"Bedenke das Ende"

Aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heraus, ruft der General der Artillerie, Walther von Seydlitz-Kurzbach, deutsche Soldaten zum Überlaufen auf, um so die Anti-Hitler-Koalition zu stärken und ein schnelles Ende des Krieges herbeizuführen. Er überlebt Krieg und Gefangenschaft und verbringt viel Zeit mit seinem ältesten Enkel, Wolfgang von Dallwitz. Dieser erinnert sich an sehr persönliche Erlebnisse und Erzählungen.

"Bedenke das Ende"
© Wolfgang von Dallwitz

Als mein Großvater 1955 aus sowjetischer Gefangenschaft nach Deutschland zurückkehrte, war ich 10 Monate alt.

Meine ersten Erinnerungen an ihn setzen nach seinem Umzug von Verden nach Bremen 1957 ein. Ich erinnere gemeinsame Gartenarbeit und Frühsport, mindestens 20 Minuten lang. Geistig und körperlich blieb er bis ins hohe Alter fit. Als ich 14 oder 15 Jahre alt war – und er immerhin an die 80 –, besiegte er mich bei einem Wettrennen. Er besuchte mich während meiner Studienzeit in Göttingen. 1973 fuhren wir zusammen für eine Woche nach England – da war er 85 Jahre alt. Alles machte er ohne sichtbare körperliche Anstrengungen.

In Bremen gingen wir in die Stadt einkaufen, Straßenbahn fahren, in der Konditorei Sandkuchen essen und ins Überseemuseum. Die meiste Zeit verbrachte er aber an seinem Schreibtisch. Dieser Schreibtisch beeindruckte mich, weil er so viele Sachen dort aufbewahrte, nicht nur jede Menge Briefpapier und Schreibutensilien: eine Reiterfigur des Reitergenerals Friedrich Wilhelm von Seydlitz zum Beispiel und ein Hufeisen von einem seiner früheren Pferde.

Pferde spielten auch in seinem zivilen Leben eine große Rolle. Er zeigte mir Bilder von Reitjagden, die er als Master über feste Hindernisse, Gräben und hohe Hecken anführte. Besonders begeistert war er von dem Besuch der amerikanischen und englischen Reiter-Mannschaften im Olympiajahr 1936 bei ihm in Verden.

Als kleines Kind schlief ich noch bei ihm in seinem Zimmer. Es wurde dann ein Paravent vor mein Bett gestellt und er legte ein Taschentuch über seine Tischlampe. Später fing er an, mir Sachen zu zeigen: Bücher, deren Bedeutung ich damals noch nicht erkannte, aber auch seine Orden und Verwundungen samt dazugehöriger Röntgenaufnahmen.

Morgens machte er immer das Frühstück und hörte dabei Nachrichten. Dabei durfte man ihn nicht stören, die Nachrichten waren ihm sehr wichtig. Meine Großmutter musste für ihn 180 Gläser Marmelade im Jahr einkochen, da er zum Frühstück immer ein halbes Glas verzehrte. Auch frisches Obst liebte er – beides sicher eine Folge seiner entbehrungsreichen langjährigen Haftzeit in der Sowjetunion.

Er erzählte viel von früheren Zeiten, über Familiengeschichte und Verwandtschaftsverhältnisse. Er erklärte mir, dass wir entfernt mit Kant verwandt seien und dass sein früheres Kindermädchen eine Enkeltochter des Dichters Matthias Claudius gewesen sei. Noch spannender waren für mich Vorfahren wie der Reitergeneral Seydlitz, der im Siebenjährigen Krieg in der Schlacht bei Rossbach zum Zeichen des Angriffs seine Pfeife in die Luft warf oder Florian von Seydlitz, der als Adjudant des General York die Konvention von Tauroggen mit abgeschlossen hatte. Ich konnte das alles geschichtlich noch gar nicht einordnen. Mein Großvater hatte Spaß an Zahlen und ein phänomenales Gedächtnis für Daten. Er brachte seinen Geburtstag, den 22.8.(1888) in Zusammenhang mit allen möglichen Ereignissen. Ein ganz besonderer Geburtstag war für ihn der 22.8.1944 im Lager Lunjewo.

Mein Großvater erzählte von seinen ersten Begegnungen mit Hitler und Göring, von Krieg und Gefangenschaft. Göring stieß ihn ab, weil er eine so unmilitärische “Fantasieuniform“ trug. Als er Hitler über die schlimme Lage beim Russland Feldzug und die schlechte Versorgung berichtete, habe dieser überhaupt kein Interesse gezeigt, nicht zugehört und sei zu ganz anderen Themen wie dem Essen und der Speisenfolge übergegangen. Dann kam Stalingrad. Ich erinnere mich vor allen Dingen, dass mein Großvater Generalfeldmarschall Paulus aufsuchte, um ihm zu sagen, dass es geboten sei selbstständig zu handeln. Paulus habe nur dagesessen und gesagt „Ich tue nichts“. Gerade diese Wendung „Ich tue nichts“ ist mir noch heute ganz deutlich im Ohr. Ein anderer Satz, der in meinem Gedächtnis nachklingt, ist die Reaktion meines Großvaters, als er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach einer „Gerichtsverhandlung“ erst zum Tode verurteilt und Stunden später dann zu 20 bis 25 Jahren Haftstrafe „begnadigt“ wurde. „Dann erschießt mich lieber gleich“, habe er gesagt.

Vom Nationalkomitee Freies Deutschland und vom Bund Deutscher Offizier sind mir kaum Erzählungen in Erinnerung. Ich fragte ihn einmal, ob er bereue, so gehandelt zu haben wie er es getan hat. Er antwortete nicht direkt. Er sagte, dass er den Russen zu sehr vertraut habe, als diese ihm zusagten, die Grenzen Deutschlands von 1937 zu respektieren. Er hat mich oft vor dem Kommunismus gewarnt, seine abschreckenden Erfahrungen mit dem System aus Krieg und Gefangenschaft geschildert.

Durch die Jahre in sowjetischer Gefangenschaft rettete er sich durch Auswendiglernen. Goethe zum Beispiel und lateinische Sprüche. „Prudenter agas et respice finem“ – „Was es auch immer sei, überlege es klug und bedenke das Ende,“ sagte er des Öfteren zu mir. Dabei schüttelte er mich ein bisschen an der Schulter, so als ob ich mir diese Erkenntnis ganz besonders einprägen sollte. Das Thema Gehorsam und Pflicht zum Ungehorsam ließ ihn nicht los. Auch hier beschrieb er mir den Reitergeneral Seydlitz als Vorbild, der eine Einflussnahme Friedrich des Großen in der Schlacht von Zorndorf mit den Worten abgewehrt habe: „Sagen sie dem König, nach der Schlacht stehe ihm mein Kopf zur Verfügung, in der Schlacht aber möge er mir erlauben, dass ich davon für seinen Dienst Gebrauch mache.“

Über die heftigen Reaktionen bei seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft nach Deutschland 1955 mit Beschimpfungen und Ausgrenzung seiner Person, hat er mir nie erzählt. Erst als ich nach seinem Tod – als erstgeborenes Enkelkind – sein Archiv übernahm, fand ich dort zahlreiche anonyme Schmähbriefe gegen ihn. Ich erinnere aber sehr gut, wie sehr er sich über das Erscheinen des Buches von Hans Martens 1971 „General von Seydlitz 1942-1945 – Analyse eines Konfliktes“ freute, das seine Rolle in dieser Zeit – aus seiner Sicht – richtig darstellte.

In den letzten Monaten vor seinem Tod baute er sichtlich ab. Er sah schlecht, konnte nicht mehr richtig lesen, ging langsam, vorsichtig und unsicher. Zuletzt besuchte ich ihn im März 1976 in Bremen. Wir gingen spazieren in einem Park in der Nähe der Friedrich Mißlerstraße. Ich musste ihn am Arm führen und er stützte sich auf einen Stock. Aber seine Erinnerungen waren nach wie vor klar und präzise. Als ich mich von ihm verabschiedet hatte, ging er die Treppe etwas hoch, hielt inne und sagte noch: „Junge, du bist auf dem richtigen Weg!“ Erst später wurde mir klar, dass er damit für immer von mir Abschied genommen hatte.

Eine Kurzbiografie von Walther von Seydlitz-Kurzbach und weitere Literaturhinweise finden Sie hier.