"Wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter."

Karl Meyer

„Wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“

Predigt von Pater Provinzial Dr. Karl Meyer am 20. Juli 1993 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Schrifttexte: Genesis 12, 1-4a;

Matthäus 12, 46-50 (Evgl. vom Dienstag der 16. Woche im Jk)

Als Jesus mit den Leuten redete, standen seine Mutter und seine Brüder vor dem Haus und wollten mit ihm sprechen. Da sagte jemand zu ihm: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir sprechen. Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.

Am Anfang möchte ich an zwei „apokalyptische“ Geschehnisse erinnern, die 50 Jahre her sind und deren wir gedenken: Anfang 1943 Stalingrad und Ende Juli das „Unternehmen Gomorrha“ der Alliierten über Hamburg, das erste Erleben des totalen Krieges, den Goebbels beschworen hatte. Schrecklich die große Zahl der Opfer! Aber schon vorher waren zu viele Opfer des Systems geworden, andere hatten ihr Leben und ihre Freiheit schon bewusst geopfert.

Manche hatten trotz schwerer Konsequenzen und Bedrohungen für sich und ihre Familien ihr Knie nicht gebeugt. Es gab noch eine katholische Arbeiterbewegung mit mehr als 20 000 Mitgliedern.

Vor 50 Jahren aber wurde der Knoten, der schon lange geflochten war, zusehends geschürzt. Vieles kam ans Tageslicht, was man sich vorher verheimlichen konnte. Der Widerstand fand sich klarer. Mit dem 20. Juli 1944 begann dann das letzte Kapitel der Apokalypse, das letzte Aufdecken von Recht und Unrecht.

Alle, die mit dem 20. Juli in Verbindung standen, sind in dieser Apokalypse, dieser aufdeckenden Geschichte zu offenkundigen Zeugen für das andere Deutschland bestimmt gewesen, viele darüber hinaus noch zu leuchtenden Zeugen für Gott und das Werk der Erlösung und Befreiung unseres Herrn Jesus Christus. Denn er baut sein Reich der Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe nicht auf Macht, sondern auf Zeugen auf. Mit ihnen allen sind wir heute vereint.

Was will uns das Wort der Schrift und das Evangelium sagen, das uns in der liturgischen Ordnung auf diesen Tag zugedacht ist?

Es spricht uns von der Familie. Es geht selbstverständlich davon aus, dass die Familie für jeden Menschen ganz wichtig ist. Auch Jesus, der menschgewordene Sohn Gottes, wird in eine Familie geboren, hat Eltern und Verwandte.

Familie ist in der Tat etwas sehr Wichtiges für unser Leben. Sie ist Gottes Ursprungsgabe für die Menschen.

Sie ist der Schutz vor äußeren Angriffen. Sie ist der Raum, auf den wir immer zurückfallen können, in dem wir in guten und bösen Tagen geborgen sind. Deswegen ist die Familie die große Kraftquelle.

Die Familie hat einen Vorrang bei der Gestaltung unseres Lebens. Sie spürt und weiß, was für die Menschen einer bestimmten Familie lebensdienlich und zumutbar ist, und leitet uns entsprechend an.

Es könnte so scheinen, als sei die Familie besonders nötig für die Kinder und für die irgendwie Bedürftigen. Die Familie ist aber gerade auch für die Erwachsenen wichtig.

Sie ist der Ort, wo wir im Sinn verwurzelt sind, wo wir ursprünglich spüren, dass wir leben dürfen, nicht nur Leben empfangen, sondern auch schenken, dem Leben dienen dürfen, wo wir in neue Dimensionen unserer Person hineinwachsen dürfen.

Es ist deswegen gar nicht verwunderlich, zu sehen: Um der Familien willen haben die Leute des Widerstandes alles gewagt.

Um derentwillen, durch die sie sich dem Volk am innigsten verbunden fühlten, haben sie sich für ein besseres Deutschland eingesetzt. Umgekehrt haben ihnen die zu befürchtenden Folgen für ihre Familien Gewissensqualen bei ihrer Entscheidung bereitet.

Das Wohlergehen ihrer Familien stand ihnen nachher über aller persönlichen Not. Ich habe das gerade so deutlich in den Briefen des Arbeiterführers Nikolaus Groß aus der Gefangenschaft an seine Frau und seine Kinder gelesen. Die Familien waren ihnen in allem auch der sicherste Rückhalt.

Die schlimmen Folgen des Fehlschlags am 20. Juli haben nicht nur Einzelne, sondern die Familien der Verschwörer betroffen. Familien sind in Sippenhaft genommen worden und haben auch noch nach dem Krieg Nachteile erlitten.

Heute ist es schön, zu sehen: Hier in Berlin kommen am 20. Juli die Familien zusammen, treffen sich. Junge Menschen werden in Verbindung gebracht zur Geschichte ihrer Eltern und Großeltern.

Die Heilige Schrift schätzt die Familie hoch. Aber sie bleibt nicht bei dieser Auskunft stehen. Sie sagt uns auch:

Die Familie ist nicht das letzte Kriterium unseres Handelns.

Die Familie ist nicht der letzte Raum, in dem wir uns bergen dürfen.

„Zieh fort aus deinem Land, aus deinem Volk und aus deinem Vaterhaus, und geh in das Land, das ich dir zeigen werde“, hört Abraham von Gott. Und darin, dass du diesem Wort folgst, sollst du ein Segen sein. In deinem Namen sollen sich alle Völker der Erde segnen. Ganz Israel steht unter diesem Wort und weiß um seine letzte Wahrheit. Propheten wie Amos erleben es hautnah.

Bei Jesus finden wir den Eingriff Gottes in die Familie noch einmal überdeutlich. 30 Jahre ist er der Sohn des Zimmermanns, und dann geht er plötzlich weg. Seine Familie versteht es nur schwer, dass er seinen besonderen Weg vor Gott gehen will und muss und sich damit auch in Gefahr begibt. Sie wollen mit ihm reden, ihn zurückholen. Aber er weist sie zurück. Und in seinem Weg wird er zum unwiderruflichen Segen für die Menschheit.

Die christliche Frömmigkeit kennt das Votivbild: Jesu Abschied.

Jesus nimmt Abschied von seiner Mutter. Er geht, und sie gibt ihn frei für seinen Weg. Die Begnadete wird Teil seines Weges. Maria steht unter dem Kreuz. Die Mutter Jesu und seine Brüder finden wir dann wartend auf den Geist Jesu, bereit, eingewiesen zu werden auf den Weg.

Solche Votivbilder reden nie allein von den Menschen der Bibel. Sie reden noch mehr von der eigenen Not in solchen Konflikten zwischen der Mutter, die die Familie vertritt, und dem Kind, das eine Berufung getroffen hat, und bekennen sich zur Stimmigkeit des biblischen Vorbildes.

Nicht nur einzelne Menschen sind berufen, die christliche Gemeinde versteht sich als „ekklesia“, die Herausgerufene. Sie ist die Gemeinschaft derer, die von Gott, jeder und jede auf seine/ihre Weise, aus jeder denkbaren menschlichen Gemeinschaft, aus jedem menschlichen Zusammenhang herausgerufen worden sind.

Wie so etwas in unserem Jahrhundert mit seinen ideologischen und diktatorischen Systemen aussieht, haben uns die Zeugen des Widerstandes gegen Hitler gezeigt.

Was das bedeutet, erleben wir von Ferne mit, wenn wir in den Abschiedsbriefen lesen, wir dürfen ahnen, was die Mitte der Abschiedsgespräche der Männer mit ihren Frauen war.

Manche haben bewusst aus dem Glauben Abschied genommen, haben ihren Abschied eingezeichnet in den Abschied Jesu von seiner Mutter, sind voraufgegangen in ein neues Leben. Frauen, Eltern und Geschwister, Töchter und Söhne haben sie mit Schmerzen freigegeben.

Sie sagen uns immer wieder:

Letzter Beweggrund des Handelns ist immer der Ruf Gottes.

Letzte Bergung des Lebens kann kein Mensch leisten, letzte Bergung des Lebens, des eigenen wie des Lebens derer, die zurückgelassen werden müssen, ist bei Gott.

Wie ist unsere Lage heute, 49 Jahre – sieben mal sieben Jahre – danach?

Das Leben geht weiter. Neue Generationen sind gekommen, leben in ihren Familien in einer neuen Welt, lange Zeit in einer Welt, die immer mehr bot, heute in einer sich wandelnden Welt.

Jede Familie hat zwar ihre Denk- und Redeweisen, ererbt von den Erfahrungen und Weisen der Eltern und bewahrt damit einen Reichtum. Sie stehen aber nicht isoliert da. Die Denkweisen der Zeit färben immer mehr ab, Schlagworte, geworden aus Halbwahrheiten, durchwirken unsere Denkweisen im Hintergrund. Und mit unseren vielfältig erworbenen Denk- und Redeweisen und den daraus folgenden Handlungen gestalten oder verunstalten wir unsere Welt.

Deswegen stellt sich die Frage: Wo sind die Quellen unseres Denkens? Aus welchen Quellen trinken wir? Woher holen wir uns Trost, Freude und Kraft für unser Leben?

Sind uns die Taten und Worte der Zeugen, besonders derer, die zu unseren Familien gehören, Trost geworden, Trost geblieben, zur Ermutigung für unseren Kampf für das Leben? Gelten sie uns als gelungene und damit richtungweisende Antworten auf das Wort Gottes in Jesus Christus?

Sind unsere eigenen Worte, wenn wir sie im Tagesgeschäft sprechen, nachgebildet den Worten und Taten derer, die Zeugnis abgelegt haben für Recht und Freiheit der Mitmenschen? Gelten uns ihre Bekenntnisse als Maßstab unseres eigenen christlichen Handelns?

Welche Sprachspiele lernen unsere Kinder und Kindeskinder?

Sind wir noch fähig, Ort für Gottes Geist zu sein, der in kritischen Situationen aus Menschen spricht, die das Wort nicht mehr haben?

In der Tat ist die Diskussion darüber angezeigt, was „anständig“ und „unanständig“ ist, wie gestern Abend gefragt wurde. Es geht dabei aber letztlich um die Frage, was vor Gott, der ein Freund des Lebens aller Menschen ist, heute „ansteht“.

Ist beispielsweise „Asyl“ überhaupt das richtige Schlüsselwort für die Fragen, die die weltweite Not der Menschen uns stellen? Verstellen wir uns mit der „Asyl-Debatte“ nicht den Blick für die durch die Entwicklung der „einen Welt“ anstehenden Fragen?

Geht es darum, wen wir wegen drohenden Verlustes von Gut und Leib und Leben bei uns zulassen unter der heimlichen Vorgabe, dass unsere Lebensperspektiven nicht angetastet werden? Geht es nicht vielmehr um das Teilen der Lebensmöglichkeiten mit vielen, die nichts haben?

Wie viele von den Männern und Frauen des Widerstandes haben in jüngeren Jahren ihr Leben aufs Spiel gesetzt, das Leben mit anderen geteilt, die Hälfte des Lebens weggegeben! Nicht nur die, die getötet wurden, sondern auch die Frauen und Kinder, für die sie das Leben waren!

Für wie viele Jahre brauchen wir demgegenüber das Auskosten aller Möglichkeiten des äußeren Lebens, bevor wir einräumen, wir seien nicht um das Leben betrogen worden?

Denken wir in West und Ost nach wiedergeschenktem Leben in Freiheit in Deutschland an das Teilen des Lebens oder nur an Rechte und Ansprüche, die wir mit Zähnen und Klauen verteidigen?

Lassen wir uns herausfordern aus den Geborgenheitsräumen unserer hergebrachten – von unserem Bild der Familie geprägten – Überzeugungen in den Raum letzter Verantwortung vor Gott, vor seinem Interesse am Leben jedes Menschen? Kann uns sein Ruf überhaupt noch treffen, herauszukommen in seine Weite, oder haben wir uns bereits zu sehr eingerichtet?

Vieles entscheidet sich in unseren Familien.

Die Familie ist Gottes vorgegebener Raum, in dem Leben erfahren, erspürt, verkostet werden darf und soll, in dem Sicherheit erworben wird, dass ich in Liebe gemeint bin.

Die Familie wird Gottes eigentlicher Raum, wenn sie – im Geiste Gottes – zur „ekklesia“ wird, wenn sie sich auf die Spur der Herausgerufenen begibt.

Wir feiern hier unter den Gestalten des gebrochenen Brotes und des verteilten Weines Jesu ureigenen Tod:

Das war nicht ein Unglücksfall, ein ihm widerwillig abgenötigter Tod, sondern ein freiwillig für die Menschen angenommener Tod, ein Tod für uns, ein geteiltes und verschenktes Leben.

Sein Tod war nicht ein ins Nichts hinein verschenktes Leben, sondern Jesus hat den Tod immer als Hingang zum Vater verstanden. Er ist auf ihn zugegangen mit der Hoffnung auf neues Leben.

Wir erinnern uns auch derer, die unter dem Kreuze standen, und mit Jesu Tod alles verloren. Es waren fast nur Frauen. Sie haben nach seinem Tode nicht von ihm gelassen – und durften als erste erfahren, dass Er lebt ...

Wir feiern hier unter diesen Haken den in Christus eingeschriebenen Tod von Männern und Frauen für uns.

Wir gedenken derer, die man hier und anderswo aufgehängt und ermordet hat. Wir gedenken hier des lebendigen Mitsterbens von Eltern mit ihren Kindern, von Ehefrauen mit ihren Männern, von Töchtern und Söhnen mit ihren Vätern. Die Wunden und Narben bleiben, sie können schmerzen, aber im Lichte der Auferstehung Jesu Christi leuchten auch sie.

Möge aus unserer Teilnahme am Opfer Christi – und am Mit-Opfer seiner Zeugen – Sinn für rechtes Reden und Denken, Geist und Mut für rechtes Handeln und Segen für die Zukunft unseres deutschen Volkes und der Menschheit erwachsen.







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