Das Vermächtnis der Widerstandskämpfer: Die politische Föderation Europas

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Eduard Adorno

Das Vermächtnis der Widerstandskämpfer: Die politische Föderation Europas

Gedenkrede des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium der Verteidigung Eduard Adorno am 20. Juli 1968 in der Bonner Beethovenhalle

In den „Grundsätzen für die Neuordnung Deutschlands“, die im Kreisauer Kreis erarbeitet worden waren, steht der Satz: „Das zertretene Recht muss wieder aufgerichtet und zur Herrschaft über alle Ordnungen des menschlichen Lebens gebracht werden.“ Und Carl Goerdeler schrieb im September 1944 in der Zelle, aus der heraus er den Weg zum Galgen antrat: „Die Persönlichkeitsrechte: Freiheit der Meinung, des Gewissens, der Religion, der Lehre, des Körpers müssen gegen jeden Eingriff, den nicht der Richter kraft Gesetzes verfügt, geschützt, durch Verfassung und Gesetz unter das Gemeinwohl geordnet werden ...“

Ich habe diese beiden Zitate ausgewählt, weil sie zwei fundamentale Werte ansprechen: das Recht und die Freiheit. Gedenkstunden, wie wir sie in der Erinnerung an den Kampf aufrechter Deutscher gegen Hitler und den nationalsozialistischen Unrechtsstaat alljährlich am 20. Juli begehen, haben nicht den Zweck, den Ablauf der Ereignisse nachzuzeichnen. Sie sollen auch nicht neue Forschungsergebnisse der Zeitgeschichte in extenso ausbreiten. Der tiefe Sinn dieses Gedenkens liegt vielmehr darin, uns und unserem Volk den sittlichen Kern der Erhebung immer wieder aufs Neue vor Augen zu führen und den moralischen Appell, der vom 20. Juli 1944 als dem hervorragendsten Beispiel des Widerstandes gegen nationalsozialistische Tyrannei ausgeht, für unsere Gegenwart zu bewahren und in die Zukunft weiterzutragen.

Der sittliche Kern und der moralische Appell des Widerstandes gegen Hitler sind in jüngster Zeit mit einer Arbeit über den „Kreisauer Kreis“ erneut überzeugend erwiesen worden. Sie gehen hervor aus den Plänen für eine Neuordnung Deutschlands, die in diesem Kreis entworfen und diskutiert wurden. Ich meine, dass Gleiches oder Ähnliches auch für viele andere Kreise des Widerstandes gilt, auch für die, die primär ihre Kraft einsetzen, um die Erhebung praktisch zu vollziehen.

Es kommt bei einer Beurteilung des Widerstandes, die nicht im Oberflächlichen bleiben will, nicht so sehr darauf an, was einer in dieser oder jener Situation getan hat. Es kommt in viel stärkerem Maße darauf an, welche Motive ihn zu seinem Handeln bestimmten. Tradierungswürdig sind nicht primär Handlungen und Pläne; der Überlieferung würdiger sind Geist und Haltung.

Den an der Erhebung Beteiligen ging es im Letzten um die Verpflichtung, die „Würde des Menschen“ zu achten und die „Majestät des Rechts“ wiederherzustellen. Es ist eine bessere, überzeugendere Motivation. Wiegt sie nicht unvergleichlich schwerer als die Tatsache, dass man glaubt, diesem oder jenem der Verschworenen eine wenig realistische Vorstellung über die künftige Staatsordnung nachweisen zu können? Heute vergisst man bei manchen Urteilen allzu leicht, dass das Denken ein dynamischer Vorgang ist und dass Menschen fähig sind, zu neuen Ufern fortzuschreiten. Man darf nicht übersehen, dass die freie Luft erst den freien Gedankenaustausch möglich macht und dass sich in diesem geistigen Ringen neue Überlegungen und vernünftigere Lösungen ergeben. Man muss heute auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die Deutschen im Widerstand gegen Hitler nicht nur die totalitäre Diktatur überwinden, sondern auch den Zerfall einer Ordnung, wie sie Weimar geboten hatte, vermeiden wollten.

In den jetzt aufgrund neuer Veröffentlichungen immer deutlicher werdenden Verschiedenartigkeiten der Generationen und Gruppen des Widerstandes offenbart sich auch schon jener Pluralismus, den wir Heutigen als ein Grundprinzip einer freien, menschenwürdigen Gesellschaft ansehen. Dieser Pluralismus schließt die Toleranz ein. Er schließt keineswegs aus, dass bei aller Verschiedenheit der Meinungen und Überzeugungen eine gemeinsame Basis besteht. Ja, diese gemeinsame Basis ermöglicht eigentlich erst das Ringen um Wege und Entscheidungen. Für jene, die teilhatten am 20. Juli 1944, bestand diese Basis keineswegs nur in der Ablehnung Hitlers und seiner Diktatur, sondern in der gemeinsamen Überzeugung, dass Macht nie Selbstzweck sein könne, dass sie vielmehr immer nur als Dienerin des Rechtes zu begreifen sei, als eine Hilfe, dem Recht Geltung zu verschaffen. Die Übereinkunft im Prinzipiellen lag ferner darin, dass eine menschenwürdige Existenz die Freiheit des Gewissens, des Denkens und des Handelns als unabdingbare Voraussetzungen habe.

Auf dieser Basis fanden sich, um ein Beispiel zu nennen, in Kreisau Sozialisten und Anhänger bürgerlicher Parteien, evangelische und katholische Christen. Auf dieser Basis wurden in verschiedenen Kreisen verschiedene Modelle zukünftiger Ordnung entworfen, diskutierten Zentralisten mit Föderalisten, Anhänger einer konstitutionellen Monarchie mit Republikanern. Ein Sinnbild für das gemeinsame sittliche Fundament im Widerstand scheint mir das Zueinanderfinden Stauffenbergs und Lebers zu sein, das sich schließlich zu einer tiefen Freundschaft verdichtet. Allen, mindestens allen, die im Kern beteiligt waren, ging es um mehr als darum, einiges aus der Konkursmasse eines untergehenden Staates zu retten. Es ging um weitaus mehr als um eine Revision oder Negation. Es ging darum, den Grund zu legen für eine vollständige Erneuerung, für eine menschenwürdige Ordnung. Sie sollte nicht nur für unser Land gültig sein, sondern Deutschland einfügen in eine europäische Ordnung.

Gestatten Sie mir hier eine persönliche Reminiszenz. Ich erinnere mich, dass mich nach einer Kriegsverwundung in der Einsamkeit der Krankenzimmer die Frage immer wieder überfiel und nicht mehr losließ, welchen Sinn das millionenfache Leiden haben könne, das Leiden an und hinter den Fronten, das Leiden, das mir in der relativen Ruhe der Lazarette mit besonderer Eindringlichkeit bewusst wurde. Es war mir klar, dass dieses Leid alle von dem Inferno dieses Krieges Erfassten betraf, unabhängig vom Verlauf der Fronten und von nationaler Zugehörigkeit. Im Lazarett formte sich in mir - und ich glaube, dass andere nachdenkliche junge Menschen in dieser Zeit in ähnlicher Weise gerungen haben - der Gedanke einer auf Gleichberechtigung gegründeten übernationalen Solidarität. Zweifel befielen mich allerdings immer wieder, wenn ich daran dachte, wie diese Vorstellung Wirklichkeit werden sollte. Schloss nicht die Brutalität des Kampfes eine Versöhnung nach dem Kriege aus?

Heute müssen wir den Männern und Frauen, die aktiven Widerstand leisteten, in doppelter Hinsicht dankbar sein. Einmal bin ich sicher, dass ohne diesen Widerstand die Versöhnung, die nach dem Kriege schon sehr früh begann, wohl kaum hätte Wirklichkeit werden können. In diesen Dank möchte ich alle einbeziehen, die der Tyrannei aus sittlicher Überzeugung widerstrebten, sei es, dass sie emigrierten und auf diese Weise dem Ausland ein anderes als das nationalsozialistische Deutschland manifestierten, sei es, dass sie im Lande blieben, Unrecht anprangerten und der Unmenschlichkeit wehrten, wie es, um zwei Beispiele zu nennen, die Barmer Synode der Bekennenden Kirche und der Bischof von Münster, Graf von Galen, in seinen Predigten taten. Zum Anderen bin ich dankbar dafür, dass die Probleme einer europäischen Friedensordnung, die heute zwar partiell, aber noch keineswegs endgültig gelöst sind, schon damals von unverblendeten Deutschen vorgedacht wurden.

Heute erkenne ich dankbar, dass das Europa, von dem ich und viele meiner Kameraden im Kriege sehr vage träumten, bereits damals als Ziel erkannt wurde. Es scheint mir bedeutsam, dass im deutschen und im außerdeutschen Widerstand Pläne diskutiert wurden, die europäischen Staaten zusammenzuführen. Gewiss gab es gravierende Unterschiede zwischen deutschen und nicht-deutschen Gegnern Hitlers. Aber es gab auch hier wiederum eine gemeinsame Basis, die sich nicht in der Negation erschöpfte. Sie manifestierte sich am deutlichsten in dem Ziel, eine Föderation der europäischen Staaten zu bilden; denn - so stellten Widerstandskämpfer aus Dänemark, Frankreich, Italien, Norwegen, den Niederlanden, Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Deutschland in einer gemeinsamen Deklaration im Mai 1944 fest:

„Nur eine Bundesordnung der europäischen Völker wird die Teilnahme des deutschen Volkes am europäischen Leben gestatten.

Nur eine Bundesordnung wird es gestatten, die Probleme der Grenzziehung in Gebieten mit gemischter Bevölkerung zu lösen.

Nur eine Bundesordnung wird die Erhaltung der demokratischen Institutionen ermöglichen.“

In dieser Stunde der tiefsten Not war Europa für viele die große Hoffnung. In einer Zeit, in der Hitler auf seine Weise Europa zu beherrschen trachtete, in einer Zeit, da alle als Hochverräter vernichtet wurden, die es ablehnten, im Gleichschritt zu denken, entwarfen die Besten in den Völkern Pläne, wie die Solidarität der europäischen Völker auf der Grundlage der Freiheit und Gerechtigkeit verwirklicht werden könne.

Ein Weiteres scheint mir in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll. Auch ein Mann wie der Gründer der „Una sancta-Bewegung“, Pater Metzger, der keiner der organisierten Gruppen angehörte, der aber als Pazifist das Schafott besteigen musste, war keineswegs Illusionist. Er wollte, wie in einer seiner Denkschriften nachzulesen ist, die Friedensordnung, die er erstrebte, dem Schutz einer bewaffneten Macht anvertraut wissen. Er trat für eine „überstaatliche Macht“ ein, „die im Dienst eines unparteiischen Organs der ‚Vereinigten Staaten von Europa’ einen gerechten Frieden zu schützen übernimmt“. Der Schutz des Friedens sollte das einzige Motiv des Dienens sein.

Ich freue mich, als ein für unsere Streitkräfte unmittelbar Mitverantwortlicher feststellen zu können: Es gibt für unsere Soldaten tatsächlich nur ein Wehrmotiv: das ist der Schutz des Friedens. Wenn die Grundpflicht unserer Soldaten bestimmt, dass sie das Recht und die Freiheit unseres Volkes im Notfall zu verteidigen haben, dann ist dies eine höchst praktische und vernünftige Sicherung des Friedens, denn ein Friede, in dem nicht Gerechtigkeit geübt und Freiheit verbürgt wird, ist kein Friede.

Wenn die europäische Sicherheit ein Vermächtnis derjenigen, die auch um dieses Zieles willen den Tod erlitten, dann müssen wir uns die Frage stellen, wie es heute um Europa steht.

Die bittere Antwort heißt zunächst: Die Hoffnungen der Europäer wurden am Kriegsende zerstört. Unser Erdteil wurde tiefer gespalten als jemals zuvor. Niemand kann sich der trügerischen Hoffnung hingeben, dass sich diese Teilung leicht überwinden lasse. Aber niemand ist andererseits berechtigt zu verzagen. Niemand darf sich von dem scheinbaren Zwang der Ereignisse treiben lassen. Im freien Teil Europas hatten und haben wir die Möglichkeit, das Modell zu entwerfen für die Zusammenarbeit der Staaten und Völker, ein Modell, das attraktiv und offen sein sollte für alle, die in dieser Staatengemeinschaft ihren Platz finden wollen.

Wenn wir eine Bilanz ziehen, dann können wir natürlich auch einiges auf der Habenseite buchen, wenigstens im freien Teil Europas. Wir haben auf wirtschaftlichem Gebiet einen übernationalen Markt geschaffen, der sechs Staaten umfasst. Wir haben ein Netz von Verträgen und Konventionen geknüpft. All dies ist wahrlich mehr als die besten Europäer zwischen den beiden Weltkriegen je zu hoffen wagten. Wir haben im militärischen Bereich eine gewisse Solidarität erreicht. Sie geht immerhin so weit, dass frühere „Erbfeindschaften“ endgültig der Geschichte angehören. Das ist viel. Es ist, mit den Augen unserer Völker gesehen, sogar ein Wunder.

Ein Teil des Programms, das die Europäer im Widerstand entworfen hatten, ist also erfüllt. Und dennoch: Wenn wir ehrlich sind, dann können wir nicht behaupten, dass wir das Vermächtnis, das sie uns hinterließen, eingelöst haben. Wenn eine europäische Friedensordnung wirksam werden soll, dann verlangt sie mehr als die Kooperation von Soldaten, Technokraten und Bürokraten. Die politische Föderation steht immer noch aus. Sie soll und muss jede andere Zusammenarbeit überwölben.

Der Politik nämlich ist es aufgegeben, den Frieden in Europa zu sichern in einer Ordnung, die aus den besten Quellen unseres Kontinents gespeist wird. Ordnung im menschlichen Bereich, die diesen Namen verdient, ist niemals ein rein mechanisches Prinzip. Sie muss von moralischen Kategorien getragen werden. In diesem Sinne besteht das Vermächtnis des Widerstandes immer fort. In diesem Sinne möchte ich den moralischen Appell, von dem ich sprach, verstanden wissen.

Der ethische Kern der Erhebung bestand darin, dass die Verschworenen das Bild des Menschen wiederherstellen wollten. Und dass sie die Tapferkeit besaßen, dafür Schmach und Tod zu erdulden. Die „conditio humana“ war damals von Hitler brutal zertreten und von einer mystisch-verbrämten, irrationalen Rassenideologie überdeckt, die zwar - wie alle Ideologien - einen „neuen Menschen“ postulierte, aber angeblich Minderwertige vernichten und ausrotten wollte.

Die „conditio humana“ ist auch heute keineswegs ungefährdet. Die Gefährdung der Bedingungen, unter denen ein Mensch Mensch sein kann, geht - das ist wohl eine schmerzliche Erfahrung - nicht nur aus von dem Starrsinn und der geistlosen Dummheit Gestriger, sondern auch von denen, die die Gewalt im angeblichen Auftrag eines utopischen Fortschritts rechtfertigen und lehren und die eine Diktatur über die Mehrheit deshalb als gerechtfertigt ansehen, weil dieser Diktatur ein pädagogisches Ziel aufgegeben sein soll, das Ziel, wieder einmal einen neuen Menschen zu bilden oder ein neues Reich aufzurichten.

In einer solchen Situation muss gerade von der Erinnerung, von der Besinnung auf den 20. Juli 1944 einmoralischer Appell ausgehen. Jede Diktatur, auch wenn sie die „Vernunft“ auf ihre Fahnen schreibt, richtet sich wider den Menschen, missachtet seine Würde; zerstört seine Freiheit. Müssen wir deshalb nicht misstrauisch werden, wenn heute - zwar aus gänzlich verschiedenen Quellen und aus sicherlich anderem Geist - die Revolution um utopischer Zukunftsziele wegen gepredigt wird?

Es ist ein gefährlicher Zug unserer Zeit, aus dem scheinbar Kleinen, dem Alltäglichen, aus all dem entfliehen zu wollen, das keine Schlagzeilen in den Zeitungen und keine Präsenz auf den Bildschirmen verbürgt. Ich bin überzeugt, dass es notwendig und entscheidend bleibt, das eigene Recht im eigenen Lebenskreis zu verteidigen und das Recht des anderen zu respektieren. Ich meine, dass dies Demokraten auszeichnet, die tausend kleine Misshelligkeiten, die es zweifellos gibt, zu ändern und bereit zu sein zur Mitarbeit und Mitverantwortung. Wir haben eine politische Grundordnung, die uns allen viele Möglichkeiten einräumt: Wir haben die staatsbürgerliche Pflicht, sie zu unserem und zum gemeinen Wohl zu nützen. Wir haben eine demokratische Grundordnung und wir sollten uns erinnern, dass Demokratie um des Einzelnen willen besteht. Wir haben damit eine Verfassung, die bei aller Unvollkommenheit der „conditio humana“ am ehesten entspricht.

Unsere Ordnung ist wahrlich nicht statisch. Sie will nicht nur bewahren. Sie muss Impulse empfangen. Sie muss offen sein für das Neue. Sie muss den Fortschritt wollen und wagen. Wir brauchen auch heute den Wagemut der Jugend. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Fortschritt nicht Vergewaltigung sein darf. Die „conditio humana“ ist unantastbar. Darum gilt es, unsere Verfassung zu bewahren und unseren Staat zu schützen, damit nicht noch einmal nach einer Katastrophe sich wiederholen muss, was damals bittere Notwendigkeit geworden war.






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