Den Stimmen unseres Gewissens folgen
Superintendent Carsten Bolz
Predigt beim Gottesdienst in der Gedenkstätte Plötzensee am 20. Juli 2018
Römer 5,3-4 (Lehrtext für den 20. Juli 2018)
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Ein zentrales Stück paulinischer Theologie, haben wir gerade gehört, liebe Gemeinde.
Die Herrnhuter, die jedem Tag im Jahr ein Wort aus der Hebräischen Bibel zulosen und ihm dann ein Wort aus dem Neuen Testament zuordnen, haben für diesen 20. Juli auf den Römerbrief des Paulus zurückgegriffen:
... wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, 4 Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, ...
Durchaus zwiespältig die Reaktionen: Was soll das denn – sagt der eine – wir rühmen uns der Bedrängnisse – das geht doch nicht! Und das geht schon gar nicht unter den Galgen von Plötzensee. Wenn ich in Bedrängnisse gerate, dann muss ich versuchen, etwas zu verändern, die Bedrängnisse zu beenden. So wie das die versucht haben, die schließlich hier am Galgen gelandet sind. Das kann doch niemand verlangen, dass ich mich geduldig in mein Schicksal ergebe und mich damit tröste, dass irgendeine Hoffnung folgt. Das kann mir kein Trost sein! ---
Doch, sagt die andere, so habe ich das erlebt. So ging mir das, dass ich irgendwann gemerkt habe, meine Not, meine Trauer, meine Verzweiflung – all das, was mich bedrängt, was mich in geradezu ausweglose Situationen zu bringen schien --- dass mich solche Erfahrungen in meinem Leben weitergebracht haben, dass sie mir wichtig geworden sind. Meine Hoffnung auf Leben, auch mein Vertrauen auf Gott sind dadurch stärker geworden.
Ich fand es hilfreich, liebe Gemeinde, diesen für heute herausgeschnittenen Lehrtext, diese zwei Verse, in ihrem Zusammenhang zu hören: Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, --beginnt Paulus den Gedanken. Das ist die Grundlage für die offenbar mehrdeutige Fortsetzung: Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus; durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird.
Ich verstehe: „Wer an Jesus Christus glaubt, kann in Frieden mit Gott leben – und sogar in Frieden mit Gott sterben. Durch Jesus Christus trennt uns nichts mehr von Gott!“ Oder wie das aus dem Munde Jesu im Johannesevangelium klingt: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh 8,12)
Ein weiteres Mal habe ich überlegt, wo und wie mir solch eine Haltung begegnet ist, wo mir Menschen begegnet sind, die aus so einem festen Vertrauen gelebt haben und möglicherweise sogar darin gestorben sind – aus dem Vertrauen, dass sie nichts von Gott trennen kann – nicht einmal am Ende. Es wird Sie nicht sehr erstaunen, dass mir Männer und Frauen des 20. Juli eingefallen sind und ihre Angehörigen – Menschen, von denen ich das immer wieder in unterschiedlicher Weise verstanden und auch bewundert habe, dass sie ihr Leben und auch das Sterben in diesem Licht sehen konnten.
Aus gegebenem Anlass habe ich dazu die Lebenserinnerungen von Johanna Rahtgens noch einmal gelesen. Im vergangenen Januar wäre sie 100 Jahre alt geworden. Wie vielen von uns, ist sie mir noch in bester Erinnerung: als regelmäßige Teilnehmerin der Gottesdienste hier im Hinrichtungsschuppen, als engagierte Streiterin für vollständige Gemeinschaft am Tisch des Herrn. In ihren Lebenserinnerungen schreibt sie: „Ich finde es ... bis heute traurig, dass diese Gemeinschaft ... an diesem Ort nicht aus einem Kelch und von einem Brot genommen werden kann, wo wir doch aus den Berichten wissen, dass die Konfession in den Gefängnissen keine Rolle mehr spielte...“ [1] Johanna Rahtgens hätte sich gefreut, dass wir uns hier seit drei Jahren nun für diese Gemeinschaft am Tisch des Herrn entschieden haben!
Aber nicht deshalb komme ich auf ihre Lebenserinnerungen zu sprechen, sondern weil ich darin beeindruckende Zeugnisse sowohl von glaubender Hingabe und festem Vertrauen – als auch die Mahnung zum Widerstand des Gewissens gefunden habe. Zuerst also:
1 glaubende Hingabe und festes Vertrauen
Für sich selber beschreibt Johanna Rahtgens das an verschiedenen Stellen. So zum Beispiel im Bericht von der Taufe des Sohnes Manfred: „Merkwürdig, ich sehe mich noch so deutlich mit Manfred auf dem Arm in dieser kleinen Kirche vor dem Kreuz Christi niederknien und seinen Segen und Liebe empfangen. Er tröstete mich und gab mir Kraft in das zutiefst verängstigte, todtraurige Herz.“
Oder sie berichtet davon, wie ihr die Nachricht von der Hinrichtung ihres Mannes Carl Ernst vom Schwiegervater überbracht wurde: „Ich besinne mich, dass ich mich [danach] ins Kinderzimmer schlich, ... Ich kniete an einem der Bettchen nieder und weinte bitterlich. Ich wusste ja von der Botschaft: ‚Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!‘ – und ich spürte dieses gnädige, liebende, barmherzige Gegürtet-werden vielleicht so deutlich, weil ich meinte, die Welt müsse stehen bleiben; das Herz war total ausgebrannt. ... Gestärkt ging ich nach unten.“
Ganz im selben vertrauensvollen Glauben klingt der Abschiedsbrief von Carl Ernst Rahtgens: „... Mir kam in den letzten Tagen das Wort, das mich ständig begleitete: ‚Ich will meine Liebe nicht von dir wenden, spricht der Herr, dein Erbarmer.‘ Dies Wort soll mich auch durch das letzte dunkle Tal begleiten. ... Wie herrlich ist es, etwas vom Herrn Christus zu wissen, wenn man plötzlich vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen muss, der nun viel tiefer und weiter schaut als alle Menschen. Das Gebet gibt mir Frieden und Kraft. ... Auch diesen Weg hat der große Erbarmer vorgeschrieben, wenn wir ihn auch noch nicht verstehen.“
... wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, ...
Ja, sagt die eine, so habe ich das erlebt. So ging mir das, dass ich irgendwann gemerkt habe, meine Not, meine Trauer, meine Verzweiflung – haben mich in meinem Leben und sogar in meinem Sterben weitergebracht. Ein gnädiges, liebendes, barmherziges Gegürtet-werden. Meine Hoffnung auf Leben, mein Vertrauen auf Gott sind dadurch stärker geworden.
Aber: Was soll das – sagt der andere – wir rühmen uns der Bedrängnisse – das geht doch nicht! Wenn ich in Bedrängnis gerate, dann muss ich versuchen, die Bedrängnisse zu beenden. Das kann doch niemand verlangen, dass ich mich geduldig in mein Schicksal ergebe und mich damit tröste, dass irgendeine Hoffnung folgt. Das kann mir kein Trost sein! ---
2 Mahnung zum Widerstand des Gewissens
Je länger ich darüber nachgedacht habe, desto deutlicher ist mir geworden, dass es beides ist, beides sein kann. Die Kette: "Bedrängnis – Geduld – Bewährung – Hoffnung" stimmt --- und sie stimmt auch nicht. Der Satz „Aus Bedrängnis folgt Hoffnung!“ fällt mir leicht als ein rückblickender Satz der Erfahrung und er fällt mir schwer als eine Aufforderung zu geduldigem Verhalten.
Und so haben ihn die Männer und Frauen des 20. Juli ja auch nicht verstanden. Sie haben ihr Leben eingesetzt, um „Bedrängnisse“ für ein ganzes Volk, eine ganze Nation zu beenden. Und doch waren sie damit seltsam allein. Selbstkritisch merkt Johanna Rahtgens an: „Auch als Christen reagierten wir seltsam unempfindlich. Natürlich regte man sich sehr über den von Hitler eingesetzten ‚Reichsbischof‘ Müller auf und fand das unmöglich, aber es entstand kein ‚Aufstand des Gewissens‘.“ Und sie führt zwei Beispiele dafür an. Das eine: Carl Ernst, der in den Heimaturlaub aus Sofia einen kostbaren Kostümstoff mitbrachte. Er hatte ihn dort von einem jüdischen Händler für einen „lächerlichen Preis“ gekauft. Der Händler hatte geradezu darum gebeten, weil ihm ohnehin alles weggenommen würde, und er dann gar nichts mehr dafür bekäme. Als Johanna und Carl Ernst beschlossen, dass der nach seiner Rückkehr nach Sofia den vollen Preis bezahlen sollte, war es zu spät. Der Mann war nicht mehr auffindbar; das Geschäft geschlossen.
Das andere Beispiel ist ein Gespräch ihrer Mutter mit einem jungen SS-Soldaten. Der erzählte ganz ungerührt, dass er im Osten mit einer Erschießungstruppe für Juden eingesetzt sei. Gefragt, wie er das tun könne, erklärte er „erst sei ihm das auch sehr schwer gefallen, vor allem das Erschießen der Frauen, Kinder und Greise an den Massengräbern. Dann hätte man ihm klar gemacht, dass er kein schlechtes Gewissen zu haben brauche, denn dieses alles seien keine normalen Menschen, sondern Untermenschen und Feinde des deutschen Volkes. ... [Johanna Rahtgens Mutter] erzählte später die Geschichte immer als Beispiel, wie wenig Verlass auf das sogenannte Gewissen sei. Man könne Gewissen verbiegen.“
... wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, 4 Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, ...
Der Satz des Paulus gilt, liebe Gemeinde – nicht als eine Aufforderung zu geduldigem Verhalten – sondern als ein rückblickender Satz der Erfahrung. Ich glaube – und die Zeugnisse der Männer und Frauen des 20. Juli zeigen das auch – dass es das beides nebeneinander gibt: die Bedrängnis des Augenblicks, die mich wütend und traurig macht und die ich verändern kann und will und muss – auch heute noch – ich muss Ihnen die Beispiele dazu nicht extra noch aufzählen. Und es gibt die Bedrängnis, der ich ausgesetzt bin, an der ich nichts verändern kann, die ich mit Gottes Hilfe geduldig zu ertragen lernen kann – auch heute noch.
Deshalb, liebe Gemeinde, deshalb ist meine Hoffnung, dass auch heute noch gilt, was Johanna Rahtgens über diese Gottesdienste hier unter den Galgen geschrieben hat: „Mir ist diese Andacht am Morgen die wichtigste und stärkendste Stätte der Erinnerung und Besinnung geworden. Zaghaft betraten wir viele, viele Jahre den Raum ... und verließen ihn gestärkt. Er vermittelte uns eben auch die Botschaft, dass wir, sollen die Männer nicht umsonst gestorben sein, nicht nur Trauernde, sondern Beauftragte sind, die der Stimme des Gewissens folgen und andere ermutigen sollen, das auch zu tun.“
Sie, verehrte Angehörige, verstehen sich als derart Beauftragte, wenn Sie heute zum 74. Jahrestag des Attentats eine „Botschaft für ein vereintes Europa“ veröffentlichen in der es heißt: „Wir möchten an diesem Tag an den Mut und die visionäre Kraft [der Männer und Frauen des 20. Juli] erinnern und hoffen, dass nationale Alleingänge nicht das geeinte, starke, friedliche Europa gefährden, dass sie [...] erhofft hatten.“ [2]
Lassen Sie uns alle, liebe Gemeinde, – als derart Beauftragte – mutig den Stimmen unseres Gewissens folgen, unverbogen und von der Hoffnung getragen, dass wir damit nicht in der Finsternis wandeln, sondern Licht in diese Welt bringen. Auch heute noch. Den Maßstab dazu liefert uns Christus selbst – das Licht der Welt.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
© Superintendent Carsten Bolz, 20. Juli 2018
[1] alle Zitate aus: Johanna Rahtgens, Der Stimme des Gewissens folgen, Ein Erinnerungsbericht,
- Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Beiträge zum Widerstand 1933 – 1945, 2008
[2] cf. „Der Tagesspiegel“, 20. Juli 2018, Titelseite