Wir sind nach 1945 daran gegangen, die parlamentarische Demokratie wieder aufzubauen. Dies ist - wenn auch mit Mängeln und Schwächen behaftet - unser Staat! Unsere parlamentarische Demokratie spiegelt keine Harmonie wieder. Sie ist durch den Kompromiss geprägt und unterliegt dem Gesetz der Berechtigung vieler Strömungen und Gruppen. Bei allen Schwächen aber schließt sie die Allmacht einer Partei, einer Strömung, einer Gruppe, einer Clique, aus.

Gerade die Jugend unseres Landes hat gegen Ende der 60er Jahre mit dazu beigetragen, das Reformpotential erheblich zu erweitern. Wir wissen um die dringend notwendige weitere demokratische Ausfüllung unseres Grundgesetzes, eine Aufgabe, der wir aus innerster Überzeugung verpflichtet sind.

Die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 ließen ihr Leben, weil sie ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit, von Menschenwürde, von sozialer Verantwortung, nicht untreu werden wollten.

Sie standen und stehen für die Kontinuität eines demokratischen Deutschlands auch in der Zeit der Dunkelheit.

Sie, liebe Schülerinnen und Schüler, die Sie geboren sind nach den Schrecken der Hitlerbarbarei, stehen in der Verantwortung für eine bessere Politik im Sinne der Männer und Frauen des 20. Juli.

Ihre Verantwortung geht nicht nur auf die Bewältigung der Vergangenheit. Dieses ist noch Hauptaufgabe Ihrer Väter. Ihre Verantwortung geht in die Zukunft! Überlegen und handeln Sie mit bei den in unserem Lande anstehenden Problemen.

Das Beispiel dieser Gedenkstätte fordert:

Wehren Sie den Anfängen totalitärer, autoritärer und elitärer Verengung!

Streiten Sie für die Freiheit, die immer auch die Freiheit des Andersdenkenden ist!

Dieser Tag und das Tun der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 ist für uns eine unauflösbare Verpflichtung.