Der „20. Juli“ mit und ohne Christen
Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Wolfgang Knauft
Der „20. Juli“ mit und ohne Christen
Vortrag von Prälat Wolfgang Knauft am 19. Juli 2002 in der St.-Matthäus-Kirche, Berlin
Es muss in den ersten Juli-Tagen 1944 gewesen sein. Die Zeit deutscher Siegesmeldungen an allen Fronten war längst vorbei. Im Westen war die alliierte Landung in der Normandie gelungen. Bei der erdrückenden Überlegenheit der Alliierten am Boden und in der Luft stand der Durchbruch in die Weite des französischen Raumes unmittelbar bevor. An der Ostfront hatte sich die Rote Armee bis an die alte Ostgrenze Polens herangekämpft. Amerikanische und britische Bomberverbände legten eine deutsche Stadt nach der anderen in Schutt und Asche. Auch die Reichshauptstadt war in einigen Stadtteilen schwer getroffen. „Berlin – der Schutthaufen bei Potsdam“ sollte Bertolt Brecht später schreiben. In der Innenstadt war auch die St. Hedwigs-Kathedrale schon 1943 bei einem nächtlichen Bombenangriff bis auf die Umfassungsmauern ausgebrannt, ebenso das Bischöfliche Palais in der Behrenstrasse. Der Berliner Bischof, Konrad Graf von Preysing, hatte als Ausgebombter eine Einzimmer-Residenz im Hermsdorfer Dominikus-Krankenhaus bezogen. Hier empfing er in den ersten Juli-Tagen – das genaue Datum ist nicht mehr zu rekonstruieren – einen Mann, der ihm bisher höchstens dem Namen nach bekannt war: Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg.
Es verwundert nicht, dass der Kopf des militärischen Widerstandes gerade diesen Bischof aufsuchte. Es war mit Sicherheit nicht die gemeinsame adlige Herkunft, die Stauffenberg zu Preysing führte. Der Berliner Bischof war vielmehr in Kreisen des deutschen Widerstandes als ein Mann bekannt, der zu den entschiedensten Gegnern des NS-Staates innerhalb der Fuldaer Bischofskonferenz zählte. Und das schon seit 1933. Bereits damals, als manche seiner bischöflichen Amtsbrüder noch von deutschnationalen oder monarchischen Ideen her mit dem neuen Staat verhalten sympathisierten, vertrat er, freilich hinter vorgehaltener Hand, die Auffassung: „Wir sind in den Händen von Narren und Verbrechern.“
Preysings Wort hatte über die Grenzen der Konfession hinaus inzwischen Gewicht gewonnen und seine Diskretion war verlässlich. Es ist nicht bekannt, wie lange das Gespräch gedauert hat, auch nicht, was im Einzelnen besprochen wurde. Der spätere Kardinal hat sich bis zu seinem Tod 1950 darüber beharrlich ausgeschwiegen. Das Siegel des Seelsorgegesprächs, das für ihn bedingungslos galt, hat Preysing auch nach Kriegsende daran gehindert, dem Erkenntnisdrang von Historikern und der Neugier von Journalisten nachzugeben. Lediglich seinem Sekretär hat er später anvertraut, Stauffenberg habe mit ihm nicht konkret über den geplanten Staatsstreich gesprochen, geschweige denn, dass er ihn im voraus zur Billigung des Attentats vom „20. Juli“ habe motivieren wollen. Es sei im Wesentlichen um das militärische und politische Schicksal Deutschlands gegangen. Berücksichtigt man jedoch die intensiven Vorbereitungen und Pläne, die Stauffenberg im Zentrum des militärischen Widerstandes in diesen Tagen umtrieben, ist schwer vorstellbar, dass das ethische Problem des Tyrannenmordes nicht zur Sprache gekommen sein soll, das für ihn als Christen eine zentrale Gewissensfrage war.
Stauffenberg und Preysing – zwei Persönlichkeiten aus alten schwäbischen und bayerischen Adelsgeschlechtern: Beide lehnten das NS-Regime entschieden und kompromisslos ab. Der eine erst nach anfänglichen Sympathien wegen mancher politischer Anfangserfolge des neuen Staates. Der andere, seit 1935 Bischof des Bistums Berlin, sah schon beim Machtantritt des neuen Reichskanzlers Hitler voraus, dass schwere Konflikte in Gesellschaft und Kirche bevorstehen, weil die braune Partei sich mit dem Staat gleichsetzt und von daher von Anfang an einen totalitären Charakter besitzt.
Tragendes Fundament war für beide die christliche Wertordnung und der Anspruch ihres Gewissens. Die christliche Norm des Gewissens hatte bei Stauffenberg allerdings nicht zur Folge, dass er regelmäßig den Sonntagsgottesdienst besuchte. Sein Bruder Berthold interpretierte später 1944 vor der Gestapo diese Form von Kirchlichkeit so: „Wir sind nicht das, was man im eigentlichen Sinne gläubige Katholiken nennt. Wir gingen nur selten zur Kirche und nicht zur Beichte. Mein Bruder und ich sind der Meinung, dass aus dem Christentum kaum noch etwas Schöpferisches kommen könnte.“ Andererseits standen die Brüder Stauffenberg nach außen durchaus auf Seiten der Kirche, nachdem Partei und Gestapo ihre kirchenkämpferischen Aktionen begonnen hatten. Wenn Claus Stauffenberg einen Gottesdienst besuchte, dann demonstrativ in Uniform. Er wollte zeigen, wo sein weltanschaulicher Ort war. Und wie anders hätte er noch so kurz vor dem Attentat das seelsorgliche Gespräch mit dem Berliner Bischof gesucht?
Es ist gut, diese Differenzierungen beim Thema „Der 20. Juli mit und ohne Christen“ im Blick zu behalten. Christlichkeit darf in diesem Zusammenhang nicht mit praktizierender Kirchlichkeit im strengen Sinne identifiziert werden. Es ist hier nicht der Ort, das Verhältnis evangelischer und katholischer Christen insgesamt zum NS-Staat nachzuzeichnen, ebenso wenig die Positionen der evangelischen und katholischen Bischöfe und Kirchenleitungen in den Jahren von 1933 bis 1945. Zumeist müsste dabei eher vom Widerstehen im Sinne der Verweigerung politischer Gleichschaltung und vom Widerspruch hinter den Kulissen die Rede sein, nicht aber vom aktiven Widerstand. Es soll auch nicht an die vielen Christen verschiedener Konfessionen erinnert werden, die im weiteren Umfeld des Umsturzversuches vom 20. Juli zu den aktiven Gegnern des totalitären Staates zählen. Da wären sehr viele Namen zu nennen, die im Folgenden vielleicht vermisst werden. Es soll vielmehr deutlich werden: die Grundströmung christlicher Wertmaßstäbe war bei vielen Männern des deutschen Widerstandes prägend und hat ihre Planungen und Handlungen in den Jahren 1943 und 1944 bestimmt. Freifrau von Aretin, die Tochter von Henning von Tresckow, hat, meiner Meinung nach zu Recht, darauf hingewiesen, dass die Würdigung dieser christlichen Grundhaltung in vielen historischen Darstellungen „etwas zu kurz“ komme. Sie zitierte in diesem Zusammenhang ein Wort ihres Vaters, der einmal gesagt hat: „Ich verstehe nicht, wie sich heute noch Menschen als Christen bezeichnen können, die nicht gleichzeitig wütende Gegner dieses Regimes sind. Ein wirklich überzeugter Christ kann doch nur ein überzeugter Gegner sein.“ Wenn im Folgenden Spuren des Christlichen im deutschen Widerstand nachgegangen wird, dann ist das lediglich ein begrenzter Versuch, der keinen Anspruch auf historisch abgerundete Vollständigkeit erhebt.
Die historische Forschung hat eine Vielzahl von Gruppen und Kreisen beschrieben, die alle in einer Position übereinstimmten: in der eindeutigen Ablehnung des NS-Regimes. Dass untereinander erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestanden, kann nicht verwundern. Denn im Widerstand gegen Hitler trafen sich die verschiedenen Überlieferungen deutscher Geschichte. Männer aus dem bürgerlich-konservativen Lager hatten andere Einstellungen zur Weimarer Republik und zu den Traditionen des 19. Jahrhunderts als Männer aus den Gewerkschafts- und SPD-Kreisen, wieder andere die Angehörigen aus der kommunistischen Partei. Nicht weniger unterschiedlich waren die Vorstellungen, wie die Weichen für die Nach-Hitlerzeit zu stellen sind. Nur einige dieser Kreise sollen im Vorfeld des „20. Juli“ kurz erwähnt werden.
Bereits etwa eineinhalb Jahre vor dem „20. Juli“ brodelte es in der Münchener studentischen Jugend. Eine Gruppe, die sich den Namen „Weiße Rose“ gegeben hatte und ausnahmslos christlich motiviert war, malte in den Nachtstunden flammende Proteste an Häuserwände des Münchener Universitätsviertels wie „Nieder mit Hitler“ und die Forderung „Freiheit“. Tausende von Flugblättern verteilten sie in der sogenannten „Stadt der Bewegung“ sowie in Freiburg und Hamburg. Die Studenten Hans und Sophie Scholl, der Medizinstudent Alexander Schmorell, der junge Familienvater Christoph Probst und Willi Graf aus der katholischen Jugendbewegung waren Motor dieses Widerstandskreises. Eine Diktatur reagiert bekanntlich auf geistigen Sprengstoff ähnlich aggressiv wie auf ein Bombenattentat. Freislers Volksgerichtshof verurteilte die genannten Studenten bald nach ihrer Festnahme zum Tode, andere erhielten teilweise hohe Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen. Welche Ziele hatten die Mitglieder der „Weißen Rose“ und welches geistige Fundament war für sie bestimmend? Sie waren Menschen, die im Evangelium beheimatet waren, und wollten die Fackel des freiheitlichen Denkens in die Bevölkerung hineintragen, wollten Mitläufer im Krieg Hitlers wachrütteln und vor dem drohenden Untergang Deutschlands warnen.
Zu der Zeit, als Freisler in München gegen die „Weiße Rose“ verhandelte, hatte er in Berlin bereits die ersten Todesurteile gegen Männer und Frauen gefällt, die gemeinhin als „Rote Kapelle“ bezeichnet werden. Die militärische Abwehr hatte diesen Sammelbegriff zuerst für eine Spionagegruppe verwendet, die in Frankreich, Belgien und Holland für den Moskauer Nachrichtendienst arbeitete. Die Gestapo hat diesen Begriff dann auf jene Männer und Frauen übertragen, die im weitesten Sinne zur Gruppe um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack gehörten. Sie bekamen das Etikett „Rote Kapelle. Bolschewistische Hoch- und Landesverratsgruppe im Reich“. Damit hatte diese Widerstandsgruppe insgesamt einen kommunistischen Stempel. Manche Kontroversen um diese Gruppe in der Vergangenheit hängen mit dieser einseitigen Zuordnung zusammen. Die Publikationen in der ehemaligen DDR haben das Ihre dazu beigetragen, die Einseitigkeit jahrzehntelang zu verstärken. So hat beispielsweise das „Neue Deutschland“ 1969 anlässlich von posthumen sowjetischen Ehrungen für die „Rote Kapelle“ in einem großaufgemachten, mehrseitigen Artikel nur jene Männer und Frauen in Wort und Bild gewürdigt, die Kommunisten waren oder der UdSSR mit Sympathie gegenüberstanden. Es war für die DDR selbstverständlich, dass jedes Mitglied des Widerstandes an seiner Einstellung zur KPD und zur UdSSR gemessen und entsprechend als „fortschrittlich“ oder als „reaktionär“ eingestuft wurde. Christen hatten bei diesem Raster nur geringe Chancen auf gerechte Würdigung.
Dabei gibt es wohl keine andere Gruppe des deutschen Widerstandes, deren weltanschaulicher und politischer Pluralismus ähnlich breitgefächert war wie bei der „Roten Kapelle“. Zunächst war diese Gruppe eine Art Arbeitskreis, ein Diskussionszirkel, in dem viele Meinungen aufeinander trafen. Das Wort führten Männer, die schon in der Weimarer Republik Mitglieder der KPD waren, aber auch andere, die später kommunistische Überzeugungen angenommen hatten oder ihnen nahe standen. Es gab Männer und Frauen, die in sozialistischen Ideen beheimatet waren, aber es gab auch andere, die eher in der humanistischen und bürgerlichen Tradition lebten. Es gab junge Christinnen, die erst durch ihre Partner zu dieser Widerstandsgruppe gefunden hatten, ohne deren ganzen Hintergrund und alle Aktivitäten zu kennen. In einem waren sich jedoch alle einig: Im Nein zur NS-Herrschaft und im Willen, etwas dagegen zu tun, statt die Hände ängstlich in den Schoß zu legen. Das bedeutete für einige auch militärische Nachrichtenübermittlung nach Moskau, nachdem im Jahre 1940 Kontakte zur sowjetischen Botschaft in Berlin entstanden waren. Für andere standen humanitäre Hilfe für verfolgte Juden und die Verteilung von Flugschriften im Vordergrund.
In der Unterkirche der Berliner St. Hedwigs-Kathedrale wird auf der großen Gedenktafel für Blutzeugen des Bistums Berlin auch an zwei Frauen erinnert, die der sogenannten „Roten Kapelle“ zugeordnet werden: Eva-Maria Buch und Maria Terwiel. Die Erstere stammt aus dem, was man katholisches Milieu nennt: katholisch geprägtes Elternhaus, sechs Jahre Erziehung bei den Ursulinen in Berlin. Ihre Bekanntschaft mit Wilhelm Guddorf, der ebenfalls aus einer katholischen Familie stammte und später Redakteur der „Roten Fahne“ und KPD-Mitglied wurde, brachte Eva-Maria Buch in den Freundeskreis jener Männer und Frauen, die aktiven Widerstand gegen die NS-Diktatur leisten wollten. Die junge Frau lernte durch ihren politisch erfahrenen Freund eine neue Sicht der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit. Da sie an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität studiert und selbst Sprachunterricht erteilt hatte, übernahm sie für Guddorf Übersetzungsarbeiten ins Französische. Dazu gehörten auch antinazistische Flugblätter für Zwangsarbeiter, die in deutschen Rüstungsbetrieben arbeiteten. Vier Monate nach ihrer Verhaftung im Oktober 1942 wurde ihr vor dem Reichskriegsgericht der Prozess gemacht. Auf die dortige Frage, ob sie wohl die im Prozess genannten Handlungen ihrer Freunde angezeigt hätte, wenn ihr deren Taten bekannt gewesen wären, wies sie dieses Ansinnen entrüstet zurück mit den Worten: „Angezeigt? Dann erst wäre ich so niederträchtig und verdorben, wie Sie mich hinstellen möchten.“ Am Ende stand die Todesstrafe „wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens und wegen Feindbegünstigung“. In ihrem Abschiedsbrief unmittelbar vor der Hinrichtung schrieb sie ihren Eltern, denen sie sich als Einzelkind besonders verbunden wusste, von ihrer christlichen Hoffnung über die Todesstunde hinaus: „Auf ein frohes Wiedersehen im anderen Leben! Wartet ab in Geduld, bis auch ihr gerufen werdet.“ Eva-Maria Buch wurde am 5. August 1943 in Plötzensee hingerichtet.
Auch die Halbjüdin Maria Terwiel entstammte einem katholischen Elternhaus. Ihre berufliche Zukunft als Juristin war ebenso blockiert wie ihr Ehewunsch mit dem Zahnarzt Helmut Himpel. Der Grund: die Nürnberger Rassegesetze machten eine Eheschließung mit einer Halbjüdin unmöglich. Maria Terwiel entschied sich trotzdem zur Lebensgemeinschaft mit dem evangelischen Zahnarzt. In Himpels Praxis in der Lietzenburger Straße kamen Patienten aus Politik und Kunst, aber auch Personen, die Kontakte zur Gruppe Schulze-Boysen hatten. Es begann eine humanitäre und publizistische Untergrundarbeit. Maria Terwiel unterstützte untergetauchte jüdische Mitbürger mit Lebensmittelkarten, beschaffte ihnen Personalpapiere, um im Berliner Untergrund zu überleben und – was ihr besonders zur Last gelegt wurde – sie vervielfältigte auf ihrer Schreibmaschine in Hunderten von Exemplaren Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, in denen er 1941 gegen die Euthanasie protestiert hatte. Die damals in Berliner Gemeinden kursierenden Predigttexte gehen vermutlich zu einem erheblichen Teil auf ihre mühsame Abschreibarbeit zurück. Sie beteiligte sich auch im Mai 1942 an der nächtlichen Zettelklebeaktion, mit der die Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten kritisiert wurde. Die Berliner rieben sich die Augen, als sie damals an den Häuserwänden des Kurfürstendammes und in anderen Straßenzügen Klebezettel mit der Aufschrift lasen: „Ständige Ausstellung Das Naziparadies – Krieg – Hunger – Lüge – Gestapo- wie lange noch?“
Im September 1942 verhaftete die Gestapo wie schon zuvor andere Mitglieder der „Roten Kapelle“ auch das Paar Himpel-Terwiel. Beiden wurde der Prozess vor dem Reichskriegsgericht gemacht, der jeweils mit der Todesstrafe „wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens und wegen Feindbegünstigung“ endete. Die Nachricht, dass das Todesurteil an ihrem Lebensgefährten vollstreckt sei, bedeutete für Maria Terwiel eine abgründige Prüfung, die zu einem Suizidversuch führte. Aber sie gewann die innere Lebenskraft zurück und wurde sogar zur Trösterin für ihre Mitgefangenen. So übermittelte sie einer Polin, die auch mit der Todesstrafe rechnen musste, den Liedtext von Paul Gerhardt: „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir; wenn ich den Tod soll leiden, so tritt Du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft Deiner Angst und Pein.“ Abschiedsbriefe im Angesicht des Todes sind Zeugnisse, die den Menschen in seiner letzten Wesensgestalt offenbaren. So schrieb Maria Terwiel: „Ich habe absolut keine Angst vor dem Tode und schon gar nicht vor der göttlichen Gerechtigkeit; denn die brauchen wir nicht zu fürchten.“ Gleichzeitig hob sie die Bedeutung der Heiligen Schrift für ihr Leben hervor und urteilte: „Jedenfalls steht eines fest: das genialste, schönste und ergreifendste Werk, das die Weltliteratur aufzuweisen hat, ist und bleibt allen Stürmen zum Trotz das Neue Testament.“ Ihre polnische Mitgefangene habe ihr täglich aus ihrem polnischen Exemplar übersetzt. Das sei „die schönste Stunde am Tage“ gewesen. Als Angehörige ihr eine deutsche Ausgabe der Heiligen Schrift bringen wollten, wurde das vom Gefängnisbeamten verweigert. Auch ihr Lebensgefährte, der evangelische Christ Helmut Himpel, hinterließ ein Zeugnis, das seine Glaubenshaltung im Wissen um die eigene Todesstunde zeigt. Er schrieb: „Wenn Dir manchmal das Herz schwer wird und Du kein Ziel mehr siehst: flüchte Dich in Deine Klause, spiel etwas gute Musik und dann lies aus dem Neuen Testament den 13. Absatz des ersten Korintherbriefs!“ Was muss diesem Mann das Hohe Lied der Liebe, wie es der Apostel Paulus formuliert hat, geistlich bedeutet haben, die Sätze „die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, sie ist nicht eifersüchtig, sie prahlt nicht und bläht sich nicht auf“. Himpel wurde am 13. Mai 1943 in Plötzensee hingerichtet, Maria Terwiel am 5. August 1943.
Ganz anders als die „Rote Kapelle“ war im Vorfeld des „20. Juli“ in Berlin der Solf-Kreis zusammengesetzt. Hier trafen sich regelmäßig ehemalige und aktive Diplomaten, Offiziere der Abwehr und Männer aus Gesellschaft und Kultur. Mittelpunkt des Kreises war Johanna Solf, die Witwe des ehemaligen Botschafters in Tokio. Dieser Kreis war kein Planungsgremium für einen Staatsstreich oder für ein Attentat, obwohl über die Ablehnung des braunen Weltanschauungsstaates Konsens bestand. Es war eher eine Art Hilfsgemeinschaft für Verfolgte, für Kritiker und Gegner des NS-Staates; also eine Insel der Humanität und des freimütigen Wortes. Zu dieser Teegesellschaft gehörte u. a. der Diplomat Otto Kiep. Weniger bekannt ist dagegen Prof. Dr. Friedrich Erxleben, ein katholischer Priester aus dem Bistum Trier, der im Solf-Kreis ein gern gesehener Gast war. Carl Zuckmayer hat ihn später in seinem Buch „Als wär’s ein Stück von mir“ so beschrieben: „Obwohl noch nicht ganz Fünfzig, wirkte er alters- und zeitlos; einerseits wie das Bildnis eines alten und weisen Erzabtes, andererseits wie ein Mann von jugendlichem Feuer. In ihm verbanden sich Frömmigkeit, echter unbeirrbarer Glaube so sehr mit hoher Intelligenz und geistiger Aufgeschlossenheit, ohne dass man je einen Bruch oder Zwiespalt bei ihm empfand.“ Pfarrer Erxleben hatte als Polizeiseelsorger zunächst noch Zutritt zum „Staatskrankenhaus der Polizei“ in der Berliner Scharnhorststraße und hat dort nicht selten von der SA zusammengeschlagene Opfer gesehen. Nachdem die Gestapo einen Spitzel eingeschleust hatte, wurden am 12. Januar 1944 mehrere Mitglieder des Solf-Kreises verhaftet. Graf Moltke wollte seinen Freund Kiep vor der drohenden Verhaftung warnen. Das führte am 19. Januar zu Moltkes eigener Verhaftung. Erxleben traf dieses Schicksal am 17. Mai 1944. Er kam nach Ravensbrück, dann in das Gefängnis Lehrter Straße. Während Kiep vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, kam eine für den 28. April 1945 angesetzte Verhandlung und Verurteilung für Johanna Solf, Friedrich Erxleben und drei weitere Mitglieder des Kreises nicht mehr zustande. Der Trierer Geistliche hätte mit der Todesstrafe wegen Hochverrat rechnen müssen. Die Eroberung Berlins durch die Rote Armee brachte ihm die Befreiung. Erxleben, der mit Theodor Heuss befreundet war, hat später über seine Erfahrungen im Solf-Kreis und über die verschärften Vernehmungen bei der Gestapo nie gesprochen. Ein Mann wie er und ebenso mancher andere, Christen und Nichtchristen, Gewerkschafter und Kommunisten, verdienten eigentlich mehr als nur Fußnoten in der Geschichte des deutschen Widerstandes.
War der „20. Juli“ ein Widerstand ohne Volk, wie man formuliert hat? Sicher Ja in dem Sinne, dass die breite Mehrheit der deutschen Bevölkerung keinen aktiven Widerstand gegen das totalitäre Herrschaftssystem geleistet hat. Die braune Offensive der Angst gegen Andersdenkende setzte schon kurz nach dem 30. Januar 1933 ein. Der Gleichschritt der SA-Kolonnen war Modell für die Uniformität des Denkens, die spätestens seit der Mordaktion vom 30. Juni 1934 der Gesellschaft aufgezwungen werden sollte. Die Instrumente der Angst und der permanenten Einschüchterung hießen Gestapo, Denunziation und Verhaftung, Verlust des Arbeitsplatzes und Ausgrenzung aus der vielbeschworenen Volksgemeinschaft. Es gab nicht wenige, die sich trotzdem dem neuen Denken verweigerten und die Konsequenzen der Nichtanpassung auf sich nahmen. Die historische Forschung hat belegt, dass auch die Zahl der Christen, die schon in den ersten Jahren des Dritten Reiches mit der Gestapo in Konflikt gerieten und teilweise in Konzentrationslager eingeliefert wurden, erheblich ist, darunter viele katholische und evangelische Geistliche und Laien. Aber andererseits gab es die große Mehrheit, die entweder die neue, das Nationalgefühl stärkende NS-Politik bejahte, jedenfalls in den Jahren der außenpolitischen und militärischen Siege Hitlers. Und es gab andere, die das System zwar ablehnten, es aber höchstens hinter vorgehaltener Hand kritisierten. Der Weg in die innere Emigration schien alternativlos. Zur letzteren Gruppe gehörten evangelischerseits besonders Mitglieder des Pfarrernotbundes und der Bekennenden Kirche um Martin Niemöller, katholischerseits die große Mehrheit der Geistlichen und viele praktizierende Gemeindemitglieder, die noch die alte Warnung der Zentrumspartei im Ohr hatten „Hitler, das bedeutet Krieg!“ Die offene Konfrontation mit der Staatsmacht wurde jedoch vermieden. Schließlich hatte auch die Fuldaer Bischofskonferenz im Hirtenbrief vom 28. März 1933 die weltanschaulichen Vorbehalte gegenüber dem Nationalsozialismus zwar aufrechterhalten, aber gleichzeitig frühere Verbote und Warnungen aufgehoben. Das bedeutete für die Mehrheit der Katholiken: Sucht einen Modus vivendi, ohne die eigene Identität zu verlieren. Damit verbunden waren brisante Gewissensfragen: Durfte man als Deutscher Deutschlands Niederlage im Krieg herbeisehnen, um Hitler loszuwerden? War ein Tyrannenmord verantwortbar? War er mit einem geleisteten Eid zu vereinbaren? Und andererseits: Wer wollte schon sehenden Auges in Gefängniszellen oder hinter Stacheldraht eines KZ landen? Wer wollte den Zugriff der Gestapo mit ungewissen Konsequenzen riskieren? Angst und Einschüchterung waren die großen Stabilisierungsfaktoren des Systems, damals in der braunen Diktatur ähnlich wie später in der roten.
Aber es gab auch Männer, die ihr inneres Aufbegehren gegen das NS-System nicht als verhüllte Privatangelegenheit betrachteten. Die Planungen mancher Militärs für einen Staatsstreich reichen bekanntlich bis in die Sudetenkrise des Jahres 1938 zurück. Aber erst nach Beginn des Russlandfeldzuges verbesserten sich die politischen und militärischen Voraussetzungen, unter denen Generäle und Offiziere wie Beck, Oster, Tresckow und schließlich Stauffenberg mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg auf einen Sturz Hitlers hinarbeiteten, natürlich unter strenger Beachtung der Regeln der Konspiration. Rückschauend muss man sagen: vieles, wenn nicht fast alles hing am Wagemut, am selbstlosen Einsatzwillen und an der bedingungslosen Zivilcourage einiger weniger.
Den Gestapobeamten der „Sonderkommission 20. Juli“, die die ständig anwachsende Zahl der Verhafteten zu vernehmen hatten, wurde bald deutlich, welche politischen Motive und welche weltanschaulichen Grundlagen die einzelnen Verschwörer zu diesem Umsturzversuch getrieben haben. Die umfangreichen „Kaltenbrunner-Berichte“, die Ergebnisse der Vernehmungen, die an Martin Bormann zur Münchener Parteikanzlei geschickt wurden, sind verständlicherweise mit Vorsicht zu genießen und zwar deshalb, weil sich streckenweise Unterstellungen der Vernehmer mit Schutzbehauptungen der Vernommenen vermischen. Aber die Feststellung vom 4. Oktober 1944 trifft zweifelsfrei zu: „In den Untersuchungen zum 20. Juli 1944 stellt sich immer wieder heraus, dass die konfessionellen Bindungen und kirchlichen Beziehungen in der Verschwörerclique eine große Rolle gespielt haben:
1. Ein Teil der Personen, die in die Untersuchungen einbezogen werden mussten, gibt an, gläubige Christen der evangelischen oder katholischen Konfession zu sein.
2. Ein weiterer Teil hält an den traditionellen Bindungen christlich-kirchlicher Art fest.
3. Eine ganze Anzahl der am 20.7. Beteiligten kommt aus der politischen Arbeit des Katholizismus (Katholische Aktion, Zentrum, Christliche Gewerkschaften) oder steht in der Bekenntnisfront.
4. Bei aller Verschiedenheit des Verhältnisses, das die einzelnen Personen zum Christentum und zur Kirche haben, haben diese konfessionellen Bindungen das Verhältnis zum Nationalsozialismus zumindest dahingehend bestimmt, dass man dem Nationalsozialismus mit Vorbehalten, kritisch oder ablehnend gegenüberstand.“
Die Verschwörer hätten über alle Unterschiede und Gegensätzlichkeiten hinweg die Auffassung vertreten, „dass das Christentum die sittliche Grundlage des Staates abgeben sollte“. An anderer Stelle heißt es in den Kaltenbrunner-Berichten: „In einer Fülle von Vernehmungen erscheint immer wieder als Argument, dass man die Kirchenpolitik des Nationalsozialismus nicht habe billigen können.“ Im Übrigen ist den Vernehmungsbeamten auch nicht entgangen, dass die „starke konfessionelle Gebundenheit des reaktionären Verschwörerkreises“ auch dessen Einstellung zur Rassenfrage – also zur Judenverfolgung – stark beeinflusst hat. An keiner Stelle der Kaltenbrunner-Berichte wird in diesem Zusammenhang unterschieden zwischen Mitgliedern des militärischen und zivilen Widerstands und den Männern des Kreisauer Kreises. Die Haltung wurde also als allgemein- typisch angesehen.
Wie sehr christliche Überzeugungstreue, wie sehr die Bindung an christliche Werte den Weg zum „20. Juli“ mitbestimmt haben, wird an einem Mann besonders deutlich, der mit messerscharfem Intellekt, mit großer Willensstärke und unbestechlicher Geradlinigkeit das Dritte Reich beurteilt und abgelehnt hat: Helmuth James Graf von Moltke. Als führender Kopf des Kreisauer Kreises, von der Gestapo benannt nach dem Moltke-Gut Kreisau in Niederschlesien, hat er in Berlin, in München und in Kreisau Männer um einen Tisch versammelt, die - salopp gesagt - auf seiner Wellenlänge lagen. Dabei brachte jeder auch seine ureigene politische Überlieferung aus der deutschen Geschichte mit, seine Einstellung, die durch die Traditionen des 19. Jahrhunderts und der Weimarer Republik geprägt war. Geistiger Mittelpunkt dieses Gesprächskreises, der keine förmliche Mitgliedschaft kannte, waren Moltke und sein Freund, Peter Graf Yorck von Wartenburg. Die etwa 20 aktiven Gesprächsteilnehmer und etwa ebenso vielen Sympathisanten schmiedeten keine Staatsstreichpläne. Sie organisierten keinen Fahrplan eines gewaltsamen Umsturzes. Sie wollten eine politische Plattform schaffen für die Zeit nach Hitler. Sie wollten eine Art Generalstabsarbeit leisten für diesen Tag X plus 1. Es ging ihnen um die Grundzüge einer geistigen, politischen und sozialen Neuordnung Deutschlands nach dem vorhersehbaren Ende der NS-Herrschaft. Moltke hat dieses Ziel einmal so formuliert: „Der Ausgangspunkt für eine Neuordnung liegt in der verpflichtenden Besinnung des Menschen auf eine sittliche Ordnung, die sein äußeres und inneres Dasein trägt. Erst wenn es gelingt, eine solche Ordnung zum Maßstab der Beziehungen zwischen den Menschen und den Völkern zu machen, kann die Zerrüttung unserer Zeit überwunden und ein echter Friedenszustand geschaffen werden.“ Die drei Kreisauer Treffen, die Pfingsten und im Oktober 1942 stattfanden und dann noch einmal Pfingsten 1943, wollten die Bausteine legen für diese neue Ordnung. Es sollten dabei unterschiedliche politische und weltanschauliche Positionen berücksichtigt werden. Der Sachverstand des Jesuitenprovinzials Augustin Rösch, der Jesuitenpatres Alfred Delp und Lothar König und die Meinungsbeiträge des evangelischen Theologen Eugen Gerstenmaier waren ebenso gefragt wie die Auffassungen des Reformpädagogen Adolf Reichwein, des früheren SPD-Reichstagsabgeordneten Carlo Mierendorff und des Journalisten Theodor Haubach.
Moltke, den Freisler später vor dem Volksgerichtshof geradezu als „Motor des 20. Juli“ bezeichnet hat, war seit 1941 zielstrebig bemüht, für seine Pläne auch den Konsens hoher kirchlicher Stellen einzuholen. Vom September dieses Jahres bis zu seiner Verhaftung im Januar 1944 hat er immer wieder den Berliner Bischof Preysing aufgesucht. Die zahlreichen Briefe an seine Frau Freya spiegeln das Spektrum dieser Gespräche wider, bei denen viele Informationen hin- und hergingen, nicht zuletzt über die Judenverfolgung. Denn durch das 1938 gegründete „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“ zur Unterstützung verfolgter Juden hatte der Berliner Bischof Einblick in die braune Rassenpolitik wie nur wenige damals in Deutschland. Andererseits hat Moltke den introvertierten, juristisch geschulten Aristokraten und Bischof zu einer noch klareren Sprache auf der Kanzel gedrängt, wenn auch mit wenig Erfolg. Preysing war kein Galen. Seine Vorwärtsverteidigung im Kirchenkampf war zwar entschiedener als die Haltung seiner bischöflichen Mitbrüder, aber er vermied dennoch die offene Konfrontation mit der braunen Diktatur. Er wusste zu genau, dass dabei weniger die Bischöfe als die katholischen Gemeinden die Verlierer gewesen wären. Moltke hat auch Kontakte zum Münchener Kardinal Faulhaber aufgenommen, ebenso zum Fuldaer Bischof Dietz, zum Freiburger Erzbischof Gröber, zu Kardinal Bertram von Breslau und zum evangelischen Landesbischof Wurm von Württemberg. Am intensivsten und für die konkrete Arbeit am effizientesten bis in die Formulierungen der Arbeitspapiere hinein waren allerdings die Gespräche mit Preysing, der deshalb auch von Historikern zum erweiterten Gremium des Kreisauer Kreises gerechnet wird.
Moltke lehnte wie die meisten Mitglieder des Kreisauer Kreises den Tyrannenmord ab. Das musste sogar Freisler beim Volksgerichtshofprozess einräumen. Moltke schrieb seiner Frau dazu: „Wir sind nach dieser Verhandlung aus dem Goerdeler-Mist raus, wir sind aus jeder praktischen Handlung heraus, wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben.“ Gleichzeitig war sich Moltke bewusst, dass er sich letztlich als Mann mit konsequenter christlicher Überzeugung zu verantworten hatte. Er schrieb über seinen Prozess am 10. Januar 1945: Er habe vor seinem Richter gestanden „nicht als Protestant, nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher … sondern als Christ und als gar nichts anderes.“ Abschiedsbriefe sind immer ein Stück untrüglicher, ungeschminkter Selbstoffenbarung. Das wird auch in Moltkes Abschiedsbrief an seine Frau Freya deutlich, den er am 11. Januar 1945, also unmittelbar nach dem Todesurteil durch den Volksgerichtshof geschrieben hat. Für ihn muss die Welt des Neuen Testamentes Lebensquelle und Maßstab gewesen sein. Wie anders käme er in seinem letzten Brief an seine Frau auf das Hohe Lied der Liebe zu sprechen, das der Apostel Paulus im 13. Kapitel seines ersten Briefes an die Gemeinde in Korinth niedergeschrieben hat. Es beginnt mit dem Satz: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, aber die Liebe nicht hätte, wäre ich tönendes Blech oder lärmendes Schlagzeug.“ Und dann zählt Paulus Eigenschaften der Liebe auf, die er für wesentlich hält: „Langmütig, gütig, nicht eifersüchtig, nicht prahlerisch.“ Moltke gesteht seiner Frau im Angesicht seines sicheren Todes: „Du bist mein 13 tes Kapitel des ersten Korintherbriefes. Ohne dieses Kapitel ist kein Mensch ein Mensch.“ So kann nur jemand schreiben, der zutiefst im Wort Gottes verwurzelt ist.
Warum ist der Bekanntheitsgrad von Männern des Widerstandes heute so unterschiedlich? Warum gibt es zahlreiche Namen, die nur noch Fachhistorikern bekannt sind, andere dagegen sozusagen in aller Munde sind? Das hat sicher etwas mit der Rezeptionsgeschichte des „20. Juli“ zu tun, und zwar in Ost und West. Es hat aber wohl auch damit zu tun, ob der einzelne umfangreiche schriftliche Zeugnisse und Briefe hinterlassen hat oder nicht. Manche Biographien und zeitgeschichtliche Monographien sind wohl deshalb ungeschrieben geblieben, weil es an hinreichenden schriftlichen Zeugnissen fehlt, vielleicht aber auch, weil sich nicht genügend qualifizierte Biographen gefunden haben.
Beides trifft für jenen Mann nicht zu, der laut Todesurteil vom 11. Januar 1945 „einer der aktivsten Verratsgehilfen“ Moltkes war: der Jesuitenpater Alfred Delp. Über ihn entlud sich vor dem Volksgerichtshof die ganze gehässige Feindschaft und spöttische Wut Freislers über die katholische Kirche und den Jesuitenorden. Delp ist einer der wenigen aus dem deutschen Widerstand, dessen Einsatz schon wenige Jahre nach Kriegsende einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland bekannt geworden ist. Das lag nicht zuletzt daran, dass der ehemalige Schriftleiter der Jesuitenzeitschrift „Stimmen der Zeit“ hochbegabt war, und dass es ihm gelungen war, auch in der Gefängniszelle, zuletzt mit gefesselten Händen, mehrere Aufsätze und Briefe zu schreiben, die herausgeschmuggelt werden konnten. Nach dem Krieg sind diese Meditationen schon bald unter dem Titel „Im Angesicht des Todes“ veröffentlicht worden und haben ein breites Publikum gefunden.
P. Delp war über seinen Provinzial, Augustin Rösch, 1941 in den Kreisauer Kreis gekommen und am 28. Juli 1944 in seiner Gemeinde in München-Bogenhausen verhaftet worden. Bei den „verschärften Vernehmungen“, die offiziell genehmigte Folter bedeuteten, suchte man immer wieder Geständnisse zu erpressen. Ende September kam Delp, wie andere „Kreisauer“ in die Strafanstalt Tegel und zwar in die Abteilung 8, in „das Totenhaus“, wo die Todeskandidaten untergebracht wurden. Hier schrieb er seine Meditationen, die in ihrer Aussagekraft den urchristlichen Märtyrerakten an die Seite gestellt werden können. Zum Fest Epiphanie, also zum 6. Januar 1945, schrieb der gefesselte Delp u. a. über die Freiheit: „Der Mensch muss frei sein. Als Sklave, in Kette und Fessel, in Kerker und Haft verkümmert er. Über die äußere Freiheit hat sich der Mensch viele Gedanken und Sorgen gemacht. Er hat erst unternommen, seine äußere Freiheit zu sichern, und er hat sie doch immer wieder verloren. Das Schlimme ist, dass der Mensch sich an die Unfreiheit gewöhnt und selbst die ödeste und tödlichste Sklaverei sich als Freiheit aufreden lässt… Adoro und Suscipe sind die beiden Urworte der menschlichen Freiheit. Das gebeugte Knie und die hingehaltenen leeren Hände sind die beiden Urgebärden des freien Menschen.“ Obwohl Delp nicht gleich nach dem Todesurteil hingerichtet wurde, vermutlich um für eine Gegenüberstellung mit dem inzwischen verhafteten Provinzial Rösch verfügbar zu sein, dauerte der Aufschub doch nur etwa drei Wochen. Am 2. Februar 1945 wurde er im Alter von 37 Jahren in Plötzensee hingerichtet.
Im Gegensatz zu Delp, den Freisler für einen mit allen Wassern gewaschenen Jesuiten hielt, spielte Eugen Gerstenmaier vor dem Volksgerichtshof die Rolle des blassen, total weltfremden kirchlichen Bürokraten, wie er im Buche steht. Der Konsistorialrat im Außenamt der evangelischen Kirche verstand es, seine tiefe Verstrickung in den Staatsstreich so zu tarnen, dass man ihn für einen „politischen Schafskopf“ hielt, aber eben auch deshalb für politisch unzurechnungsfähig. Gerstenmaier hatte als Leiter des Ökumenischen Referates zahlreiche Auslandskontakte, die oppositionellen Kreisen wichtig waren. Er nahm an der 2. und 3. Kreisauer Tagung teil, wusste also viel über die Pläne für die zukünftige Neuordnung Deutschlands. Er hat nicht nur mitgedacht, sondern sich auch am Nachmittag des 20. Juli, mit Bibel und Pistole in der Tasche, im Bendlerblock aufgehalten. Nach Moltkes Verhaftung hatte er sich ebenso wie mehrere Mitglieder des Kreisauer Kreises dem militärischen Widerstand um Stauffenberg angeschlossen. Der Gestapo entging in allen Vernehmungen auch die Tatsache, dass ihm bereits die Ernennungsurkunde zum Militärbevollmächtigten für die Gebiete des Reichskirchen- und Reicherziehungsministeriums übergeben worden war. Gerstenmaier hat seine Anwesenheit im OKH in der Stunde des Staatsstreiches zwar zugeben müssen, deckte sich aber mit der Schutzbehauptung, er habe gemeint, es ginge um Konflikte mit den Engländern oder Russen. Seine mit penetranter Genauigkeit und in schwäbischem Tonfall vorgetragenen Einlassungen müssen das Gericht zu dem Eindruck gebracht haben, man habe es mit einem gutmeinenden Christen zu tun, der offensichtlich in einer anderen Welt lebt. An das Jesus-Wort „Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben“ fühlten sich die Richter offenbar nicht erinnert. Auch unter dem Druck verschärfter Vernehmungen hat der schwäbische Kirchenmann nie die Überlebenskraft seines Glaubens verloren. Beim „Zirkus-Laufen“ auf dem Gefängnishof in Tegel flüsterte er Delp einmal zu: „Eher hoffe ich mich zu Tode als dass ich im Unglauben krepiere.“ In der unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verhandlung am 11. Januar 1945 hat Gerstenmaier den Vorwurf des Defaitismus mit der Behauptung beantwortet, er hätte es nie für möglich gehalten, dass Deutschland den Krieg verliere. Wenn ihm jemand vor einem Jahr gesagt hätte, die Russen stehen heute in Ostpreußen und die Amerikaner am Rhein, dann hätte er gesagt, du spinnst. Eine Schutzbehauptung, die zugleich eine unüberhörbare Herausforderung für die Endsieg-Propheten auf der Richterbank war. Zwar wurde für den evangelischen Theologen trotz dieser Narrenrolle die Todesstrafe beantragt, aber das Urteil lautete dann doch nur sieben Jahre Zuchthaus wegen Nichtmeldung eines Verbrechens. Gerstenmaier wurde im Zuchthaus Bayreuth im April 1945 von den Amerikanern befreit. Er ist dann nach dem Krieg von 1954-1969 Präsident des Deutschen Bundestages gewesen.
Zu den weniger bekannten Persönlichkeiten des engeren Kreisauer Kreises, und wie ich meine zu Unrecht, zählt Theodor Steltzer, nach dem Krieg in den Jahren 1946 und 1947 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Sein Lebenshintergrund war geprägt durch die bürgerliche Welt der Weimarer Republik. Als Landrat in Rendsburg hatte er an seiner Ablehnung der NSDAP keinen Zweifel gelassen. Die Denkschrift vom April 1933 über „Grundsätzliche Gedanken über die deutsche Führung“, verfasst für die österreichische Regierung, trug ihm nicht nur eine Anzeige und Verhaftung wegen Hochverrat ein, sondern auch den Verlust des Arbeitsplatzes. Er wurde Leiter des Sekretariates der evangelischen Michaelsbruderschaft in Marburg, einer Erneuerungsbewegung vom Abendmahl her und im Wissen um den Auftrag der Ökumene. 1940 wurde Steltzer Transportoffizier beim Wehrmachtsbefehlshaber Norwegen. Es begannen Kontakte zu Graf Moltke, den er bei jeder Berlin-Reise besuchte. Hier lernte er auch die Gruppe jener Generäle kennen, die am „20. Juli“ in der ersten Reihe des militärischen Widerstandes standen: Generaloberst Beck und die Generäle von Witzleben und Olbricht. Mehrfach hat er zusammen mit Graf Moltke Bischof Preysing besucht, um dessen Auffassungen zum Verhältnis Staat und Kirche näher kennen zu lernen. Mit Moltke war er sich in der Ablehnung eines Attentats auf Hitler einig, nicht zuletzt aus Sorge vor einer neuen Dolchstoßlegende. Noch kurz vor dem 20. Juli 1944 verfasste Steltzer eine Denkschrift für die britische Regierung über „Die deutsche Opposition gegen den Nationalsozialismus“. Freunde in der norwegischen und schwedischen Kirche leiteten sie nach London weiter. Auf der Liste der Landesverweser, die nach dem geglückten Umsturz die vollziehende Gewalt übernehmen sollten, tauchte Steltzers Name für Schleswig-Holstein auf. Damit war sein Schicksal besiegelt, obwohl die Gestapo zunächst seine Mitarbeit im Kreisauer Kreis noch nicht kannte. Freisler verurteilte ihn am 15. Januar 1945 zum Tode. Unmittelbar vor der geplanten Vollstreckung des Urteils verfügte Himmler die Aussetzung der Hinrichtung. Der Grund: Skandinavische Freunde Steltzers hatten den finnischen Medizinalrat Kersten eingeschaltet, der als Privatmasseur Himmlers großen Einfluss besaß. Kersten schickte seine Sekretärin mit einem Brief in Himmlers Hauptquartier nach Prenzlau und hatte Erfolg. Für Himmler war das sicher kein Akt der Barmherzigkeit, sondern eher der politischen Berechnung. Er wollte es offenbar mit denen nicht ganz verderben, auf deren Hilfe er nach dem herannahenden Kriegsende vielleicht einmal angewiesen sein könnte. Steltzer, der im Gefängnis Lehrter Strasse einsaß, ist dann im April 1945, kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee, entlassen worden.
Der unmittelbar nach dem Hitler-Attentat verhaftete Peter Graf Yorck von Wartenburg hatte im Kreisauer Kreis und später im militärischen Widerstand eine größere Bedeutung als ihm in der Literatur zuerkannt wird. Die Erinnerung an ihn verblasste unangemessen durch das bald nach dem Krieg entstandene Märtyrerbild von Moltke. Als Träger eines großen Namens war der Verwaltungsjurist Yorck von Wartenburg 1939 als Reserveoffizier eingezogen worden und leistete seinen Wehrdienst zuletzt im Wirtschaftsstab Ost des OKW. Er hatte also von daher schon eine besondere Nähe zu den Männern des militärischen Widerstandes. Seine distanziert herzliche Freundschaft zu seinem schlesischen Landsmann Moltke gründete sich nicht zuletzt auf den gemeinsamen christlichen Wertekodex. In seiner Wohnung in der Hortensienstrasse in Lichterfelde-West fanden immer wieder kleine konspirative Treffen Gleichgesinnter statt. Bis zur Verhaftung von Moltke lehnte Yorck den gewaltsamen Sturz Hitlers ab, stellte sich danach aber ganz hinter die Pläne von Stauffenberg. In Gerstenmaier fand er einen vertrauten Gesprächspartner, mit dem zusammen er auch regelmäßig evangelische Sonntagsgottesdienste besuchte. Am Abend des 16. Juli 1944 nahm er an dem Gespräch der Verschwörer in Stauffenbergs Wohnung in der Tristanstraße in Wannsee teil, bei dem noch einmal alle Varianten und Risiken des Umsturzes durchdiskutiert wurden. In der neuen Regierung nach Hitlers Sturz sollte Yorck das Amt eines Staatssekretärs in der Reichskanzlei übernehmen. Bei der Ausgabe des Stichwortes „Walküre“ am 20. Juli hielt er sich an Stauffenbergs Seite im Bendlerblock auf. Die Gestapo verhaftete ihn sozusagen auf frischer Tat. Er wurde bereits am 8. August zum Tode verurteilt und kurz nach der Urteilsverkündung unter grellem Scheinwerferlicht und vor laufender Kamera in Plötzensee hingerichtet. Sein aus dem Gefängnis geschriebener Abschiedsbrief an seine Mutter ist ein bewegendes Dokument, das einen Mann zeigt, der mit sich, mit seinem Gewissen und mit Gott in Einklang ist. Es heißt da u.a.: „Am Ende eines an Liebe und Freundschaft überreich gesegneten Lebens habe ich nur Dank gegen Gott und Demut unter seinen Willen. Dass ich Dir diesen Kummer bereite, ist mir ein sehr großer Schmerz nach alledem, was Du an Traurigem erleben musstest… Ich habe über zwei Wochen Zeit gehabt, mich und mein Handeln vor Gott zu stellen und bin überzeugt, in ihm einen gnädigen Richter zu finden… Dich darf ich versichern, dass kein ehrgeiziger Gedanke, keine Lust nach Macht mein Handeln bestimmte. Es waren lediglich meine vaterländischen Gefühle, die Sorge um mein Deutschland, wie es in den letzten zwei Jahrtausenden gewachsen ist, das Bemühen um seine innere und äußere Entwicklung, die mein Handeln bestimmten.“ Wenn von Christen und dem „20. Juli“ die Rede ist, darf der Name Yorck von Wartenburg nicht fehlen.
Zwischen dem zivilen und militärischen Widerstand und ähnlich zwischen beiden Gruppen und dem Kreisauer Kreis gab es auf dem langen Weg bis zum „20. Juli“ immer wieder Differenzen und nicht selten persönlich gefärbte Meinungsverschiedenheiten. Viele Spannungen entstanden durch die Person des ehemaligen Leipziger Oberbürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler. Besonders Moltke hatte für dessen, wie er meinte, reaktionäre politische Konzepte keinerlei Sympathien. Auch der pommersche Gutsbesitzer Ewald von Kleist-Schmenzin teilte nicht alle Meinungen Goerdelers, stand ihm aber als Nationalkonservativer mit unverrückbarem christlichen Wertekodex doch wesentlich näher. Kleist-Schmenzin war Hitler-Gegner der ersten Stunde und hatte Hindenburg noch in einem Gespräch von seiner Fehlentscheidung des 30. Januar 1933 abzuhalten versucht. Während der Sudetenkrise reiste er im Auftrag des militärischen Widerstandes nach London, fand aber auch bei Churchill nicht die erhoffte Resonanz. In Stauffenbergs Pläne war er eingeweiht und sollte nach dem Staatsstreich politischer Beauftragter des Wehrkreises Stettin werden. Bei den Vernehmungen nach seiner Verhaftung bekannte sich der protestantische Christ zu seiner Ablehnung Hitlers als „gottgegebenem Gebot“. Vor seiner Hinrichtung hat Kleist-Schmenzin mehrere Briefe geschrieben, die ein eindrucksvolles Bekenntnis seiner Gewissenstreue und seines ungebrochenen Gottvertrauens darstellen. Am 6. Januar 1945 schrieb er: „Seit langer Zeit ist meine Stimmung zum ersten Mal wieder etwas gedrückt. Aber durch Fühlungsuchen mit Gott im Gebet wird diese Stimmung nicht übermächtig. Ich habe es zu oft erfahren, Gott hält einen an der Hand und Er hilft weiter. Ich habe dieser Tage aus tiefstem Herzen gebetet – doch immer mit dem Zusatz: Dein Wille geschehe.“
Manche Kontroverse unter den Männern des Widerstandes wäre wohl auswegloser gewesen, hätte nicht ein Mann wie der Rechtsanwalt Josef Wirmer immer wieder Wege des Ausgleichs, der Verständigung und des positiven Kompromisses gesucht und gefunden. Der aus Westfalen stammende Rechtsanwalt hatte seine Kanzlei in der Behrenstrasse ganz in der Nähe des Regierungsviertels. Den braunen Funktionären war das ehemalige Zentrumsmitglied längst unangenehm aufgefallen. Wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ war ihm die Zulassung als Notar verweigert worden. In einem Gesprächskreis der katholischen Gemeinde in Lichterfelde saßen Männer neben ihm wie der Staatsrechtler Hans Peters, der im Kreisauer Kreis mitarbeitete, und Professor Emil Dovifat, der Nestor der deutschen Zeitungswissenschaft. Ein eingeschleuster Gestapospitzel hätte in diesem Kreis leichtes Spiel gehabt. Denn man sprach ungeschützt und offen über den braunen Unrechtsstaat. Wirmer hatte nach vielen Seiten hin Kontakte: zu Jakob Kaiser, Heinrich Krone, Bernhard Letterhaus und Wilhelm Leuschner. Seit 1941 war er einer der engsten Mitarbeiter Goerdelers, erarbeitete Denkschriften, stellte eine Begegnung mit Julius Leber her, hatte seit Anfang 1944 Kontakt mit Stauffenberg und befürwortete offen das Attentat auf Hitler. Nach dem gescheiterten „20. Juli“ wurde Wirmer verhaftet. Sein Name fand sich als Justizminister auf einer Regierungsliste. Bekannt ist Wirmers mannhafter Dialog mit Freisler vor dem Volksgerichtshof. Auf die zynische Drohung des Präsidenten „Bald werden Sie in der Hölle sein“ antwortete Wirmer schlagfertig und mit fester Stimme: „Es wird mir ein Vergnügen sein, wenn Sie bald nachkommen, Herr Präsident.“ Der Name dieses christlichen Blutzeugen ist auf der großen Gedenktafel in der Unterkirche der St. Hedwigs-Kathedrale festgehalten.
Der nach dem gescheiterten Staatsstreich von Versteck zu Versteck herumirrende, untergetauchte Goerdeler, der schließlich doch in die Fänge der Gestapo geriet, war ohne Zweifel eine der Schlüsselgestalten des „20. Juli“, wenn auch nicht unumstritten. Einerseits hat er jahrelang, landauf landab, um Mitverschwörer geworben und nicht selten die Regeln strenger Konspiration links liegen gelassen. Andererseits hegte er bis in seine Gefängniszelle hinein die wirklichkeitsfremde Hoffnung, Hitler mit rationalen Argumenten überzeugen und zu einem Sinneswandel bewegen zu können. Goerdeler als zukünftiger Reichskanzler erschien schon aus diesem Grund vielen Verschwörern problematisch. Aber eines muss man diesem rastlosen Missionar für ein menschlicheres Deutschland lassen: Er war von einer christlichen Gewissensüberzeugung motiviert. Dagegen spricht auch nicht seine Aussagefreudigkeit bei den Gestapo-Vernehmungen. Er wollte dadurch nicht die eigene Haut retten, sondern den „20. Juli“ als eine Art Volksopposition hinstellen, wollte also damit Hitlers These von der kleinen „Verschwörerclique“ widersprechen. Aber wer konnte damals schon diesen seinen Widerspruch hören?
Der biographische Hintergrund der Männer des „20. Juli“ hatte insgesamt ein breites Spektrum. Julius Leber war anders geprägt als der Theologe Dietrich Bonhoeffer. Die SPD-Politiker Carlo Mierendorff und Wilhelm Leuschner waren in einer anderen Ideenwelt verwurzelt als die Katholiken Nikolaus Groß und Jakob Kaiser. Generaloberst Beck und der radikale General Oster konspirierten anders als der Münchener Diplomat Franz Sperr. Aber die überwiegende Mehrheit dieser Männer stand – das darf man ohne Übertreibung sagen – in der Tradition christlicher Grundüberzeugungen, selbst wenn bei nicht wenigen die kirchliche Bindung schwach oder überhaupt nicht vorhanden war. In jedem Fall: Sie unterschieden sich von jenen Millionen getaufter Christen, die damals mit und ohne Gewissenserforschung glaubten, den Weg des geringsten Widerstandes einschlagen zu sollen oder zu müssen. Die Überlebensregeln in einer Diktatur lassen bekanntlich nur wenig Raum für aufbegehrenden öffentlichen Widerspruch. Das war vor 1945 kaum anders als nachher. Umso heller leuchtet der Einsatz all derer, die in der NS-Zeit diese Überlebensregeln um eines höheren Zieles willen außer Acht gelassen haben.
Es ist gut, dass die Gedenkstätte Deutscher Widerstand alljährlich versucht, gegen den Trend einer nicht sehr geschichtsbewussten Gesellschaft Gegengewichte zu setzen. Diejenigen, die zur Elite der deutschen Nation gehörten und ihr Leben einem besseren Deutschland verschrieben haben und dafür zu sterben bereit waren, verdienen diese ehrende Erinnerung. Andernfalls wären sie zum zweiten Mal zum Tode verurteilt: zum Tod durch Vergessen.
Wolfgang Knauft
Der „20. Juli“ mit und ohne Christen
Vortrag von Prälat Wolfgang Knauft am 19. Juli 2002 in der St.-Matthäus-Kirche, Berlin
Es muss in den ersten Juli-Tagen 1944 gewesen sein. Die Zeit deutscher Siegesmeldungen an allen Fronten war längst vorbei. Im Westen war die alliierte Landung in der Normandie gelungen. Bei der erdrückenden Überlegenheit der Alliierten am Boden und in der Luft stand der Durchbruch in die Weite des französischen Raumes unmittelbar bevor. An der Ostfront hatte sich die Rote Armee bis an die alte Ostgrenze Polens herangekämpft. Amerikanische und britische Bomberverbände legten eine deutsche Stadt nach der anderen in Schutt und Asche. Auch die Reichshauptstadt war in einigen Stadtteilen schwer getroffen. „Berlin – der Schutthaufen bei Potsdam“ sollte Bertolt Brecht später schreiben. In der Innenstadt war auch die St. Hedwigs-Kathedrale schon 1943 bei einem nächtlichen Bombenangriff bis auf die Umfassungsmauern ausgebrannt, ebenso das Bischöfliche Palais in der Behrenstrasse. Der Berliner Bischof, Konrad Graf von Preysing, hatte als Ausgebombter eine Einzimmer-Residenz im Hermsdorfer Dominikus-Krankenhaus bezogen. Hier empfing er in den ersten Juli-Tagen – das genaue Datum ist nicht mehr zu rekonstruieren – einen Mann, der ihm bisher höchstens dem Namen nach bekannt war: Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg.
Es verwundert nicht, dass der Kopf des militärischen Widerstandes gerade diesen Bischof aufsuchte. Es war mit Sicherheit nicht die gemeinsame adlige Herkunft, die Stauffenberg zu Preysing führte. Der Berliner Bischof war vielmehr in Kreisen des deutschen Widerstandes als ein Mann bekannt, der zu den entschiedensten Gegnern des NS-Staates innerhalb der Fuldaer Bischofskonferenz zählte. Und das schon seit 1933. Bereits damals, als manche seiner bischöflichen Amtsbrüder noch von deutschnationalen oder monarchischen Ideen her mit dem neuen Staat verhalten sympathisierten, vertrat er, freilich hinter vorgehaltener Hand, die Auffassung: „Wir sind in den Händen von Narren und Verbrechern.“
Preysings Wort hatte über die Grenzen der Konfession hinaus inzwischen Gewicht gewonnen und seine Diskretion war verlässlich. Es ist nicht bekannt, wie lange das Gespräch gedauert hat, auch nicht, was im Einzelnen besprochen wurde. Der spätere Kardinal hat sich bis zu seinem Tod 1950 darüber beharrlich ausgeschwiegen. Das Siegel des Seelsorgegesprächs, das für ihn bedingungslos galt, hat Preysing auch nach Kriegsende daran gehindert, dem Erkenntnisdrang von Historikern und der Neugier von Journalisten nachzugeben. Lediglich seinem Sekretär hat er später anvertraut, Stauffenberg habe mit ihm nicht konkret über den geplanten Staatsstreich gesprochen, geschweige denn, dass er ihn im voraus zur Billigung des Attentats vom „20. Juli“ habe motivieren wollen. Es sei im Wesentlichen um das militärische und politische Schicksal Deutschlands gegangen. Berücksichtigt man jedoch die intensiven Vorbereitungen und Pläne, die Stauffenberg im Zentrum des militärischen Widerstandes in diesen Tagen umtrieben, ist schwer vorstellbar, dass das ethische Problem des Tyrannenmordes nicht zur Sprache gekommen sein soll, das für ihn als Christen eine zentrale Gewissensfrage war.
Stauffenberg und Preysing – zwei Persönlichkeiten aus alten schwäbischen und bayerischen Adelsgeschlechtern: Beide lehnten das NS-Regime entschieden und kompromisslos ab. Der eine erst nach anfänglichen Sympathien wegen mancher politischer Anfangserfolge des neuen Staates. Der andere, seit 1935 Bischof des Bistums Berlin, sah schon beim Machtantritt des neuen Reichskanzlers Hitler voraus, dass schwere Konflikte in Gesellschaft und Kirche bevorstehen, weil die braune Partei sich mit dem Staat gleichsetzt und von daher von Anfang an einen totalitären Charakter besitzt.
Tragendes Fundament war für beide die christliche Wertordnung und der Anspruch ihres Gewissens. Die christliche Norm des Gewissens hatte bei Stauffenberg allerdings nicht zur Folge, dass er regelmäßig den Sonntagsgottesdienst besuchte. Sein Bruder Berthold interpretierte später 1944 vor der Gestapo diese Form von Kirchlichkeit so: „Wir sind nicht das, was man im eigentlichen Sinne gläubige Katholiken nennt. Wir gingen nur selten zur Kirche und nicht zur Beichte. Mein Bruder und ich sind der Meinung, dass aus dem Christentum kaum noch etwas Schöpferisches kommen könnte.“ Andererseits standen die Brüder Stauffenberg nach außen durchaus auf Seiten der Kirche, nachdem Partei und Gestapo ihre kirchenkämpferischen Aktionen begonnen hatten. Wenn Claus Stauffenberg einen Gottesdienst besuchte, dann demonstrativ in Uniform. Er wollte zeigen, wo sein weltanschaulicher Ort war. Und wie anders hätte er noch so kurz vor dem Attentat das seelsorgliche Gespräch mit dem Berliner Bischof gesucht?
Es ist gut, diese Differenzierungen beim Thema „Der 20. Juli mit und ohne Christen“ im Blick zu behalten. Christlichkeit darf in diesem Zusammenhang nicht mit praktizierender Kirchlichkeit im strengen Sinne identifiziert werden. Es ist hier nicht der Ort, das Verhältnis evangelischer und katholischer Christen insgesamt zum NS-Staat nachzuzeichnen, ebenso wenig die Positionen der evangelischen und katholischen Bischöfe und Kirchenleitungen in den Jahren von 1933 bis 1945. Zumeist müsste dabei eher vom Widerstehen im Sinne der Verweigerung politischer Gleichschaltung und vom Widerspruch hinter den Kulissen die Rede sein, nicht aber vom aktiven Widerstand. Es soll auch nicht an die vielen Christen verschiedener Konfessionen erinnert werden, die im weiteren Umfeld des Umsturzversuches vom 20. Juli zu den aktiven Gegnern des totalitären Staates zählen. Da wären sehr viele Namen zu nennen, die im Folgenden vielleicht vermisst werden. Es soll vielmehr deutlich werden: die Grundströmung christlicher Wertmaßstäbe war bei vielen Männern des deutschen Widerstandes prägend und hat ihre Planungen und Handlungen in den Jahren 1943 und 1944 bestimmt. Freifrau von Aretin, die Tochter von Henning von Tresckow, hat, meiner Meinung nach zu Recht, darauf hingewiesen, dass die Würdigung dieser christlichen Grundhaltung in vielen historischen Darstellungen „etwas zu kurz“ komme. Sie zitierte in diesem Zusammenhang ein Wort ihres Vaters, der einmal gesagt hat: „Ich verstehe nicht, wie sich heute noch Menschen als Christen bezeichnen können, die nicht gleichzeitig wütende Gegner dieses Regimes sind. Ein wirklich überzeugter Christ kann doch nur ein überzeugter Gegner sein.“ Wenn im Folgenden Spuren des Christlichen im deutschen Widerstand nachgegangen wird, dann ist das lediglich ein begrenzter Versuch, der keinen Anspruch auf historisch abgerundete Vollständigkeit erhebt.
Die historische Forschung hat eine Vielzahl von Gruppen und Kreisen beschrieben, die alle in einer Position übereinstimmten: in der eindeutigen Ablehnung des NS-Regimes. Dass untereinander erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestanden, kann nicht verwundern. Denn im Widerstand gegen Hitler trafen sich die verschiedenen Überlieferungen deutscher Geschichte. Männer aus dem bürgerlich-konservativen Lager hatten andere Einstellungen zur Weimarer Republik und zu den Traditionen des 19. Jahrhunderts als Männer aus den Gewerkschafts- und SPD-Kreisen, wieder andere die Angehörigen aus der kommunistischen Partei. Nicht weniger unterschiedlich waren die Vorstellungen, wie die Weichen für die Nach-Hitlerzeit zu stellen sind. Nur einige dieser Kreise sollen im Vorfeld des „20. Juli“ kurz erwähnt werden.
Bereits etwa eineinhalb Jahre vor dem „20. Juli“ brodelte es in der Münchener studentischen Jugend. Eine Gruppe, die sich den Namen „Weiße Rose“ gegeben hatte und ausnahmslos christlich motiviert war, malte in den Nachtstunden flammende Proteste an Häuserwände des Münchener Universitätsviertels wie „Nieder mit Hitler“ und die Forderung „Freiheit“. Tausende von Flugblättern verteilten sie in der sogenannten „Stadt der Bewegung“ sowie in Freiburg und Hamburg. Die Studenten Hans und Sophie Scholl, der Medizinstudent Alexander Schmorell, der junge Familienvater Christoph Probst und Willi Graf aus der katholischen Jugendbewegung waren Motor dieses Widerstandskreises. Eine Diktatur reagiert bekanntlich auf geistigen Sprengstoff ähnlich aggressiv wie auf ein Bombenattentat. Freislers Volksgerichtshof verurteilte die genannten Studenten bald nach ihrer Festnahme zum Tode, andere erhielten teilweise hohe Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen. Welche Ziele hatten die Mitglieder der „Weißen Rose“ und welches geistige Fundament war für sie bestimmend? Sie waren Menschen, die im Evangelium beheimatet waren, und wollten die Fackel des freiheitlichen Denkens in die Bevölkerung hineintragen, wollten Mitläufer im Krieg Hitlers wachrütteln und vor dem drohenden Untergang Deutschlands warnen.
Zu der Zeit, als Freisler in München gegen die „Weiße Rose“ verhandelte, hatte er in Berlin bereits die ersten Todesurteile gegen Männer und Frauen gefällt, die gemeinhin als „Rote Kapelle“ bezeichnet werden. Die militärische Abwehr hatte diesen Sammelbegriff zuerst für eine Spionagegruppe verwendet, die in Frankreich, Belgien und Holland für den Moskauer Nachrichtendienst arbeitete. Die Gestapo hat diesen Begriff dann auf jene Männer und Frauen übertragen, die im weitesten Sinne zur Gruppe um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack gehörten. Sie bekamen das Etikett „Rote Kapelle. Bolschewistische Hoch- und Landesverratsgruppe im Reich“. Damit hatte diese Widerstandsgruppe insgesamt einen kommunistischen Stempel. Manche Kontroversen um diese Gruppe in der Vergangenheit hängen mit dieser einseitigen Zuordnung zusammen. Die Publikationen in der ehemaligen DDR haben das Ihre dazu beigetragen, die Einseitigkeit jahrzehntelang zu verstärken. So hat beispielsweise das „Neue Deutschland“ 1969 anlässlich von posthumen sowjetischen Ehrungen für die „Rote Kapelle“ in einem großaufgemachten, mehrseitigen Artikel nur jene Männer und Frauen in Wort und Bild gewürdigt, die Kommunisten waren oder der UdSSR mit Sympathie gegenüberstanden. Es war für die DDR selbstverständlich, dass jedes Mitglied des Widerstandes an seiner Einstellung zur KPD und zur UdSSR gemessen und entsprechend als „fortschrittlich“ oder als „reaktionär“ eingestuft wurde. Christen hatten bei diesem Raster nur geringe Chancen auf gerechte Würdigung.
Dabei gibt es wohl keine andere Gruppe des deutschen Widerstandes, deren weltanschaulicher und politischer Pluralismus ähnlich breitgefächert war wie bei der „Roten Kapelle“. Zunächst war diese Gruppe eine Art Arbeitskreis, ein Diskussionszirkel, in dem viele Meinungen aufeinander trafen. Das Wort führten Männer, die schon in der Weimarer Republik Mitglieder der KPD waren, aber auch andere, die später kommunistische Überzeugungen angenommen hatten oder ihnen nahe standen. Es gab Männer und Frauen, die in sozialistischen Ideen beheimatet waren, aber es gab auch andere, die eher in der humanistischen und bürgerlichen Tradition lebten. Es gab junge Christinnen, die erst durch ihre Partner zu dieser Widerstandsgruppe gefunden hatten, ohne deren ganzen Hintergrund und alle Aktivitäten zu kennen. In einem waren sich jedoch alle einig: Im Nein zur NS-Herrschaft und im Willen, etwas dagegen zu tun, statt die Hände ängstlich in den Schoß zu legen. Das bedeutete für einige auch militärische Nachrichtenübermittlung nach Moskau, nachdem im Jahre 1940 Kontakte zur sowjetischen Botschaft in Berlin entstanden waren. Für andere standen humanitäre Hilfe für verfolgte Juden und die Verteilung von Flugschriften im Vordergrund.
In der Unterkirche der Berliner St. Hedwigs-Kathedrale wird auf der großen Gedenktafel für Blutzeugen des Bistums Berlin auch an zwei Frauen erinnert, die der sogenannten „Roten Kapelle“ zugeordnet werden: Eva-Maria Buch und Maria Terwiel. Die Erstere stammt aus dem, was man katholisches Milieu nennt: katholisch geprägtes Elternhaus, sechs Jahre Erziehung bei den Ursulinen in Berlin. Ihre Bekanntschaft mit Wilhelm Guddorf, der ebenfalls aus einer katholischen Familie stammte und später Redakteur der „Roten Fahne“ und KPD-Mitglied wurde, brachte Eva-Maria Buch in den Freundeskreis jener Männer und Frauen, die aktiven Widerstand gegen die NS-Diktatur leisten wollten. Die junge Frau lernte durch ihren politisch erfahrenen Freund eine neue Sicht der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit. Da sie an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität studiert und selbst Sprachunterricht erteilt hatte, übernahm sie für Guddorf Übersetzungsarbeiten ins Französische. Dazu gehörten auch antinazistische Flugblätter für Zwangsarbeiter, die in deutschen Rüstungsbetrieben arbeiteten. Vier Monate nach ihrer Verhaftung im Oktober 1942 wurde ihr vor dem Reichskriegsgericht der Prozess gemacht. Auf die dortige Frage, ob sie wohl die im Prozess genannten Handlungen ihrer Freunde angezeigt hätte, wenn ihr deren Taten bekannt gewesen wären, wies sie dieses Ansinnen entrüstet zurück mit den Worten: „Angezeigt? Dann erst wäre ich so niederträchtig und verdorben, wie Sie mich hinstellen möchten.“ Am Ende stand die Todesstrafe „wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens und wegen Feindbegünstigung“. In ihrem Abschiedsbrief unmittelbar vor der Hinrichtung schrieb sie ihren Eltern, denen sie sich als Einzelkind besonders verbunden wusste, von ihrer christlichen Hoffnung über die Todesstunde hinaus: „Auf ein frohes Wiedersehen im anderen Leben! Wartet ab in Geduld, bis auch ihr gerufen werdet.“ Eva-Maria Buch wurde am 5. August 1943 in Plötzensee hingerichtet.
Auch die Halbjüdin Maria Terwiel entstammte einem katholischen Elternhaus. Ihre berufliche Zukunft als Juristin war ebenso blockiert wie ihr Ehewunsch mit dem Zahnarzt Helmut Himpel. Der Grund: die Nürnberger Rassegesetze machten eine Eheschließung mit einer Halbjüdin unmöglich. Maria Terwiel entschied sich trotzdem zur Lebensgemeinschaft mit dem evangelischen Zahnarzt. In Himpels Praxis in der Lietzenburger Straße kamen Patienten aus Politik und Kunst, aber auch Personen, die Kontakte zur Gruppe Schulze-Boysen hatten. Es begann eine humanitäre und publizistische Untergrundarbeit. Maria Terwiel unterstützte untergetauchte jüdische Mitbürger mit Lebensmittelkarten, beschaffte ihnen Personalpapiere, um im Berliner Untergrund zu überleben und – was ihr besonders zur Last gelegt wurde – sie vervielfältigte auf ihrer Schreibmaschine in Hunderten von Exemplaren Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, in denen er 1941 gegen die Euthanasie protestiert hatte. Die damals in Berliner Gemeinden kursierenden Predigttexte gehen vermutlich zu einem erheblichen Teil auf ihre mühsame Abschreibarbeit zurück. Sie beteiligte sich auch im Mai 1942 an der nächtlichen Zettelklebeaktion, mit der die Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten kritisiert wurde. Die Berliner rieben sich die Augen, als sie damals an den Häuserwänden des Kurfürstendammes und in anderen Straßenzügen Klebezettel mit der Aufschrift lasen: „Ständige Ausstellung Das Naziparadies – Krieg – Hunger – Lüge – Gestapo- wie lange noch?“
Im September 1942 verhaftete die Gestapo wie schon zuvor andere Mitglieder der „Roten Kapelle“ auch das Paar Himpel-Terwiel. Beiden wurde der Prozess vor dem Reichskriegsgericht gemacht, der jeweils mit der Todesstrafe „wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens und wegen Feindbegünstigung“ endete. Die Nachricht, dass das Todesurteil an ihrem Lebensgefährten vollstreckt sei, bedeutete für Maria Terwiel eine abgründige Prüfung, die zu einem Suizidversuch führte. Aber sie gewann die innere Lebenskraft zurück und wurde sogar zur Trösterin für ihre Mitgefangenen. So übermittelte sie einer Polin, die auch mit der Todesstrafe rechnen musste, den Liedtext von Paul Gerhardt: „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir; wenn ich den Tod soll leiden, so tritt Du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft Deiner Angst und Pein.“ Abschiedsbriefe im Angesicht des Todes sind Zeugnisse, die den Menschen in seiner letzten Wesensgestalt offenbaren. So schrieb Maria Terwiel: „Ich habe absolut keine Angst vor dem Tode und schon gar nicht vor der göttlichen Gerechtigkeit; denn die brauchen wir nicht zu fürchten.“ Gleichzeitig hob sie die Bedeutung der Heiligen Schrift für ihr Leben hervor und urteilte: „Jedenfalls steht eines fest: das genialste, schönste und ergreifendste Werk, das die Weltliteratur aufzuweisen hat, ist und bleibt allen Stürmen zum Trotz das Neue Testament.“ Ihre polnische Mitgefangene habe ihr täglich aus ihrem polnischen Exemplar übersetzt. Das sei „die schönste Stunde am Tage“ gewesen. Als Angehörige ihr eine deutsche Ausgabe der Heiligen Schrift bringen wollten, wurde das vom Gefängnisbeamten verweigert. Auch ihr Lebensgefährte, der evangelische Christ Helmut Himpel, hinterließ ein Zeugnis, das seine Glaubenshaltung im Wissen um die eigene Todesstunde zeigt. Er schrieb: „Wenn Dir manchmal das Herz schwer wird und Du kein Ziel mehr siehst: flüchte Dich in Deine Klause, spiel etwas gute Musik und dann lies aus dem Neuen Testament den 13. Absatz des ersten Korintherbriefs!“ Was muss diesem Mann das Hohe Lied der Liebe, wie es der Apostel Paulus formuliert hat, geistlich bedeutet haben, die Sätze „die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, sie ist nicht eifersüchtig, sie prahlt nicht und bläht sich nicht auf“. Himpel wurde am 13. Mai 1943 in Plötzensee hingerichtet, Maria Terwiel am 5. August 1943.
Ganz anders als die „Rote Kapelle“ war im Vorfeld des „20. Juli“ in Berlin der Solf-Kreis zusammengesetzt. Hier trafen sich regelmäßig ehemalige und aktive Diplomaten, Offiziere der Abwehr und Männer aus Gesellschaft und Kultur. Mittelpunkt des Kreises war Johanna Solf, die Witwe des ehemaligen Botschafters in Tokio. Dieser Kreis war kein Planungsgremium für einen Staatsstreich oder für ein Attentat, obwohl über die Ablehnung des braunen Weltanschauungsstaates Konsens bestand. Es war eher eine Art Hilfsgemeinschaft für Verfolgte, für Kritiker und Gegner des NS-Staates; also eine Insel der Humanität und des freimütigen Wortes. Zu dieser Teegesellschaft gehörte u. a. der Diplomat Otto Kiep. Weniger bekannt ist dagegen Prof. Dr. Friedrich Erxleben, ein katholischer Priester aus dem Bistum Trier, der im Solf-Kreis ein gern gesehener Gast war. Carl Zuckmayer hat ihn später in seinem Buch „Als wär’s ein Stück von mir“ so beschrieben: „Obwohl noch nicht ganz Fünfzig, wirkte er alters- und zeitlos; einerseits wie das Bildnis eines alten und weisen Erzabtes, andererseits wie ein Mann von jugendlichem Feuer. In ihm verbanden sich Frömmigkeit, echter unbeirrbarer Glaube so sehr mit hoher Intelligenz und geistiger Aufgeschlossenheit, ohne dass man je einen Bruch oder Zwiespalt bei ihm empfand.“ Pfarrer Erxleben hatte als Polizeiseelsorger zunächst noch Zutritt zum „Staatskrankenhaus der Polizei“ in der Berliner Scharnhorststraße und hat dort nicht selten von der SA zusammengeschlagene Opfer gesehen. Nachdem die Gestapo einen Spitzel eingeschleust hatte, wurden am 12. Januar 1944 mehrere Mitglieder des Solf-Kreises verhaftet. Graf Moltke wollte seinen Freund Kiep vor der drohenden Verhaftung warnen. Das führte am 19. Januar zu Moltkes eigener Verhaftung. Erxleben traf dieses Schicksal am 17. Mai 1944. Er kam nach Ravensbrück, dann in das Gefängnis Lehrter Straße. Während Kiep vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, kam eine für den 28. April 1945 angesetzte Verhandlung und Verurteilung für Johanna Solf, Friedrich Erxleben und drei weitere Mitglieder des Kreises nicht mehr zustande. Der Trierer Geistliche hätte mit der Todesstrafe wegen Hochverrat rechnen müssen. Die Eroberung Berlins durch die Rote Armee brachte ihm die Befreiung. Erxleben, der mit Theodor Heuss befreundet war, hat später über seine Erfahrungen im Solf-Kreis und über die verschärften Vernehmungen bei der Gestapo nie gesprochen. Ein Mann wie er und ebenso mancher andere, Christen und Nichtchristen, Gewerkschafter und Kommunisten, verdienten eigentlich mehr als nur Fußnoten in der Geschichte des deutschen Widerstandes.
War der „20. Juli“ ein Widerstand ohne Volk, wie man formuliert hat? Sicher Ja in dem Sinne, dass die breite Mehrheit der deutschen Bevölkerung keinen aktiven Widerstand gegen das totalitäre Herrschaftssystem geleistet hat. Die braune Offensive der Angst gegen Andersdenkende setzte schon kurz nach dem 30. Januar 1933 ein. Der Gleichschritt der SA-Kolonnen war Modell für die Uniformität des Denkens, die spätestens seit der Mordaktion vom 30. Juni 1934 der Gesellschaft aufgezwungen werden sollte. Die Instrumente der Angst und der permanenten Einschüchterung hießen Gestapo, Denunziation und Verhaftung, Verlust des Arbeitsplatzes und Ausgrenzung aus der vielbeschworenen Volksgemeinschaft. Es gab nicht wenige, die sich trotzdem dem neuen Denken verweigerten und die Konsequenzen der Nichtanpassung auf sich nahmen. Die historische Forschung hat belegt, dass auch die Zahl der Christen, die schon in den ersten Jahren des Dritten Reiches mit der Gestapo in Konflikt gerieten und teilweise in Konzentrationslager eingeliefert wurden, erheblich ist, darunter viele katholische und evangelische Geistliche und Laien. Aber andererseits gab es die große Mehrheit, die entweder die neue, das Nationalgefühl stärkende NS-Politik bejahte, jedenfalls in den Jahren der außenpolitischen und militärischen Siege Hitlers. Und es gab andere, die das System zwar ablehnten, es aber höchstens hinter vorgehaltener Hand kritisierten. Der Weg in die innere Emigration schien alternativlos. Zur letzteren Gruppe gehörten evangelischerseits besonders Mitglieder des Pfarrernotbundes und der Bekennenden Kirche um Martin Niemöller, katholischerseits die große Mehrheit der Geistlichen und viele praktizierende Gemeindemitglieder, die noch die alte Warnung der Zentrumspartei im Ohr hatten „Hitler, das bedeutet Krieg!“ Die offene Konfrontation mit der Staatsmacht wurde jedoch vermieden. Schließlich hatte auch die Fuldaer Bischofskonferenz im Hirtenbrief vom 28. März 1933 die weltanschaulichen Vorbehalte gegenüber dem Nationalsozialismus zwar aufrechterhalten, aber gleichzeitig frühere Verbote und Warnungen aufgehoben. Das bedeutete für die Mehrheit der Katholiken: Sucht einen Modus vivendi, ohne die eigene Identität zu verlieren. Damit verbunden waren brisante Gewissensfragen: Durfte man als Deutscher Deutschlands Niederlage im Krieg herbeisehnen, um Hitler loszuwerden? War ein Tyrannenmord verantwortbar? War er mit einem geleisteten Eid zu vereinbaren? Und andererseits: Wer wollte schon sehenden Auges in Gefängniszellen oder hinter Stacheldraht eines KZ landen? Wer wollte den Zugriff der Gestapo mit ungewissen Konsequenzen riskieren? Angst und Einschüchterung waren die großen Stabilisierungsfaktoren des Systems, damals in der braunen Diktatur ähnlich wie später in der roten.
Aber es gab auch Männer, die ihr inneres Aufbegehren gegen das NS-System nicht als verhüllte Privatangelegenheit betrachteten. Die Planungen mancher Militärs für einen Staatsstreich reichen bekanntlich bis in die Sudetenkrise des Jahres 1938 zurück. Aber erst nach Beginn des Russlandfeldzuges verbesserten sich die politischen und militärischen Voraussetzungen, unter denen Generäle und Offiziere wie Beck, Oster, Tresckow und schließlich Stauffenberg mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg auf einen Sturz Hitlers hinarbeiteten, natürlich unter strenger Beachtung der Regeln der Konspiration. Rückschauend muss man sagen: vieles, wenn nicht fast alles hing am Wagemut, am selbstlosen Einsatzwillen und an der bedingungslosen Zivilcourage einiger weniger.
Den Gestapobeamten der „Sonderkommission 20. Juli“, die die ständig anwachsende Zahl der Verhafteten zu vernehmen hatten, wurde bald deutlich, welche politischen Motive und welche weltanschaulichen Grundlagen die einzelnen Verschwörer zu diesem Umsturzversuch getrieben haben. Die umfangreichen „Kaltenbrunner-Berichte“, die Ergebnisse der Vernehmungen, die an Martin Bormann zur Münchener Parteikanzlei geschickt wurden, sind verständlicherweise mit Vorsicht zu genießen und zwar deshalb, weil sich streckenweise Unterstellungen der Vernehmer mit Schutzbehauptungen der Vernommenen vermischen. Aber die Feststellung vom 4. Oktober 1944 trifft zweifelsfrei zu: „In den Untersuchungen zum 20. Juli 1944 stellt sich immer wieder heraus, dass die konfessionellen Bindungen und kirchlichen Beziehungen in der Verschwörerclique eine große Rolle gespielt haben:
1. Ein Teil der Personen, die in die Untersuchungen einbezogen werden mussten, gibt an, gläubige Christen der evangelischen oder katholischen Konfession zu sein.
2. Ein weiterer Teil hält an den traditionellen Bindungen christlich-kirchlicher Art fest.
3. Eine ganze Anzahl der am 20.7. Beteiligten kommt aus der politischen Arbeit des Katholizismus (Katholische Aktion, Zentrum, Christliche Gewerkschaften) oder steht in der Bekenntnisfront.
4. Bei aller Verschiedenheit des Verhältnisses, das die einzelnen Personen zum Christentum und zur Kirche haben, haben diese konfessionellen Bindungen das Verhältnis zum Nationalsozialismus zumindest dahingehend bestimmt, dass man dem Nationalsozialismus mit Vorbehalten, kritisch oder ablehnend gegenüberstand.“
Die Verschwörer hätten über alle Unterschiede und Gegensätzlichkeiten hinweg die Auffassung vertreten, „dass das Christentum die sittliche Grundlage des Staates abgeben sollte“. An anderer Stelle heißt es in den Kaltenbrunner-Berichten: „In einer Fülle von Vernehmungen erscheint immer wieder als Argument, dass man die Kirchenpolitik des Nationalsozialismus nicht habe billigen können.“ Im Übrigen ist den Vernehmungsbeamten auch nicht entgangen, dass die „starke konfessionelle Gebundenheit des reaktionären Verschwörerkreises“ auch dessen Einstellung zur Rassenfrage – also zur Judenverfolgung – stark beeinflusst hat. An keiner Stelle der Kaltenbrunner-Berichte wird in diesem Zusammenhang unterschieden zwischen Mitgliedern des militärischen und zivilen Widerstands und den Männern des Kreisauer Kreises. Die Haltung wurde also als allgemein- typisch angesehen.
Wie sehr christliche Überzeugungstreue, wie sehr die Bindung an christliche Werte den Weg zum „20. Juli“ mitbestimmt haben, wird an einem Mann besonders deutlich, der mit messerscharfem Intellekt, mit großer Willensstärke und unbestechlicher Geradlinigkeit das Dritte Reich beurteilt und abgelehnt hat: Helmuth James Graf von Moltke. Als führender Kopf des Kreisauer Kreises, von der Gestapo benannt nach dem Moltke-Gut Kreisau in Niederschlesien, hat er in Berlin, in München und in Kreisau Männer um einen Tisch versammelt, die - salopp gesagt - auf seiner Wellenlänge lagen. Dabei brachte jeder auch seine ureigene politische Überlieferung aus der deutschen Geschichte mit, seine Einstellung, die durch die Traditionen des 19. Jahrhunderts und der Weimarer Republik geprägt war. Geistiger Mittelpunkt dieses Gesprächskreises, der keine förmliche Mitgliedschaft kannte, waren Moltke und sein Freund, Peter Graf Yorck von Wartenburg. Die etwa 20 aktiven Gesprächsteilnehmer und etwa ebenso vielen Sympathisanten schmiedeten keine Staatsstreichpläne. Sie organisierten keinen Fahrplan eines gewaltsamen Umsturzes. Sie wollten eine politische Plattform schaffen für die Zeit nach Hitler. Sie wollten eine Art Generalstabsarbeit leisten für diesen Tag X plus 1. Es ging ihnen um die Grundzüge einer geistigen, politischen und sozialen Neuordnung Deutschlands nach dem vorhersehbaren Ende der NS-Herrschaft. Moltke hat dieses Ziel einmal so formuliert: „Der Ausgangspunkt für eine Neuordnung liegt in der verpflichtenden Besinnung des Menschen auf eine sittliche Ordnung, die sein äußeres und inneres Dasein trägt. Erst wenn es gelingt, eine solche Ordnung zum Maßstab der Beziehungen zwischen den Menschen und den Völkern zu machen, kann die Zerrüttung unserer Zeit überwunden und ein echter Friedenszustand geschaffen werden.“ Die drei Kreisauer Treffen, die Pfingsten und im Oktober 1942 stattfanden und dann noch einmal Pfingsten 1943, wollten die Bausteine legen für diese neue Ordnung. Es sollten dabei unterschiedliche politische und weltanschauliche Positionen berücksichtigt werden. Der Sachverstand des Jesuitenprovinzials Augustin Rösch, der Jesuitenpatres Alfred Delp und Lothar König und die Meinungsbeiträge des evangelischen Theologen Eugen Gerstenmaier waren ebenso gefragt wie die Auffassungen des Reformpädagogen Adolf Reichwein, des früheren SPD-Reichstagsabgeordneten Carlo Mierendorff und des Journalisten Theodor Haubach.
Moltke, den Freisler später vor dem Volksgerichtshof geradezu als „Motor des 20. Juli“ bezeichnet hat, war seit 1941 zielstrebig bemüht, für seine Pläne auch den Konsens hoher kirchlicher Stellen einzuholen. Vom September dieses Jahres bis zu seiner Verhaftung im Januar 1944 hat er immer wieder den Berliner Bischof Preysing aufgesucht. Die zahlreichen Briefe an seine Frau Freya spiegeln das Spektrum dieser Gespräche wider, bei denen viele Informationen hin- und hergingen, nicht zuletzt über die Judenverfolgung. Denn durch das 1938 gegründete „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“ zur Unterstützung verfolgter Juden hatte der Berliner Bischof Einblick in die braune Rassenpolitik wie nur wenige damals in Deutschland. Andererseits hat Moltke den introvertierten, juristisch geschulten Aristokraten und Bischof zu einer noch klareren Sprache auf der Kanzel gedrängt, wenn auch mit wenig Erfolg. Preysing war kein Galen. Seine Vorwärtsverteidigung im Kirchenkampf war zwar entschiedener als die Haltung seiner bischöflichen Mitbrüder, aber er vermied dennoch die offene Konfrontation mit der braunen Diktatur. Er wusste zu genau, dass dabei weniger die Bischöfe als die katholischen Gemeinden die Verlierer gewesen wären. Moltke hat auch Kontakte zum Münchener Kardinal Faulhaber aufgenommen, ebenso zum Fuldaer Bischof Dietz, zum Freiburger Erzbischof Gröber, zu Kardinal Bertram von Breslau und zum evangelischen Landesbischof Wurm von Württemberg. Am intensivsten und für die konkrete Arbeit am effizientesten bis in die Formulierungen der Arbeitspapiere hinein waren allerdings die Gespräche mit Preysing, der deshalb auch von Historikern zum erweiterten Gremium des Kreisauer Kreises gerechnet wird.
Moltke lehnte wie die meisten Mitglieder des Kreisauer Kreises den Tyrannenmord ab. Das musste sogar Freisler beim Volksgerichtshofprozess einräumen. Moltke schrieb seiner Frau dazu: „Wir sind nach dieser Verhandlung aus dem Goerdeler-Mist raus, wir sind aus jeder praktischen Handlung heraus, wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben.“ Gleichzeitig war sich Moltke bewusst, dass er sich letztlich als Mann mit konsequenter christlicher Überzeugung zu verantworten hatte. Er schrieb über seinen Prozess am 10. Januar 1945: Er habe vor seinem Richter gestanden „nicht als Protestant, nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher … sondern als Christ und als gar nichts anderes.“ Abschiedsbriefe sind immer ein Stück untrüglicher, ungeschminkter Selbstoffenbarung. Das wird auch in Moltkes Abschiedsbrief an seine Frau Freya deutlich, den er am 11. Januar 1945, also unmittelbar nach dem Todesurteil durch den Volksgerichtshof geschrieben hat. Für ihn muss die Welt des Neuen Testamentes Lebensquelle und Maßstab gewesen sein. Wie anders käme er in seinem letzten Brief an seine Frau auf das Hohe Lied der Liebe zu sprechen, das der Apostel Paulus im 13. Kapitel seines ersten Briefes an die Gemeinde in Korinth niedergeschrieben hat. Es beginnt mit dem Satz: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, aber die Liebe nicht hätte, wäre ich tönendes Blech oder lärmendes Schlagzeug.“ Und dann zählt Paulus Eigenschaften der Liebe auf, die er für wesentlich hält: „Langmütig, gütig, nicht eifersüchtig, nicht prahlerisch.“ Moltke gesteht seiner Frau im Angesicht seines sicheren Todes: „Du bist mein 13 tes Kapitel des ersten Korintherbriefes. Ohne dieses Kapitel ist kein Mensch ein Mensch.“ So kann nur jemand schreiben, der zutiefst im Wort Gottes verwurzelt ist.
Warum ist der Bekanntheitsgrad von Männern des Widerstandes heute so unterschiedlich? Warum gibt es zahlreiche Namen, die nur noch Fachhistorikern bekannt sind, andere dagegen sozusagen in aller Munde sind? Das hat sicher etwas mit der Rezeptionsgeschichte des „20. Juli“ zu tun, und zwar in Ost und West. Es hat aber wohl auch damit zu tun, ob der einzelne umfangreiche schriftliche Zeugnisse und Briefe hinterlassen hat oder nicht. Manche Biographien und zeitgeschichtliche Monographien sind wohl deshalb ungeschrieben geblieben, weil es an hinreichenden schriftlichen Zeugnissen fehlt, vielleicht aber auch, weil sich nicht genügend qualifizierte Biographen gefunden haben.
Beides trifft für jenen Mann nicht zu, der laut Todesurteil vom 11. Januar 1945 „einer der aktivsten Verratsgehilfen“ Moltkes war: der Jesuitenpater Alfred Delp. Über ihn entlud sich vor dem Volksgerichtshof die ganze gehässige Feindschaft und spöttische Wut Freislers über die katholische Kirche und den Jesuitenorden. Delp ist einer der wenigen aus dem deutschen Widerstand, dessen Einsatz schon wenige Jahre nach Kriegsende einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland bekannt geworden ist. Das lag nicht zuletzt daran, dass der ehemalige Schriftleiter der Jesuitenzeitschrift „Stimmen der Zeit“ hochbegabt war, und dass es ihm gelungen war, auch in der Gefängniszelle, zuletzt mit gefesselten Händen, mehrere Aufsätze und Briefe zu schreiben, die herausgeschmuggelt werden konnten. Nach dem Krieg sind diese Meditationen schon bald unter dem Titel „Im Angesicht des Todes“ veröffentlicht worden und haben ein breites Publikum gefunden.
P. Delp war über seinen Provinzial, Augustin Rösch, 1941 in den Kreisauer Kreis gekommen und am 28. Juli 1944 in seiner Gemeinde in München-Bogenhausen verhaftet worden. Bei den „verschärften Vernehmungen“, die offiziell genehmigte Folter bedeuteten, suchte man immer wieder Geständnisse zu erpressen. Ende September kam Delp, wie andere „Kreisauer“ in die Strafanstalt Tegel und zwar in die Abteilung 8, in „das Totenhaus“, wo die Todeskandidaten untergebracht wurden. Hier schrieb er seine Meditationen, die in ihrer Aussagekraft den urchristlichen Märtyrerakten an die Seite gestellt werden können. Zum Fest Epiphanie, also zum 6. Januar 1945, schrieb der gefesselte Delp u. a. über die Freiheit: „Der Mensch muss frei sein. Als Sklave, in Kette und Fessel, in Kerker und Haft verkümmert er. Über die äußere Freiheit hat sich der Mensch viele Gedanken und Sorgen gemacht. Er hat erst unternommen, seine äußere Freiheit zu sichern, und er hat sie doch immer wieder verloren. Das Schlimme ist, dass der Mensch sich an die Unfreiheit gewöhnt und selbst die ödeste und tödlichste Sklaverei sich als Freiheit aufreden lässt… Adoro und Suscipe sind die beiden Urworte der menschlichen Freiheit. Das gebeugte Knie und die hingehaltenen leeren Hände sind die beiden Urgebärden des freien Menschen.“ Obwohl Delp nicht gleich nach dem Todesurteil hingerichtet wurde, vermutlich um für eine Gegenüberstellung mit dem inzwischen verhafteten Provinzial Rösch verfügbar zu sein, dauerte der Aufschub doch nur etwa drei Wochen. Am 2. Februar 1945 wurde er im Alter von 37 Jahren in Plötzensee hingerichtet.
Im Gegensatz zu Delp, den Freisler für einen mit allen Wassern gewaschenen Jesuiten hielt, spielte Eugen Gerstenmaier vor dem Volksgerichtshof die Rolle des blassen, total weltfremden kirchlichen Bürokraten, wie er im Buche steht. Der Konsistorialrat im Außenamt der evangelischen Kirche verstand es, seine tiefe Verstrickung in den Staatsstreich so zu tarnen, dass man ihn für einen „politischen Schafskopf“ hielt, aber eben auch deshalb für politisch unzurechnungsfähig. Gerstenmaier hatte als Leiter des Ökumenischen Referates zahlreiche Auslandskontakte, die oppositionellen Kreisen wichtig waren. Er nahm an der 2. und 3. Kreisauer Tagung teil, wusste also viel über die Pläne für die zukünftige Neuordnung Deutschlands. Er hat nicht nur mitgedacht, sondern sich auch am Nachmittag des 20. Juli, mit Bibel und Pistole in der Tasche, im Bendlerblock aufgehalten. Nach Moltkes Verhaftung hatte er sich ebenso wie mehrere Mitglieder des Kreisauer Kreises dem militärischen Widerstand um Stauffenberg angeschlossen. Der Gestapo entging in allen Vernehmungen auch die Tatsache, dass ihm bereits die Ernennungsurkunde zum Militärbevollmächtigten für die Gebiete des Reichskirchen- und Reicherziehungsministeriums übergeben worden war. Gerstenmaier hat seine Anwesenheit im OKH in der Stunde des Staatsstreiches zwar zugeben müssen, deckte sich aber mit der Schutzbehauptung, er habe gemeint, es ginge um Konflikte mit den Engländern oder Russen. Seine mit penetranter Genauigkeit und in schwäbischem Tonfall vorgetragenen Einlassungen müssen das Gericht zu dem Eindruck gebracht haben, man habe es mit einem gutmeinenden Christen zu tun, der offensichtlich in einer anderen Welt lebt. An das Jesus-Wort „Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben“ fühlten sich die Richter offenbar nicht erinnert. Auch unter dem Druck verschärfter Vernehmungen hat der schwäbische Kirchenmann nie die Überlebenskraft seines Glaubens verloren. Beim „Zirkus-Laufen“ auf dem Gefängnishof in Tegel flüsterte er Delp einmal zu: „Eher hoffe ich mich zu Tode als dass ich im Unglauben krepiere.“ In der unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verhandlung am 11. Januar 1945 hat Gerstenmaier den Vorwurf des Defaitismus mit der Behauptung beantwortet, er hätte es nie für möglich gehalten, dass Deutschland den Krieg verliere. Wenn ihm jemand vor einem Jahr gesagt hätte, die Russen stehen heute in Ostpreußen und die Amerikaner am Rhein, dann hätte er gesagt, du spinnst. Eine Schutzbehauptung, die zugleich eine unüberhörbare Herausforderung für die Endsieg-Propheten auf der Richterbank war. Zwar wurde für den evangelischen Theologen trotz dieser Narrenrolle die Todesstrafe beantragt, aber das Urteil lautete dann doch nur sieben Jahre Zuchthaus wegen Nichtmeldung eines Verbrechens. Gerstenmaier wurde im Zuchthaus Bayreuth im April 1945 von den Amerikanern befreit. Er ist dann nach dem Krieg von 1954-1969 Präsident des Deutschen Bundestages gewesen.
Zu den weniger bekannten Persönlichkeiten des engeren Kreisauer Kreises, und wie ich meine zu Unrecht, zählt Theodor Steltzer, nach dem Krieg in den Jahren 1946 und 1947 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Sein Lebenshintergrund war geprägt durch die bürgerliche Welt der Weimarer Republik. Als Landrat in Rendsburg hatte er an seiner Ablehnung der NSDAP keinen Zweifel gelassen. Die Denkschrift vom April 1933 über „Grundsätzliche Gedanken über die deutsche Führung“, verfasst für die österreichische Regierung, trug ihm nicht nur eine Anzeige und Verhaftung wegen Hochverrat ein, sondern auch den Verlust des Arbeitsplatzes. Er wurde Leiter des Sekretariates der evangelischen Michaelsbruderschaft in Marburg, einer Erneuerungsbewegung vom Abendmahl her und im Wissen um den Auftrag der Ökumene. 1940 wurde Steltzer Transportoffizier beim Wehrmachtsbefehlshaber Norwegen. Es begannen Kontakte zu Graf Moltke, den er bei jeder Berlin-Reise besuchte. Hier lernte er auch die Gruppe jener Generäle kennen, die am „20. Juli“ in der ersten Reihe des militärischen Widerstandes standen: Generaloberst Beck und die Generäle von Witzleben und Olbricht. Mehrfach hat er zusammen mit Graf Moltke Bischof Preysing besucht, um dessen Auffassungen zum Verhältnis Staat und Kirche näher kennen zu lernen. Mit Moltke war er sich in der Ablehnung eines Attentats auf Hitler einig, nicht zuletzt aus Sorge vor einer neuen Dolchstoßlegende. Noch kurz vor dem 20. Juli 1944 verfasste Steltzer eine Denkschrift für die britische Regierung über „Die deutsche Opposition gegen den Nationalsozialismus“. Freunde in der norwegischen und schwedischen Kirche leiteten sie nach London weiter. Auf der Liste der Landesverweser, die nach dem geglückten Umsturz die vollziehende Gewalt übernehmen sollten, tauchte Steltzers Name für Schleswig-Holstein auf. Damit war sein Schicksal besiegelt, obwohl die Gestapo zunächst seine Mitarbeit im Kreisauer Kreis noch nicht kannte. Freisler verurteilte ihn am 15. Januar 1945 zum Tode. Unmittelbar vor der geplanten Vollstreckung des Urteils verfügte Himmler die Aussetzung der Hinrichtung. Der Grund: Skandinavische Freunde Steltzers hatten den finnischen Medizinalrat Kersten eingeschaltet, der als Privatmasseur Himmlers großen Einfluss besaß. Kersten schickte seine Sekretärin mit einem Brief in Himmlers Hauptquartier nach Prenzlau und hatte Erfolg. Für Himmler war das sicher kein Akt der Barmherzigkeit, sondern eher der politischen Berechnung. Er wollte es offenbar mit denen nicht ganz verderben, auf deren Hilfe er nach dem herannahenden Kriegsende vielleicht einmal angewiesen sein könnte. Steltzer, der im Gefängnis Lehrter Strasse einsaß, ist dann im April 1945, kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee, entlassen worden.
Der unmittelbar nach dem Hitler-Attentat verhaftete Peter Graf Yorck von Wartenburg hatte im Kreisauer Kreis und später im militärischen Widerstand eine größere Bedeutung als ihm in der Literatur zuerkannt wird. Die Erinnerung an ihn verblasste unangemessen durch das bald nach dem Krieg entstandene Märtyrerbild von Moltke. Als Träger eines großen Namens war der Verwaltungsjurist Yorck von Wartenburg 1939 als Reserveoffizier eingezogen worden und leistete seinen Wehrdienst zuletzt im Wirtschaftsstab Ost des OKW. Er hatte also von daher schon eine besondere Nähe zu den Männern des militärischen Widerstandes. Seine distanziert herzliche Freundschaft zu seinem schlesischen Landsmann Moltke gründete sich nicht zuletzt auf den gemeinsamen christlichen Wertekodex. In seiner Wohnung in der Hortensienstrasse in Lichterfelde-West fanden immer wieder kleine konspirative Treffen Gleichgesinnter statt. Bis zur Verhaftung von Moltke lehnte Yorck den gewaltsamen Sturz Hitlers ab, stellte sich danach aber ganz hinter die Pläne von Stauffenberg. In Gerstenmaier fand er einen vertrauten Gesprächspartner, mit dem zusammen er auch regelmäßig evangelische Sonntagsgottesdienste besuchte. Am Abend des 16. Juli 1944 nahm er an dem Gespräch der Verschwörer in Stauffenbergs Wohnung in der Tristanstraße in Wannsee teil, bei dem noch einmal alle Varianten und Risiken des Umsturzes durchdiskutiert wurden. In der neuen Regierung nach Hitlers Sturz sollte Yorck das Amt eines Staatssekretärs in der Reichskanzlei übernehmen. Bei der Ausgabe des Stichwortes „Walküre“ am 20. Juli hielt er sich an Stauffenbergs Seite im Bendlerblock auf. Die Gestapo verhaftete ihn sozusagen auf frischer Tat. Er wurde bereits am 8. August zum Tode verurteilt und kurz nach der Urteilsverkündung unter grellem Scheinwerferlicht und vor laufender Kamera in Plötzensee hingerichtet. Sein aus dem Gefängnis geschriebener Abschiedsbrief an seine Mutter ist ein bewegendes Dokument, das einen Mann zeigt, der mit sich, mit seinem Gewissen und mit Gott in Einklang ist. Es heißt da u.a.: „Am Ende eines an Liebe und Freundschaft überreich gesegneten Lebens habe ich nur Dank gegen Gott und Demut unter seinen Willen. Dass ich Dir diesen Kummer bereite, ist mir ein sehr großer Schmerz nach alledem, was Du an Traurigem erleben musstest… Ich habe über zwei Wochen Zeit gehabt, mich und mein Handeln vor Gott zu stellen und bin überzeugt, in ihm einen gnädigen Richter zu finden… Dich darf ich versichern, dass kein ehrgeiziger Gedanke, keine Lust nach Macht mein Handeln bestimmte. Es waren lediglich meine vaterländischen Gefühle, die Sorge um mein Deutschland, wie es in den letzten zwei Jahrtausenden gewachsen ist, das Bemühen um seine innere und äußere Entwicklung, die mein Handeln bestimmten.“ Wenn von Christen und dem „20. Juli“ die Rede ist, darf der Name Yorck von Wartenburg nicht fehlen.
Zwischen dem zivilen und militärischen Widerstand und ähnlich zwischen beiden Gruppen und dem Kreisauer Kreis gab es auf dem langen Weg bis zum „20. Juli“ immer wieder Differenzen und nicht selten persönlich gefärbte Meinungsverschiedenheiten. Viele Spannungen entstanden durch die Person des ehemaligen Leipziger Oberbürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler. Besonders Moltke hatte für dessen, wie er meinte, reaktionäre politische Konzepte keinerlei Sympathien. Auch der pommersche Gutsbesitzer Ewald von Kleist-Schmenzin teilte nicht alle Meinungen Goerdelers, stand ihm aber als Nationalkonservativer mit unverrückbarem christlichen Wertekodex doch wesentlich näher. Kleist-Schmenzin war Hitler-Gegner der ersten Stunde und hatte Hindenburg noch in einem Gespräch von seiner Fehlentscheidung des 30. Januar 1933 abzuhalten versucht. Während der Sudetenkrise reiste er im Auftrag des militärischen Widerstandes nach London, fand aber auch bei Churchill nicht die erhoffte Resonanz. In Stauffenbergs Pläne war er eingeweiht und sollte nach dem Staatsstreich politischer Beauftragter des Wehrkreises Stettin werden. Bei den Vernehmungen nach seiner Verhaftung bekannte sich der protestantische Christ zu seiner Ablehnung Hitlers als „gottgegebenem Gebot“. Vor seiner Hinrichtung hat Kleist-Schmenzin mehrere Briefe geschrieben, die ein eindrucksvolles Bekenntnis seiner Gewissenstreue und seines ungebrochenen Gottvertrauens darstellen. Am 6. Januar 1945 schrieb er: „Seit langer Zeit ist meine Stimmung zum ersten Mal wieder etwas gedrückt. Aber durch Fühlungsuchen mit Gott im Gebet wird diese Stimmung nicht übermächtig. Ich habe es zu oft erfahren, Gott hält einen an der Hand und Er hilft weiter. Ich habe dieser Tage aus tiefstem Herzen gebetet – doch immer mit dem Zusatz: Dein Wille geschehe.“
Manche Kontroverse unter den Männern des Widerstandes wäre wohl auswegloser gewesen, hätte nicht ein Mann wie der Rechtsanwalt Josef Wirmer immer wieder Wege des Ausgleichs, der Verständigung und des positiven Kompromisses gesucht und gefunden. Der aus Westfalen stammende Rechtsanwalt hatte seine Kanzlei in der Behrenstrasse ganz in der Nähe des Regierungsviertels. Den braunen Funktionären war das ehemalige Zentrumsmitglied längst unangenehm aufgefallen. Wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ war ihm die Zulassung als Notar verweigert worden. In einem Gesprächskreis der katholischen Gemeinde in Lichterfelde saßen Männer neben ihm wie der Staatsrechtler Hans Peters, der im Kreisauer Kreis mitarbeitete, und Professor Emil Dovifat, der Nestor der deutschen Zeitungswissenschaft. Ein eingeschleuster Gestapospitzel hätte in diesem Kreis leichtes Spiel gehabt. Denn man sprach ungeschützt und offen über den braunen Unrechtsstaat. Wirmer hatte nach vielen Seiten hin Kontakte: zu Jakob Kaiser, Heinrich Krone, Bernhard Letterhaus und Wilhelm Leuschner. Seit 1941 war er einer der engsten Mitarbeiter Goerdelers, erarbeitete Denkschriften, stellte eine Begegnung mit Julius Leber her, hatte seit Anfang 1944 Kontakt mit Stauffenberg und befürwortete offen das Attentat auf Hitler. Nach dem gescheiterten „20. Juli“ wurde Wirmer verhaftet. Sein Name fand sich als Justizminister auf einer Regierungsliste. Bekannt ist Wirmers mannhafter Dialog mit Freisler vor dem Volksgerichtshof. Auf die zynische Drohung des Präsidenten „Bald werden Sie in der Hölle sein“ antwortete Wirmer schlagfertig und mit fester Stimme: „Es wird mir ein Vergnügen sein, wenn Sie bald nachkommen, Herr Präsident.“ Der Name dieses christlichen Blutzeugen ist auf der großen Gedenktafel in der Unterkirche der St. Hedwigs-Kathedrale festgehalten.
Der nach dem gescheiterten Staatsstreich von Versteck zu Versteck herumirrende, untergetauchte Goerdeler, der schließlich doch in die Fänge der Gestapo geriet, war ohne Zweifel eine der Schlüsselgestalten des „20. Juli“, wenn auch nicht unumstritten. Einerseits hat er jahrelang, landauf landab, um Mitverschwörer geworben und nicht selten die Regeln strenger Konspiration links liegen gelassen. Andererseits hegte er bis in seine Gefängniszelle hinein die wirklichkeitsfremde Hoffnung, Hitler mit rationalen Argumenten überzeugen und zu einem Sinneswandel bewegen zu können. Goerdeler als zukünftiger Reichskanzler erschien schon aus diesem Grund vielen Verschwörern problematisch. Aber eines muss man diesem rastlosen Missionar für ein menschlicheres Deutschland lassen: Er war von einer christlichen Gewissensüberzeugung motiviert. Dagegen spricht auch nicht seine Aussagefreudigkeit bei den Gestapo-Vernehmungen. Er wollte dadurch nicht die eigene Haut retten, sondern den „20. Juli“ als eine Art Volksopposition hinstellen, wollte also damit Hitlers These von der kleinen „Verschwörerclique“ widersprechen. Aber wer konnte damals schon diesen seinen Widerspruch hören?
Der biographische Hintergrund der Männer des „20. Juli“ hatte insgesamt ein breites Spektrum. Julius Leber war anders geprägt als der Theologe Dietrich Bonhoeffer. Die SPD-Politiker Carlo Mierendorff und Wilhelm Leuschner waren in einer anderen Ideenwelt verwurzelt als die Katholiken Nikolaus Groß und Jakob Kaiser. Generaloberst Beck und der radikale General Oster konspirierten anders als der Münchener Diplomat Franz Sperr. Aber die überwiegende Mehrheit dieser Männer stand – das darf man ohne Übertreibung sagen – in der Tradition christlicher Grundüberzeugungen, selbst wenn bei nicht wenigen die kirchliche Bindung schwach oder überhaupt nicht vorhanden war. In jedem Fall: Sie unterschieden sich von jenen Millionen getaufter Christen, die damals mit und ohne Gewissenserforschung glaubten, den Weg des geringsten Widerstandes einschlagen zu sollen oder zu müssen. Die Überlebensregeln in einer Diktatur lassen bekanntlich nur wenig Raum für aufbegehrenden öffentlichen Widerspruch. Das war vor 1945 kaum anders als nachher. Umso heller leuchtet der Einsatz all derer, die in der NS-Zeit diese Überlebensregeln um eines höheren Zieles willen außer Acht gelassen haben.
Es ist gut, dass die Gedenkstätte Deutscher Widerstand alljährlich versucht, gegen den Trend einer nicht sehr geschichtsbewussten Gesellschaft Gegengewichte zu setzen. Diejenigen, die zur Elite der deutschen Nation gehörten und ihr Leben einem besseren Deutschland verschrieben haben und dafür zu sterben bereit waren, verdienen diese ehrende Erinnerung. Andernfalls wären sie zum zweiten Mal zum Tode verurteilt: zum Tod durch Vergessen.