Aufstand und Aufschrei zugleich

Peter Struck

Aufstand und Aufschrei zugleich

Gedenkrede des Bundesministers der Verteidigung Dr. Peter Struck am 20. Juli 2003 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie im Namen der Bundesregierung.

Wir gedenken heute der 59. Wiederkehr des 20. Juli 1944 - des Tages, an dem sich der Widerstand gegen Adolf Hitler ein letztes Mal sichtbar erhob, um Deutschland von der nationalsozialistischen Diktatur zu befreien.

Nach dem Anschlag auf Adolf Hitler durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg, bündelten sich hier in Berlin die Anstrengungen, die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten abzuwerfen und das Leid in Deutschland und Europa sowie in den okkupierten Ländern schnell zu beenden.

Die Frauen und Männer des 20. Juli bestritten einen nahezu aussichtslosen Kampf gegen das Terrorregime, das unendliches Unheil über Deutschland und seine Nachbarn gebracht hat. Obwohl schon bereits wenige Stunden nach dem Sprengstoffanschlag im Führerhauptquartier klar wurde, dass das Attentat missglückt war, warfen die Attentäter ihr Leben und ihre Existenz in die Waagschale, um das nahezu Unmögliche doch noch zu erreichen.

Sie taten dies, um vor sich selbst bestehen zu können, um ihren Staat von dem menschenverachtenden Antlitz zu befreien und den Menschen in Deutschland ein freies, selbstbestimmtes und würdiges Leben zu ermöglichen.

Der 20. Juli 1944 war Aufstand und Aufschrei zugleich. Er gab dem Widerstand vieler Deutscher, die sich von diesem Regime abgestoßen fühlten, selbst aber zum Handeln zu schwach waren oder nicht über die notwendigen Mitte verfügten, Stimme und Gesicht.

Die Worte, das Leben und die Ideale der Frauen und Männer des 20. Juli und der vielen anderen Vertreterinnen und Vertreter des Widerstandes sind heute der Öffentlichkeit zugänglich. Viele von ihnen wurden hier in Plötzensee hingerichtet.

Ihr Ziel, den Diktator zu beseitigen, haben sie nicht erreicht.

Aber sie haben den Widerstand sichtbar verkörpert, sie haben dem späteren Deutschland Selbstachtung gegeben und dem geistigen Wiederaufbau nach dem Ende des Schreckens den Weg mit bereitet. Manchmal erst mit Verzögerung, aber schließlich mit Nachdruck und über alle politischen Grenzen hinweg anerkannt. Ohne den Einsatz der Frauen und Männer des Widerstandes wäre Deutschland, so wie wir es heute kennen, nicht vorstellbar.

Wichtige Impulse für die Gestaltung unseres Grundgesetzes kommen vor hier - aus Plötzensee.

Das Menschenbild der Verfassung von 1949 findet sein Vorbild auch in den Menschen, die für sich entschieden haben, der Diktatur die Stirn zu bieten und das Leben zu opfern.

Die der Unterdrückung und Unfreiheit, dem Rassenwahn und der Religionslosigkeit entgegen traten, die für ihre Überzeugung kämpften und dabei auch das eigene Leben einsetzten.

Sie haben mit ihrem Opfermut über das Ziel, die Beseitigung des Diktators und seiner Helfer, hinaus gewirkt - sie haben Deutschland und seinen Menschen eine Hoffnung auf Vergebung geschenkt. Sie haben nationale und internationale Anerkennung erreicht, sie haben dem anderen Deutschland ein Gesicht gegeben. Es ist uns mehr als Verpflichtung, ihrer zu gedenken.

Wir müssen Idee, Wagemut und Menschenbild weiterleben und weitergeben, sonst zerfällt die Erinnerung in Rituale. Sie ist aber Aufforderung zur Vermittlung. Daneben dürfen die vielen Frauen und Männer nicht in Vergessenheit geraten, die abseits des 20. Juli ihren persönlichen Widerstand geleistet haben. Deutsche, die mit Wort und Schrift zum Widerstand aufgefordert oder die Verbrechen angeprangert haben, die Verfolgte und Bedrängte versteckt und versorgt haben sowie diejenigen, deren Aktionen sich gegen die Stützen des staatlichen Terrors richteten. Beispielhaft dafür stehen:

Adam Kuckhoff, Dramaturg am Staatlichen Schauspielhaus in Berlin, der im August 1943 sein Leben in Plötzensee wegen eines Flugblattes gegen den Überfall auf die Sowjetunion verlor.

Elisabeth von Thadden - gemeinsam mit anderen im Kreis um Johanna Solf hat sie deutschen Juden bei der Flucht geholfen - im September 1944 wurde sie hier ermordet.

Julius Leber - er wurde im Januar 1945 an diesem Ort hingerichtet, weil er, der Offizier im Ersten Weltkrieg und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, zusammen mit den Angehörigen des Kreisauer Kreises Ideen zur Zukunft Deutschlands nach dem Ende der Nazi-Diktatur entwickelte.

Meine Damen und Herren,

in wenigen Wochen jähren sich zum 60. Mal die sogenannten Blutnächte von Plötzensee.

Sie waren eine nicht erwartete Steigerung der bis dahin hier verübten Verbrechen. Unter Umgehung auch noch der letzten Reste von Würde, wurden 186 Männer in der Nacht vom 07. auf den 08. September 1943 gehängt - ohne laufende Gnadenverfahren abzuwarten, ohne die Möglichkeit einen letzten Wunsch äußern zu können und ohne Begleitung durch einen Geistlichen.

Es war ein menschenverachtendes Abschlachten, dem in den folgenden Nächten viele weitere Menschen zum Opfer fielen. Seinen Ausgang hatte das Morden nicht zuletzt in ebenso unwürdigen wie jeglichen rechtlichen Maßstab höhnenden Verfahren vor dem Volksgerichtshof genommen.

So fand zum Beispiel der Kaufmann William Bauer aus Meißen als eines der ersten Opfer hier den Tod, weil er - angeblich - einem Bäckerehepaar gegenüber seine Sorge vor dem „Kram mit Hitler“ ausgedrückt haben soll.

Und der Radiohändler Alfred Althus musste im Alter von 55 sterben, weil er einen Briefwechsel mit einem polnischen Geschäftspartner führte, in dem er sich nach den Zuständen in Posen erkundigte.

Die Hinrichtungen in Plötzensee endeten erst im April 1945 - bis zum Tag der Befreiung haben fast 2.900 Frauen und Männer hier ihr Leben verloren, ohne dass ihnen ein auch nach damaligen Maßstäben akzeptables Gerichtsverfahren zugestanden wurde, weil in Deutschland ein verbrecherisches Regime die Macht ergriffen hatte und unserem Volk die Kraft fehlte, es abzuschütteln.

Wir dürfen genauso wenig die vielen hundert ausländischen Bürgerinnen und Bürger vergessen, die aus ihrer Heimat verschleppt wurden und hier im deutschen Namen ermordet wurden.

Wir gedenken der 245 Franzosen, die hier ermordet wurden. So verlor Johann Machwirth am 30. Juli 1943 sein Leben, weil er vor seiner Einbürgerung in Frankreich politisch für eine Separierung des Rheinlandes eingetreten war.

Wir erinnern an den aus dem polnischen Borki stammenden Kleinbauern Josef Augustyniak und seine Frau Veronika - die im September 1941 dem aus einem deutschen Gefangenenlager entflohenen sowjetischen Kriegsgefangenen Fiodor Asarow Unterkunft gewährten und ihn mit Lebensmitteln versorgten. Dafür wurden sie am 15. August 1942 hingerichtet. Sie stehen für 253 Polen, die hier ermordet wurden.

Vergessen bleiben auch nicht die über 670 tschechischen Widerstandskämpfer aller politischen Gruppen, wie Josef Srstka, Gustav Svoboda, Alois Machacik oder Vaclav Adam, die hier am 1. Juni 1943 hingerichtet wurden.

Meine Damen und Herren,

Plötzensee mahnt aber nicht nur, der Opfer, ihrer Familien und des Leides der Verfolgten und Drangsalierten zu gedenken.

Wir müssen uns zugleich die Frage stellen, wie Deutsche zu den Erfüllungsgehilfen wurden, ohne die das Regime seine Unterdrückung und seinen Terror nicht hätte ausüben können und wie solch einer Entwicklung dauerhaft und wirksam in Deutschland und anderswo vorgebeugt werden kann.

Bundespräsident Rau hat anlässlich der Eröffnung des „Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände“ (4. November 2001) gesagt, dass aus „Wissen allein weder politische Moral noch ethische Überzeugungen entstehen.“

Es ist unsere Verpflichtung, jede Generation mit den Verbrechen der Zeit von 1933 bis 1945 zu konfrontieren. Zugleich müssen wir den Jüngeren geeignetes geistiges und ethisch-moralisches Rüstzeug vermitteln, um niemals mehr den Vorwurf zu hören, in Deutschland sei nur ein „Widerstand ohne Volk“ möglich gewesen.

Ohne Zweifel haben sich viele Deutsche jeden Alters und jeder beruflichen und sozialen Herkunft ins System der Bespitzelung und Verfolgung eingefügt. Und ohne Zweifel ist es für den Einzelnen unter den Bedingungen einer Diktatur und eines Überwachungssystems schwierig und lebensgefährlich gewesen, sich aus eine kritisch-abweisenden Haltung zu einer bewussten Auflehnung gegen das Bestehende zu entscheiden.

Dietrich Bonhoeffer hat das 1943 in seinen Briefen aus der Haft in Tegel als Unfähigkeit vieler Deutscher bezeichnet, „die Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag zu erkennen.“ „An ihre Stelle trat,“ wie der in den letzten Kriegstagen ermordete Theologe schrieb, „einerseits verantwortungslose Skrupellosigkeit, andererseits selbstquälerische Skrupelhaftigkeit, die nie zur Tat führte.“

Umso bemerkenswerter sind solche Beispiele, wie sie Berliner Frauen im März 1943 gegeben haben. Um die Freiheit ihrer verhafteten Ehemänner zu erzwingen, demonstrierten sie öffentlich in der Rosenstraße gegen den massiven Druck von Polizei und SS. Nach mehreren Tagen hatten sie ihr Ziel erreicht: Die gerade Inhaftierten kehrten zu ihren Familien zurück. Der Einsatz der Frauen ist ein Symbol von besonderer Zivilcourage und zugleich ein Indiz dafür, dass Formen des Widerstandes und offenen Ungehorsams im Deutschen Reich möglich waren, meist aber nur Einzelfälle blieben.

Im heutigen Deutschland ist eine Wiederholung der Geschehnisse von 1933 bis 1945 nicht vorstellbar. Selbstbewusst treten heute alte wie junge Mitbürgerinnen und Mitbürger für ihre Recht ein und nehmen ihre Pflichten wahr. Anders als noch bis zum Ende des Nazi-Regimes, ist sich unsere Gesellschaft über alle Schichten und Altersgruppen hinweg in den demokratischen Grundüberzeugungen einig. Dazu tragen sicher auch die jährlich wiederkehrenden, aufrichtigen Mahnungen in ganz Deutschland bei. Sie sind kleine Schritte auf dem Weg, den Bundespräsident Heuss 1954 mit dem Satz beschrieb: „Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung nicht eingelöst.“

Meine Damen und Herren,

Plötzensee und der 20. Juli sind mehr als ein stilles Gedenken an die Ermordeten, mehr als eine Erinnerung an die Täter - Tag und Ort sind auch eine Mahnung für uns, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung nach innen, unsere Demokratie zu schützen und zu bewahren, aber auch Verantwortung nach außen.

Die Abwehr von Terror und Gewalt ist eine Aufgabe, der sich Deutschland auch jenseits seiner Grenzen stellen muss. Die Herrschaft des Rechts und die Unverletzlichkeit der Menschenwürde sind feste Grundsätze deutscher Politik. Sie durchzusetzen, ist Ziel des großen Engagements Deutschlands in und für die internationale Gemeinschaft.

Es gilt, der Gewalt und dem Hass weltweit den Boden zu entziehen. Mit jeder Befriedung eines Krisenherdes, mit jedem Schritt im Kampf gegen Unterdrückung und Terror engen wir das Rückzugsgebiet derer ein, die im eigenen Machtkalkül Tausende ausbeuten, drangsalieren, verfolgen oder ermorden.

Vor diesem Hintergrund leisten die internationalen Einsätze der Bundeswehr, der Polizei und der vielen Hilfsorganisationen einen wertvollen Beitrag, immer mehr Menschen immer mehr Frieden und Stabilität zu ermöglichen.

Jeder einzelne deutsche Soldat, Polizist und zivile Helfer, unabhängig davon, ob er auf dem Balkan, in Afghanistan, in Afrika oder an anderer Stelle im Einsatz ist, weiß um die universale Gültigkeit eines Menschenbildes, das ganz wesentlich von gegenseitiger Achtung und Selbstbestimmung geprägt wird.

Die Streitkräfte stehen mit diesen Worten vor allem auch in der Tradition des militärischen Widerstandes. Die Männer um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg und die Generale Henning von Tresckow und Hans Oster haben mit ihrem Mut und ihrer Tatkraft beispielhaft ein Ethos gelebt, das den folgenden Generationen Vorbild und Richtschnur ist.

Graf Stauffenbergs Aufruf, der nach einem gelungenen Schlag gegen Hitler veröffentlicht worden wäre, enthielt die Passage: „Unserer Väter wären wir nicht würdig, von unseren Kindern müssten wir verachtet werden, wenn wir nicht den Mut hätten, alles, aber auch alles zu tun, um die furchtbare Gefahr von uns abzuwenden und wieder Achtung vor uns selbst zu erringen.“

Wir stehen hier heute in Plötzensee, um uns an die Frauen und Männer des Widerstands zu erinnern, die ihr Leben im Stillen oder unter den Augen der Öffentlichkeit eingesetzt und häufig genug verloren haben. Ihr mutiges Handeln im Angesicht der zahllosen unvorstellbaren Verbrechen hat den Deutschen einen Weg zurück in die zivilisierte Welt aufgezeigt

Wir sind voller Dankbarkeit für den Mut und die Opferbereitschaft derer, die dem Widerstand eine Stimme und Deutschland eine Zukunft gegeben haben.

Unser Gedenken ist tief und ernst.







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