Bekenntnis zur Zukunft

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Kurt Neubauer

Bekenntnis zur Zukunft

Gedenkworte des Senators für Inneres und Bürgermeisters von Berlin Kurt Neubauer

am 19. Juli 1971 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Wir sind hier, um der Frauen und Männer des 20. Juli 1944 zu gedenken.

Wir, die wir die nationalsozialistische Gewaltherrschaft überlebt haben, bekunden mit diesem Gedenken Respekt und Dank. Der Respekt gilt der Gesinnung, mit der die Tat unternommen wurde, auch als die Aussicht auf Erfolg denkbar gering war.

Unser Dank wurzelt in dem Bewusstsein, dass die Frauen und Männer des 20. Juli vor der Geschichte und vor den Lebenden ein Zeichen für das andere, das bessere Deutschland gesetzt haben.

Wir würden allerdings den 20. Juli 1944 im Jahre 1971 total missverstehen, wenn wir nur der Tat und nicht der Prinzipien gedächten, die diese Tat bestimmten. 27 Jahre, also eine Generation später, müssen wir uns deshalb fragen, fragen lassen, was aus dem 20. Juli geworden ist.

Wir halten Reden, wir legen Kränze nieder – mit einem Wort: Wir pflegen die Erinnerung. Reicht das aus, um vor der inzwischen heranwachsenden Generation zu bestehen?

War es richtig, den 20. Juli immer nur mit feierlicher Würde und immer nur als Pflichtveranstaltung zu begehen?

In einer Zeit, in der nahezu alles in Frage gestellt wird, in der der Begriff „Reform“ in Gefahr ist, als Alibi für verquollene Ideologie und elitäre Ansprüche missbraucht zu werden, in einer solchen Zeit müssen wir daran erinnern, dass gerade eine Politik der Reformen der Maßstäbe und Vorbilder bedarf. Reformen gibt es nicht zum Nulltarif der ideellen Werte. Der 20. Juli, und darum geht es, wenn wir es ernst meinen mit unserem Dank und unserem Respekt, darf nicht im Museum der Geschichte abgestellt und alle Jahre wieder nur aus Pietät abgestaubt werden.

Ich zögere nicht, gerade hier, an dieser bedrückenden Stätte und bei diesem Anlass, in aller Deutlichkeit zu sagen, dass ich mit besonderer Sorge beobachte, wie aus der Scheu vor der Vergangenheit bei unseren älteren Mitbürgern mehr und mehr die Flucht aus der Geschichte bei einem Teil der jüngeren Generation wird. Freiheit, Recht und Ordnung werden immer häufiger diskutiert, als ob deren Sinn erst noch zu erfinden sei, als hätten nicht Generationen und Millionen von Menschen unter unvorstellbaren Opfern bis zum heutigen Tage dafür Zeugnis abgelegt.

Ich frage nicht: Wer stirbt für die Republik? Ich frage: Wer lebt für diese Republik?

Zu den gesicherten Erfahrungen der älteren Menschen in unserem Lande gehört das Bewusstsein, dass es zur Freiheit keine Alternative gibt und dass Freiheit nicht ohne Recht und Ordnung zu verwirklichen ist. Wir wissen, wie mühselig und glanzlos der demokratische Rechtsstaat sich darstellt, sich nur darstellen kann. Diktatur und Gewaltherrschaft locken mit Glanz und ihrer scheinbaren Fähigkeit, wirkungsvoller und entschlossener zu handeln. Nur allzu spät haben wir Deutschen begriffen, dass diese Handlungsfähigkeit immer zu Lasten der Menschen geht.

Lassen Sie mich diese wenigen Bemerkungen zum 27. Jahrestag des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft abschließen mit einem Appell an alle unsere Mitbürger, vor allem aber an die Jugend in unserem Lande: Wir stehen vor schwierigen und in ihrer Wirkung wahrscheinlich historischen Entscheidungen – in der Innen- wie in der Außenpolitik. Diese Entscheidungen gehen uns alle an und dulden es nicht, von einigen wenigen gemacht und von einer „schweigenden Mehrheit“ unbewegt hingenommen zu werden. Jeder in diesem Lande ist aufgerufen, an diesen Entscheidungen teilzunehmen.

Der 20. Juli 1944 bezeichnet ein Bekenntnis zur Zukunft, als es fast aussichtslos war, auf die Zukunft zu vertrauen. Der 20. Juli 1971 ist mehr als ein historischer Gedenktag, wenn wir ihn als einen Tag der Mahnung und Besinnung verstehen.






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19.07.1971
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