"Dennoch bleibe ich stets an dir."

Bringfried Naumann

„Dennoch bleibe ich stets an dir.“

Predigt von Pfarrer Bringfried Naumann am 20. Juli 1974 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

„Dennoch bleibe ich stets an dir;

denn du hältst mich bei meiner rechten Hand,

du leitest mich nach deinem Rat

und nimmst mich am Ende mit Ehren an.

Wenn ich nur dich habe,

so frage ich nichts nach Himmel und Erde.

Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet,

so bist du doch, Gott, allezeit

meines Herzens Trost und mein Teil.

Denn siehe, die von dir weichen, werden umkommen;

du bringst um alle, die dir die Treue brechen.

Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte

und meine Zuversicht setze auf Gott den Herrn,

dass ich verkündige all dein Tun.“

Psalm 73, 23-28

Dennoch – das ist nicht menschlicher Trotz, nicht die Zusammenfassung aller Sinne, auch nicht die Konzentration des Willens, als ob es nur an uns läge, Macht und Gewalt über uns selbst zu gewinnen und zu behalten in guter oder böser Stunde; nein: dennoch bleiben und dieses aussprechen zu können in ganz direkter Anrede – dieses „Dennoch“ ist das Ja des Glaubens, ein immer wieder notwendiges und Not wendendes Ja, ein Ja im Scheitern, ein Ja unter den vielen uns verstrickenden Anläufen und schuldhaften Widerwärtigkeiten, es ist ein Ja „nicht aus eigener Vernunft und Kraft“, sondern das Ja Gottes. Sein Ja zu uns und zu seiner Schöpfung.

I.

Dennoch bleiben – in unser Gedächtnis ist eingeprägt jene Klage Israels vor Gott, wie man sein Wort und seine Zusage hat und doch leidet: auserwählt zur Herrlichkeit und zugleich Beute vieler Völker oder des eigenen Hochmuts. Oder uns ist eingeprägt der furchtbare Schrei jenes einen, der sich als Erster getraute, in dieser Welt und vor aller Welt zu dem Gott der Väter wirklich „Vater“ zu sagen, „unser Vater“, und dann den Tod am Kreuz erleiden muss, als gäbe es diesen Vater nicht. Oder uns ist eingeprägt das vielfache Sterben in der Nachfolge Jesu Christi oder was man dafür hielt : die Martyrien in den Amphitheatern des Imperium Romanum – die Scheiterhaufen im Namen jedweder Inquisition – das konfessionalistische Morden mit Hellebarde und Bombe im Dreißigjährigen Krieg und im Irland von heute. Eingeprägt ist uns der durch christliche Konquistadoren erschlagene Indio und seine Rasse, sind es die Millionen Opfer und Abermillionen Opfer „heiliger“ Kriege und Kreuzzüge, sind es auch die, die hier und vielerorten hingerichtet wurden – vor und nach Auschwitz.

II.

Dennoch bleiben – Zweifel werden wach und sind kaum mehr zur Ruhe zu bringen. Wer kann denn dieses Gedächtnis bewahren, diese Mordgeschichten von Jahrhunderten? Uns will als Trost nicht einleuchten, dass da auch Herrliches und Schönes Geschichte geworden ist, solange jedenfalls nicht, als all dieses Blut zum Himmel schreit und immer noch mehr hinzukommt. Und auch, wenn es uns gelänge, dieses Gebet aufzuspüren durch die Epochen, von Israel angefangen bis in diese Stunde, es aufzuspüren als die erfahrene, erlittene und angenommene Gleichzeitigkeit Gottes; er mit im Leiden, mit im Sterben, mit im Tode, aber auch mit im Leben – wären wir dann schon im Dennoch des Glaubens? Wir haben doch mehr einzubringen als die so oder so gearteten Erkenntnisse über den Lauf der Geschichte. Kommt nicht hinzu ein Traditionsbruch sondergleichen, ein Widerwille gegen alles, was uns in eine Weltsituation gebracht hat, in der Lebensangst und brutale Gewalt einander bedingen? Und das quer durch die Systeme? Müssen wir nicht einbringen all unsere wahnsinnigen Selbstbehauptungsversuche auf Kosten anderer, all unsere individuellen Depressionen und kollektiven Neurosen, all das, was dem Glauben seine Gestaltwerdung streitig macht? Bringt dieser Zweifel uns nicht in die Nähe eines Glaubens, dem ganz neue Horizonte aufgehen: wenn uns diese Welt stirbt, Schöpfung verwest, stirbt uns auch Gott? Oder wo ist sie Widerstand? Und unsere Ergebung?

III.

Dennoch bleiben – unsere Welt hat ihre Geschichte gehabt. Auch wir haben die unsere. Dass wir jeder für sich beteiligt und betroffen – eine Generation danach im allgemeinen Institutionsverlust nach dem Weitergang fragen, nach dem Weitergang nicht bloß dessen, was vor einem Menschenalter noch selbstverständlich Ehre, Pflicht und Auftrag hieß, sondern nach dem Weitergang und damit der Zukunft dieser unserer Welt schlechthin, gehört das dazu oder nicht? Die Welt der technischen Zwänge, die Welt der Ideologien, die Welt der Hungerkatastrophen, die Welt der Bevölkerungslawine, die verplante und verwaltete Welt, die Welt des Mülls und der Abwässer – das ist doch dieselbe Welt, die uns als Schöpfung anvertraut ist, oder nicht? Es übersteigt unser Vorstellungsvermögen, was da auf uns zukommt, obwohl wir sehenden Auges auf den Kollaps dieser Erde zugehen. Und was für unnötige und oft lächerliche Selbstbestätigung in den Festreden und Partys dieser Zeit, wo es doch darauf ankäme, die unzulänglichen historischen, politischen, soziologischen, psychologischen, ja moralischen und dogmatischen Kategorien fahren zu lassen und der Versöhnung Raum zu schaffen: der Versöhnung mit der Natur, mit uns selbst, mit Gott. Wo es darauf ankäme, asketisch zu leben und auf den Geist zu trauen.

Dennoch bleibe ich stets an dir – kein Trotz, keine Verzweiflungstat und letztes Aufbäumen ist gemeint, auch nicht Torschlusspanik vor dem Weltuntergang. Aber sie ansehen, diese Welt und diese Menschen, und mit Luther heute noch den Apfelbaum pflanzen; in fressender Zeit, mitten im Abbruch der Dinge, die gestern noch wichtig und gültig waren, der wie einer Pest grassierenden Weltangst widerstehen; Widerstand neu entdecken als Möglichkeit zum Leben und Überleben und nicht als museales Hobby; das Gebet wiederfinden inmitten einer geschwätzigen und zugleich sprachlosen Gesellschaft; die Gottesfurcht auch dort suchen, wo öffentliche Meinung und private Überzeugung sie vergessen haben; und sie erfahren als die barmherzige Zuwendung des auferstandenen Jesus Christus, der uns an seinen Tisch ruft: Das ist mein Leib. Das ist mein Blut. Das bin ich für Euch. Das stärke und bewahre euch im Glauben zum ewigen Leben. – So wollen wir uns in die göttliche Gemeinschaft rufen lassen, in die communio sanctorum, dann aber auch hingehen und das Schuldige tun.

Amen.







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