"Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Freund sein."

Michael Popke

„Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Freund sein.“

Predigt von Pfarrer Michael Popke am 20. Juli 1990 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,

Trotz Auschwitz, trotz Terror und Gewalt in der Welt, trotz Leiden und Tod sei die Liebe und die Menschenfreundlichkeit Gottes mit uns allen.

Amen.

Lassen Sie mich zu Beginn einige persönliche Bemerkungen machen:

Es ist das erste Mal, dass ich hier in der Hinrichtungsstätte Plötzensee an einer Gedenkfeier für die Opfer des 20. Juli 1944 und vieler anderer namhafter und namenloser Opfer des Widerstands teilnehme. Ich wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und in meinem Elternhaus – wie in vielen anderen auch – waren Nationalsozialismus und Widerstand gegen ihn kein Thema. “Vieles haben wir doch gar nicht gewusst“ wurde mir gesagt. Worte, die wir heute auch in der DDR bezüglich ihrer Vergangenheit hören. Erst als ich später auf die Sophie-Scholl-Oberschule ging, kam ich durch Gedenkfeiern und Geschichtsunterricht in Berührung mit dem, was sich zwischen 1933 und 1945 in und durch Deutschland abgespielt hat.

An vielen Schulen fand zu jener Zeit kaum eine echte Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte statt. Beim Thema „Widerstand“ hatte ich allerdings den Eindruck, dass er für die damalige Generation eher eine entlastende Funktion hatte: „Es gab doch auch diese Deutschen, nicht alle folgten Adolf Hitler nach.“

Nun bin ich Seelsorger in der Jugendstrafanstalt Berlin, nur wenige Meter von dieser Stätte des Grauens entfernt. Als Gefängnisseelsorger fühle ich mich in der Nachfolge Harald Poelchaus, der hier Tausende auf ihrem letzten Lebensweg begleitet hat und unter schweren Bedingungen auch sonst Widerstand geleistet hat, wo Menschen in Gefahr waren.

Ich kann mich nur verneigen vor all denen, die in der Zeit des Dritten Reiches aus sehr unterschiedlichen Motiven der Gewaltherrschaft versucht haben zu widerstehen und dabei Ihr Leben riskiert oder verloren haben. Vor 1933 und nach 1945 hat es nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen der Welt staatliche Gewalt und Unterdrückung gegeben, die große Opfer gefordert haben. Ganz gleich, ob sie uns namentlich bekannt, oder eher namenlos geblieben sind: Auch ihrer wollen wir heute gedenken.

Ich habe das Glück, unter anderen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen leben zu können und ich frage mich heute, ob ich den Mut hätte, alles aufzugeben, sogar mein Leben, um einem menschenverachtenden System ein Ende zu bereiten. Diese Frage hat mich motiviert, mich mit dem Text aus dem Lukasevangelium auseinander zu setzen, den ich vorhin verlesen habe.

Jesus sagt zu denen, die ihm folgten: „Keiner kann mein Freund sein, wenn er nicht zuvor alles aufgibt, was er hat. Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Freund sein“.

Es geht um die Nachfolge Christi und den Widerstand gegenüber allem, was dem entgegensteht. Ganz sicher wird Nachfolge und Widerstand zu allen Zeiten einen anderen Charakter tragen und anders definiert werden müssen. Die Situation, die Jesus vorfand; ist mit der heutigen nicht vergleichbar. Was jedoch bleibt, ist die Forderung Jesu: Er verlangt von uns eine klare Entscheidung für ihn und seine Sache. Er macht darauf aufmerksam, dass diese Entscheidung Konsequenzen hat und von daher wohl bedacht werden muss.

Wenn ich mich für den Frieden entscheide, kann ich nicht gleichzeitig Waffen produzieren. Wenn ich mich für die Erhaltung der Schöpfung einsetze, kann ich nicht gleichzeitig Atomkraftwerke mit einem erheblichen Risiko bauen, Wasser und Luft verunreinigen und freie Fahrt für freie Bürger fordern. Wenn ich mich dafür entscheide, meine Mitmenschen zu achten, zu akzeptieren und zu lieben, dann kann ich nicht gleichzeitig Teile von ihnen ausgrenzen, verachten, verfolgen, abschieben oder sie in ihren Rechten beschneiden.

Jesus erwartet von uns eine klare Entscheidung von denen, die seine Freunde sein oder werden wollen; eine Entscheidung für ihn und seine Sache, eine Entscheidung gegen alles, was dem zuwiderläuft. Jesus erwartet von seinen Freunden, alles aufzugeben, was sie besitzen. Besitz hat immer etwas mit Egoismus, Ausgrenzen und Abgrenzen zu tun. Besitz bedeutet, sich etwas zu eigen machen, Anspruch erheben auf etwas oder jemanden. Besitz hat auch etwas zu tun mit Bequemlichkeit und Gewohnheiten, die man ungern aufgibt, ja sogar selbstgerecht verteidigt. Wir besitzen eine Meinung zu Personen und Sachverhalten, von denen wir nur ungern abrücken; wir meinen oft im Recht zu sein und lassen uns nur widerwillig vom Gegenteil überzeugen.

Wir besitzen also sehr viel mehr als nur materielle Güter, die selbstverständlich auch sozialer und gerechter zu verteilen sind.

Jesus möchte mit seiner Forderung nach einer Entscheidung andere Maßstäbe setzen. Er wendet sich in unserem Text an die Menschen, die mit ihm laufen, die sog. Mitläufer. Davon gibt es in unseren Kirchen leider auch genug. Jesus sagt nein zu denen, die behaupten, sie könnten auf die Gemeinschaft der Gläubigen verzichten. Er sagt nein zu denen, die das Christentum nur als Verzierung im familiären oder gesellschaftlichen Rahmen verstehen. Er sagt nein zu denen, die vom Glauben eine Verbesserung ihrer eigenen Lebensqualität erwarten oder lediglich Hilfe zur Selbstverwirklichung. Er sagt nein zu denen, die nur von Glaubenserlebnissen reden, für die der Glaube nichts anderes ist als eine Feststunde der Seele. Er sagt nein zu denen, für die Nachfolge der Sonntagsspaziergang durch blumige Matten ist, losgelöst vom Alltag.

Jesus möchte aus Mitläufern Freunde machen, Bauleute für das Reich Gottes. Dazu möchte er keine Teilzeitbeschäftigten. Jesus beansprucht unsere ganze Person – allerdings nicht so wie Diktatoren oder religiöse Gurus. Er tut dies allerdings nicht einfach im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Es soll und darf eine Gemeinschaft sein auf der Basis des Vertrauens und der Liebe. Liebe setzt Prioritäten und versetzt in neue Dimensionen. Jesus möchte uns befreien von falschen Ansprüchen und Zwängen, die von uns erwartet werden bzw. denen wir unterliegen. In einer Zeit von Überforderung, Belastungen und Vereinnahmung stellt sich zunehmend die Frage: Wer verfügt letztlich über mich, über meine Zeit und meine Kraft? Wozu sind wir auf der Welt, welchen Sinn hat unser Leben? Jesus befreit uns von uns selbst, von Zwängen, die wir uns selbst auferlegen, von selbstgesteckten Zielen, die wir uns haben vorsetzen lassen: Selbstbefreiung – Leistung – Erfolg – Einfluss – Geld. Jesus mutet uns zu, eine neue Welt mit aufzubauen und Neues zu wagen. Er wendet sich gegen Resignation und Hoffnungslosigkeit. Jesus mutet uns zu, für Gerechtigkeit, Versöhnung und Frieden zu kämpfen. Er mutet uns zu, uns nicht zu fürchten, keine Kompromisse oder einen faulen Frieden zu schließen. Jesus mutet uns zu, am rechten Ort nein und am rechten Ort ja zu sagen.

Der Kirche, die sich als Nachfolgerin Jesu versteht, fällt eine solch klare Entscheidung oft schwer; zu sehr ist sie verflochten in die Strukturen unserer Gesellschaft. Deshalb ist es hoffnungsvoll, dass es immer wieder einzelne Menschen oder Gruppen gegeben hat, die beispielhaft gehandelt und den Verführungen eines bequemen und angepassten Lebens widerstanden haben – als Soldat oder Zivilist, als Laie oder Pfarrer, als Arbeiter oder Intellektueller, als Katholik, Protestant oder Kommunist. Aus sehr unterschiedlichen Motiven und mit Zielen, die vielleicht z.T. nicht meine sind, haben sie gegen Gewalt, Terror und Unmenschlichkeit aufbegehrt und sich damit bewusst oder unbewusst in die Nachfolge Jesu begeben.

Es ist hoffnungsvoll, dass es auch heute einzelne Menschen und Gruppen gibt, die etwas tun gegen einen wieder stärker werdenden Nationalismus in unserem Land, gegen Fremdenfeindlichkeit – auch in unserer Gesetzgebung –, gegen die Zerstörung der Schöpfung, gegen den weiteren Bau von Vernichtungswaffen, gegen Arbeitslosigkeit, gegen einen weiteren Sozialabbau, gegen wirtschaftliche Ungerechtigkeit, die die Reichen reicher und die Armen ärmer werden lässt und auch gegen Fehlentwicklungen und -entscheidungen in unseren Kirchen.

Wenn wir uns heute all derer erinnern, die Opfer von Gewalt und Terror geworden sind, die Widerstand geleistet haben gegenüber denen, die sie in ihre Nachfolge gestellt oder gezwungen haben, dann sind sie es, die uns heute in einem demokratischen Staat dazu verpflichten, dort Widerstand zu leisten, wo Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung auf dem Spiel stehen.

Die Größe und Kraft einer Demokratie erweist sich darin, inwieweit sie bereit ist, Kräfte des Widerstands nicht nur als Angriff, sondern als Chance zur Veränderung zu begreifen. Ein Beispiel aus meinem Arbeitsbereich: Wenn GefängnisseelsorgerInnen den Strafvollzug kritisieren, dann wollen sie den Staat nicht angreifen, sondern ihn motivieren, Reaktionsformen zu entwickeln, die einem Straftäter tatsächlich eine neue Lebensperspektive eröffnen.

Was aber geschieht mit denen, die der Macht und dem Einfluss nicht widerstehen konnten und können und Menschen in ihre Nachfolge gezwungen haben oder zwingen? Sie sollen sich verantworten müssen, aber sie sollen auch – und dies sage ich als Christ – die Erfahrung der Vergebung machen können. Ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte: Ein Pastor, dessen Kindern eine adäquate Lebensentwicklung durch den SED-Staat versagt wurde, hat den letztlich hauptverantwortlichen Erich Honecker in seinem Haus aufgenommen, da seine früheren Freunde ihm kein Obdach bieten wollten.

Was geschieht mit denen, die Angst haben, alles zu verlieren, die sich anpassen, die den Weg des geringsten Widerstands gehen? Sie sollen nicht von ihrer Mitverantwortung entbunden werden, aber die Chance erhalten, umzudenken und neue Wege zu beschreiten. So verstehe ich auch meine Arbeit als Gefängnisseelsorger: dem eine Chance zu geben, der einen Fehler begangen und Schuld auf sich geladen hat.

Ich wünsche uns allen, dass wir das, was wir haben, woran wir gewöhnt sind und was uns auf einen falschen Weg bringt, aufgeben und uns an den Maßstäben Jesu orientieren. Dieser Weg ist nicht leicht und mit vielfältigen Konflikten verbunden, aber wenn wir auf die Kraft Jesu vertrauen, uns Bündnispartner suchen und den Weg konsequent gehen, dann werden wir am Ende sagen können: Es hat sich gelohnt, Jesus nachzufolgen.

Amen.