Der deutsche Widerstand im Wendejahr 1943

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Beate Ruhm von Oppen

Der deutsche Widerstand im Wendejahr 1943

Vortrag von Beate Ruhm von Oppen am 19. Juli 1993 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin

Erlauben Sie mir eingangs eine autobiografische Ortsangabe. 1943 saß ich in London in einer Abteilung des Foreign Office, die sich vor allem mit der Analyse der deutschen Medienproduktion befasste: Zeitungen, Agenturmeldungen, Radio. Wir wussten natürlich, dass Goebbels und sein Apparat nicht die Wahrheit sprachen. Trotzdem konnte man aus ihren Äußerungen ganz nützliche Schlüsse ziehen, wenn man das Zeug Tag für Tag las und auf Nuancen und Veränderungen achtete.

Da kam plötzlich eines Tages etwas ganz Anderes, kein Goebbelsprodukt. Es war ein maschinegeschriebener anonymer Bericht über ein Ereignis in München, wo eine Gruppe Studenten Flugblätter gegen das Regime verbreitet hatte und dafür vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden war. Es war das Erste, was ich vom deutschen Widerstand las. Von Stund an ließ mich das Thema nicht mehr los.

Von wem der Bericht stammte, erfuhr ich erst viel später, nach dem Kriege. Es war Helmuth James von Moltke, von dem ich damals noch gar nichts wusste. Seine englischen Freunde hielten dicht.

Im Laufe der Zeit sah ich mehr und mehr und immer wieder, wie oft die Religion oder der Glaube ein Bestandteil der Fähigkeit zum Widerstand war. Später versuchte ich etwas darüber zu schreiben - nicht so sehr über den Kirchenkampf und über das Verhalten der kirchlichen Organisationen und ihrer Häupter als über die Rolle des Glaubens im Leben derer, die dem Massenwahn nicht verfielen.1 Bei der Arbeit an diesem Thema stieß ich immer wieder auf Helmuth Moltke - nicht weil er so viel darüber geäußert hätte - das tat er nur ganz gelegentlich, dann aber überzeugend; vielmehr weil er danach handelte und weil so viel von dem anderen was ich fand, vom Widerstand der Frommen, Verbindungen mit seiner Person hatte. Die Menschen, die den Ansturm der Hölle als solchen erkannten, und umgeben vom Bösen nach dem Guten strebten, sich darum mühten, bereit waren etwas dafür zu riskieren - erstaunlich viele von ihnen schienen mit Moltke in Berührung gekommen zu sein. Vielleicht kam das daher, dass er sich so rührig umgetan hatte. In diesen Mühlen fanden diese Menschen - wie mir in vielen Fällen schien - so etwas wie Gnade, etwas, was sich ihnen offenbarte und ihnen half. Diese Offenbarung - ich bin nicht ganz sicher, ob man es so nennen kann - aber wie sonst? - war etwas, was sie entdeckten oder wiederentdeckten, was ihnen wirklich oder wirklicher wurde. Es war nicht Todeszellenfrömmigkeit, nicht nur Hinwendung zum alten Gott nach den Erschütterungen des Krieges, dieses Krieges, der ja vor 1939 schon als unerklärter Bürgerkrieg in Deutschland begonnen hatte.

Übrigens spielt auch das hinein, das Bürgerkriegsartige, in die Tragik des äußeren Krieges und seiner Zwänge. Der Krieg war ja nach Nationen und Koalitionen von Nationen organisiert. Da schlug man sich nach Nationalitäten tot, weil nur so die Nation, die Adolf Hitler zum Führer hatte und die ihm bis zu seinem Selbstmord folgte, bezwungen werden konnte. Dass er und sein System seine eigenen Feinde im Innern auch totschlug, wusste man. Aber das Kollektiv Deutschland, Nazideutschland musste niedergezwungen werden, um nicht nur die anderen Länder von dieser Bedrohung zu befreien sondern auch die unterdrückten und verfolgten Menschen in Deutschland.

Das Verlassenheitsgefühl mancher Gegner des Regimes, das Gefühl im Ausland missverstanden und nicht gewürdigt zu sein, ist ein Teil dieser Tragik dieser Konstellation, der Tragik des Krieges. Mir scheint, es gab wirklich nur eine Möglichkeit dies zu beenden: den Krieg zu verlieren und so Hitler und seine Helfershelfer los zu werden - es sei denn, dass es gelang ihn und sein System - mitten im Krieg - durch inneren Aufstand zu beseitigen. Der Versuch wurde, nach etlichen folgenlosen Anläufen, gemacht und er misslang. Zu viel stand ihm entgegen, vor allem der Krieg und die patriotische Befangenheit des Volkes und der Wehrmacht. Es war den Nationalsozialisten gelungen, Deutschland und den Nationalsozialismus zu verketten. Und es war für Deutsche schwer, zu sehen, dass diese Ketten nur auf dem Wege der nationalen Katastrophe gelöst werden konnten.

Manche - vielleicht sogar viele - sahen es, durften oder wollten es sich aber nicht eingestehen. Und so wurde weiter gekämpft bis Hitler tot war, von eigener Hand.

Es gab Verschwörer gegen ihn, die ihn töten wollten um die Wehrmacht von dem ihm persönlich geleisteten Eid zu befreien. Wäre diese Befreiung der Gefahr einer neuen Dolchstoßlegende entgangen? Waren die Deutschen, genug Deutsche, so weit, sich wirklich hinter die Gegner dieses Führers und seines Regimes zu stellen und die Folgen in Kauf zu nehmen? Ein „ehrenhafter“ Friede war schon 1943 kaum mehr zu erwarten.

So waren die Verschwörer auf sich gestellt, auf sich und ihr Gewissen.

Weshalb nenne ich 1943 das „Wendejahr“? Winston Churchill nannte den vierten Band seiner Geschichte des Zweiten Weltkriegs, der sich mit diesem Zeitabschnitt befasst, „The Hinge of Fate“. In El Alamein, Stalingrad und Tunis wendete sich der Krieg von ständigen alliierten Niederlagen zu Siegen. Im Mai war Afrika von den Achsenmächten befreit. Im Juli landeten die Alliierten in Sizilien und Mussolini wurde gestürzt. Auch im Krieg zur See hatte sich das Blatt gewendet. Der Luftkrieg war massiv geworden und die Alliierten hatten da jetzt die Oberhand.

Aber außenpolitisch war auch eine tiefere, langsamere Wende im Gange. Im Juni 1941 hatte Hitlers Angriff auf die Sowjetunion das schwere Jahr seit dem Fall Frankreichs beendet, in dem England allein - wenn auch gestützt auf sein Weltreich - dem Herren Europas Widerstand leistete. Ein halbes Jahr danach hatte der japanische Angriff auf Pearl Harbor Amerika in den Krieg gebracht. Hitlers Kriegserklärung machte es Roosevelt leichter, sein Volk in den Krieg gegen Deutschland zu führen, ja diesem europäischen Krieg sogar den Vorrang vor dem Krieg im Pazifik zu geben.

Aber das ungeheure amerikanische Kriegspotenzial brauchte Zeit, um zum Tragen zu kommen. Die von Stalin seit 1942 geforderte zweite Front ließ bis Juni 1944 auf sich warten. Sie ging von England aus und hatte mit Eisenhower einen amerikanischen Oberbefehlshaber. Er hatte schon in Nordafrika den Oberbefehl geführt, obwohl die Briten in Afrika noch die Hauptlast des Krieges trugen. Aber die Gewichte verschoben sich zu Gunsten Amerikas. Churchill hatte keinen leichten Stand gegenüber dem übermächtig werdenden Bundesgenossen im Westen, der dazu noch geneigt war, mit dem Bundesgenossen im Osten ein argloseres Verhältnis zu pflegen als der britische Premierminister. Russland hatte seit 1941 die Hauptlast des Krieges in Europa getragen - jedenfalls zu Lande - und trug sie weiter. Churchill war ein lang gedienter Kommunistengegner, hatte aber, als Hitler die Sowjetunion angriff, sofort den neuen Bundesgenossen begrüßt, der nun einen patriotischen Krieg gegen Deutschland führte.

Stalin ließ es sich 1943 angelegen sein, besonders dem Ausland gegenüber die ideologische, die kommunistische Komponente zurücktreten zu lassen. Die Komintern wurde aufgelöst. Im Juli 1943 wurde in Russland das „Nationalkomitee ‚Freies Deutschland’“ gegründet, im September der Bund Deutscher Offiziere. Eins seiner Veröffentlichungsblätter, das nach England gelangte, trug stolz die Farben schwarz-weiß-rot. Auch die Wortwahl der Rhetorik war bemüht, das Ausland den Kommunismus vergessen zu lassen. Stalins Werben um die Deutschen machte dem Westen natürlich etwas Sorge. Deutsche Fühler in östlicher Richtung gab es sowohl seitens des Regimes als auch seiner Gegner. Letztere waren in unserem Zusammenhang besonders heikel. Es war nicht klar, ob sie den Zweck hatten, mit dem anscheinend oder angeblich weniger auf „bedingungsloser Kapitulation“ bestehenden Russen handelseinig zu werden, oder den Zweck, diese Möglichkeit oder Drohung als Druckmittel auf den Westen zu benutzen.

Aber während Stalin bestrebt war, die Furcht vor einer Ausbreitung des Kommunismus zu zerstreuen, stellte er doch ganz handfeste Gebietsansprüche. Russland brauchte nach diesem Krieg Sicherheit. Bevor das Jahr 1943 um war, hatten die Westalliierten der Verschiebung Polens nach Westen zugestimmt. Außerdem hatte Stalin schon im Mai die Reaktion der Exilpolen in London auf die Leichenfunde in Katyn zum Anlass genommen, die Beziehungen zu ihnen abzubrechen.

In einer neuen Churchill-Biografie von einem jungen englischen Historiker werden die Zugeständnisse an Stalin 1943, 1944 und 1945 als Appeasement bezeichnet. Der Autor hatte in einem früheren Werk die Appeasement-Politik Chamberlains gegenüber Hitler verteidigt. Churchills Entschluss, den Kampf gegen Hitlerdeutschland nach dem Fall Frankreichs weiterzuführen, kritisiert er. Dieser Kampf konnte nur in einer erhofften späteren Bundesgenossenschaft, einer „Grand Alliance“ mit Amerika und Russland zum Erfolg führen und musste die Abhängigkeit Englands von diesen Bundesgenossen bedeuten. Was an dem Buch auffällt, ist der kühle Abstand von den Vorgängen in Hitlers Deutschland und Hitlers Europa.2

Diese aber waren es, die die Gemüter erregten und den Krieg gegen Hitler bis zum bitteren Ende nötig erscheinen ließen. Und das Ende war bitter. Englands materielle Stellung in der Welt ging dabei drauf. Die Bitterkeit zeigt sich bei manchen Engländern noch jetzt in Feindseligkeiten gegenüber Deutschland.

Aber war diese Entwicklung, wenn man dem Hitlerismus nicht freien Lauf lassen wollte, zu vermeiden? Schwerlich. Nicht alle Opfer und Einbußen waren vorauszusehen, aber doch mehr als „Blut, Schweiß und Tränen“, die Churchill gleich bei der Übernahme seines Amtes erwähnte.

Es war ein schwerer Kampf gegen das eine Deutschland, mit dem sich immerhin die Masse des deutschen Volkes und seiner Führerschaft identifizierte. Dabei konnte man durchaus die Existenz eines „anderen“ Deutschland anerkennen und viele taten das auch, aber diese Anerkennung war vermischt mit Enttäuschung und Misstrauen. Warum geschah nichts gegen diese Tyrannen?

Warum waren die Repräsentanten seiner Gegner nicht bereit die Gewinne seiner Politik fahren zu lassen? Gut, sie waren Patrioten und litten, wie viele Deutsche, an dem Trauma von Versailles und wollten wieder die deutschen Grenzen von 1937 oder 1938 oder 1914; aber sahen sie nicht, dass diese nach allem was geschehen war, nicht mehr in Frage kamen? Sie wollten eine Zusage guter Bedingungen für ein neues Deutschland nach der Beseitigung Hitlers. Aber sie klangen immer wieder so, als ob eine solche Zusage eine Bedingung ihres Handelns war.

Dagegen sah Helmuth Moltke schon 1939 den Verlust des Krieges voraus (und hielt ihn sogar für nötig).3 Er sagte schon 1940 zu George Kennan (damals an der amerikanischen Botschaft in Berlin), das würde wahrscheinlich den Verlust seiner Heimat Schlesien bedeuten.4 Im Herbst 1941 hatte er heftige Auseinandersetzungen mit einem Verwandten, der deutscher Botschafter in Warschau gewesen war, über die nötigen Gebietsverzichte. Nie könne man verzichten, sagte der Diplomat und hielt es für unpatriotisch auch nur daran zu denken.5

Natürlich waren die Gegner des Regimes in einer Zwickmühle. Wenn sie Zuwachs werben wollten, mussten sie diesem Hoffnungen machen und vielleicht war die Hoffnung auf die Befreiung vom Unrechtsstaat nicht genug. Die Generationen erfahrener Männer dachten in Kategorien, die sie für realpolitisch hielten.

Die jungen Leute von der Weißen Rose hingegen wollten vor allem das Gewissen der Deutschen aufrütteln. Und dafür waren sie bereit ihr Leben zu riskieren - manche mehr, manche weniger. Christoph Probst war verheiratet und hatte drei kleine Kinder. Aber sowohl von Hans als auch von Sophie Scholl sind Aussprüche überliefert, die ihre Bereitschaft zeigen. So sagte Hans nach einer bekannt gewordenen Hinrichtung von einer Anzahl von Sozialisten und Kommunisten, es sei an der Zeit, dass auch Christen etwas täten6; und Sophie sagte: „Es fallen so viele Menschen für dieses Regime, es wird Zeit, dass Jemand dagegen fällt.“7 Dass sie mit diesem „Jemand“ sich selbst meinte, sich jedenfalls nicht ausschloss und dass auch sie an eine Wiederverchristlichung Deutschlands dachte, scheint mir ganz klar aus ihrem Traum in der Nacht vor der Hinrichtung hervorzugehen, den sie ihrer Zellengenossin erzählte. In dem Traum trug sie ein Kind in einem langen weißen Kleid zur Taufe. Der Weg zur Kirche führte einen steilen Berg hinauf. Aber sie trug das Kind fest und sicher. Da tat sich plötzlich vor ihr eine Gletscherspalte auf. Sophie konnte das Kind gerade noch an die gesicherte gegenüberliegende Seite legen, dann stürzte sie in die Tiefe.8

Für so wichtig hatte Roland Freisler diesen Fall gehalten, dass er selbst nach München geeilt war, um die jungen Leute abzuurteilen. Nur vier Tage vergingen zwischen der Festnahme der ersten drei und dem Fallbeil, das ihr Leben beendete. Alexander Schmorell suchte zu entkommen, wurde aber verraten und gefasst. Professor Hubers Verleger bat um Aufschub von dessen Hinrichtung, damit sein Autor noch sein Buch über Leibniz fertig schreiben könnte. Der Antrag wurde abgeschlagen. Willi Graf musste bis Oktober auf seine Hinrichtung warten, da die Gestapo - vergeblich - versuchte noch weitere Namen von ihm zu erfahren.

Die Guillotine, die ihrem Leben ein Ende setzte, war eine von den etwa 19 Guillotinen, die Moltke in einem langen Bericht über die Zustände in Deutschland erwähnte, den er zur gleichen Zeit wie seinen Bericht über die Weiße Rose bemüht war, aus Schweden zu seinem Freund Lionel Curtis in England gelangen zu lassen. Dieser Brief blieb in Schweden stecken und nur ein - etwas verzerrter - Bruchteil, memoriert von dem amerikanischen Generalsekretär des Vereins Christlicher Junger Männer, gelangte zum Bischof von Chichester, der ihn an Curtis weiterleitete9. Aber der Bericht über die Weiße Rose und ihr letztes Flugblatt nahmen einen anderen Weg und kamen durch.

Nach einer eingehenden Schilderung des Falles, seines Hintergrundes, der Vorfälle, der drei Studenten, der Formalitäten vor ihrer Hinrichtung, den Nachwirkungen oder Nachwehen und der Verhaftung von Professor Huber kam ein Abschnitt über die nähere Zukunft und ein letzter über mögliche Hilfe aus der Außenwelt.

Zur Frage des „Was Nun?“ stand in dem Bericht Folgendes: In Deutschland müsse die Sache verbreitet und weitergeführt werden. Das sei schwierig und gefährlich. Die Aufforderung des Flugblattes, aus der Partei und ihren Organisationen auszutreten, sei allerdings unklug und solle herauseditiert werden: sie würde zu viele Menschenleben kosten und es den Machthabern zu leicht machen, ihre Gegner zu erkennen und auszuschalten; besser sei es, von innen heraus zu arbeiten und die Machthaber unsicher zu machen, auf wen sie sich nun verlassen können.

Vom Ausland könne Hilfe dadurch geleistet werden, dass man der Sache zur Publizität verhelfe, die Namen der Beteiligten immer wieder nenne, vor allem im Radio. Aber noch Wichtigeres sei möglich: „Dieser Fall“ (ich zitiere und übersetze) „ist frei von Spionage, Kommunismus, Defaitismus usw. Es ist ein klarer Fall inneren Aufstandes aufgrund sittlicher Prinzipien, die eines Tages die inner-europäischen Beziehungen leiten müssen. Es wäre eine enorme Hilfe, wenn diese Tatsache einen Widerhall von draußen fände, wenn auch nur eine Andeutung gegeben würde, dass es Kräfte in Deutschland gibt, mit denen es nicht nur möglich sondern nötig ist, nach dem Krieg zusammenzuarbeiten. Andererseits würde großer Schaden angerichtet, wenn diese Vorgänge nur als Symptom eines Zerfalls in Deutschland registriert würden, Anzeichen dafür, dass die Lage von 1918 wieder herannaht. Das würde nämlich das Urteil des Volksgerichtshofes rückwirkend rechtfertigen ... Es ist somit ein Fall, dessen Behandlung im neutralen und feindlichen Ausland viel Gutes und viel Schädliches bewirken kann.“10 Soweit der anonyme Moltke.

Die BBC verlas das beigelegte letzte Flugblatt und die Royal Air Force warf viele Exemplare, mit einer Rahmenerklärung, über Deutschland ab.

Als ich viele Jahre später in den inzwischen freigegebenen Akten des Foreign Office wieder auf diesen Bericht stieß, war er, wenn ich mich recht entsinne, in der Kategorie mit lauter Material über Zersetzungserscheinungen und deutsche Versuche, die Einheit der alliierten Koalition zu sprengen und einen milden Frieden zu erreichen. Dass dem anonymen Autor höchstens das Letzte angelastet werden konnte, ergibt sich daraus, dass er über Zusammenarbeit nach dem Krieg sprach. Natürlich war der Wunsch nach der Anerkennung des „Anderen Deutschland“ schon während des Krieges auch dabei.

Jedoch bevor das Jahr um war, machte Moltke doch einen Versuch, einen verzweifelten Versuch - ob von Canaris, ob von den Kreisauern gedeckt weiß man nicht -, den Angloamerikanern für den Fall einer Invasion in ausreichender Stärke und mit mehr Durchschlagskraft als der des Feldzugs in Italien, eine deutsche Öffnung im Westen in Aussicht zu stellen, die zu einer schnellen Besetzung ganz Deutschlands führen würde und mit einem Schlage auch das Volk von dieser Lösung überzeugen und die Gefahr einer neuen Dolchstoßlegende vermeiden würde. Nicht von ihm selbst sondern von zwei exildeutschen Kontaktmännern nach seiner Abreise aus Istanbul im Dezember für den amerikanischen Geheimdienst (OSS) formuliert, führte dieses Memorandum zu langen Auseinandersetzungen unter den Amerikanern, die man jetzt in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte nachlesen kann.11 Moltke selbst wurde nach diesem Vorstoß, den er bei einer Dienstreise in die Türkei machte, verhaftet und außer Gefecht gesetzt.

Es wurde nichts aus dem Plan, der, obwohl aus anderer Feder stammend, seine Ansichten zum großen Teil richtig wiedergeben mag. Er hatte mit Hans Wilbrandt und Alexander Rüstow, dem Hauptautor der Denkschrift, eingehende Gespräche geführt. Er hatte selbst vor seiner Abreise an Alexander Kirk, den ihm wohl bekannten ehemaligen amerikanischen Geschäftsträger in Berlin und jetzt in Kairo, einen Brief geschrieben, als er ihn nicht wie erhofft in Istanbul antraf. In dem Brief erwähnt er auch das entmutigende Beispiel Italien, das im September kapituliert hatte und zum Kriegsschauplatz wurde. Das war nicht gerade ein gutes Omen für innere Veränderungen in Deutschland. Es müsse klar gemacht werden, wie sich eine Wiederholung vermeiden ließe. Dazu brauche man eine gemeinsame politische Zielsetzung, ohne die es keine wirksame militärische Zusammenarbeit geben könne. Was dies angehe, könne sowohl vom militärischen wie auch vom politischen Standpunkt aus nur eine solche in Frage kommen, die die Lage mit einem Schlage verwandle. Und dafür sei Geduld nötig, man müsse warten, warten und nochmals warten bis eine Streitkraft vorhanden sei, die mit deutscher Hilfe unwiderstehlich sein würde.12 Die Notwendigkeit abzuwarten bis genügende Kraft für ein schlagkräftiges Vorgehen in Frankreich da sei, kommt übrigens auch in einem Brief an Freya vor.13 In dem Memorandum steht dazu noch, dass eine solche schnelle Entscheidung und Besetzung Deutschlands durch die Westmächte - taktvoll „die Alliierten“ genannt - von der dadurch frei gesetzten „wahren Stimme“ Deutschlands als eine Art westliches Tauroggen begrüßt werden würde.14 Der Bericht stieß trotz seiner diplomatischen Formulierung auf Skepsis und Ablehnung. Trotzdem er eingangs die Annahme der zu Anfang des Jahres proklamierten Forderung der bedingungslosen Kapitulation beteuerte, beinhaltete er eben doch Bedingungen. Die Großen Drei hatten sich jedoch eben erst in Teheran über die gemeinsame Fortführung des Krieges und einige Gesichtspunkte der Nachkriegsregelung geeinigt. Die Westmächte konnten offiziell auf einen solchen Vorschlag nicht eingehen und Präsident Roosevelt, zu dem das Dokument gar nicht durchdrang, hätte das auch nicht gewollt. Sogar die Engländer wollten lieber Deutschland mit russischer Beteiligung besetzen. Aber anscheinend erfuhren englische und russische diplomatische Vertreter erst im Mai 1944 von diesem oder einem ähnlichen Vorschlag.

All das bedeutet, meine ich, nicht, dass man Peter Hoffmann in seinem Buch über die Brüder Stauffenberg voll zustimmen kann, wenn er den Schluss zieht, vor allem aus der Verzögerung der Mitteilung an die Engländer und Russen, dass „die Missachtung der Möglichkeit, Hunderttausende von Menschenleben zu retten, nicht durch den Zwang der Kriegskoalition zu erklären“ ist.15 Das Argument der Möglichkeit, Hunderttausende zu retten, war von einem sehr engagierten aber nicht einflussreichen Befürworter des Plans erwähnt worden.16 Die Auseinandersetzung darüber zog sich über Monate hin und war von sehr unterschiedlicher Qualität. Moltkes alter Freund, der Journalist Wallace Deuel, der mittlerweile für das OSS arbeitete, war auch daran beteiligt. Er legte seine Hand für Moltke ins Feuer, hatte aber Zweifel an der Durchführbarkeit des Plans, besonders was die Möglichkeit und Wirksamkeit der in Aussicht gestellten deutschen Mitwirkung anging.17 Natürlich war auch die Reaktion der Sowjetunion, selbst unter der Annahme der Durchführbarkeit, ein wichtiger Punkt. Der Plan schlug vor, die Ostfront etwa an der Linie Tilsit-Lemberg zu halten. So ist vielleicht Peter Hoffmanns Wort von der „Missachtung“ der vorgeschlagenen Möglichkeit etwas zu streng und vielleicht unterschätzt er auch den Zwang der Kriegskoalition. Er bestand ja nicht nur in dem anglo-amerikanisch-russischen Versprechen der sofortigen gegenseitigen Benachrichtigung über deutsche Kontaktaufnahmen, dessen Bruch den stets argwöhnischen Stalin zu wer weiß was für Sonderabmachungen mit den Deutschen veranlassen konnte - Anzeichen für solche Erwägungen auf russischer und deutscher Seite waren schon da. Worin bestand der Zwang der Koalition? Doch auch in der Überzeugung, dass Deutschland total besiegt werden musste, ohne Abmachungen und Konzessionen und solche Bedingungen, wie sie in dem fraglichen Dokument trotz seiner verbalen Akzeptanz der „bedingungslosen Kapitulation“ enthalten waren. Es kam, wenn nicht auf „bedingte Kapitulation“ dann zumindest auf eine „gesteuerte Niederlage“ hinaus. Der Hinweis des Memorandums auf eine Gefahr der Bolschewisierung Deutschland wirkte, von deutscher Seite kommend, eher wie ein rotes Tuch, wie ein weiterer Versuch, die Koalition zu spalten. Trotz gewisser Bedenken gegenüber der Sowjetunion und Stalins Absichten musste Deutschland mit seiner Hilfe besiegt werden. In den Demokratien war ein Abgehen von der Koalition zu dem Zeitpunkt undenkbar. Hitlers Pakt mit Stalin, der Auftakt zu diesem Krieg, war nur möglich, weil weder Deutschland noch Russland Demokratien waren. Solche politischen Schaltungen können nur Diktatoren vornehmen.

Das Wendejahr 1943 hatte mit der fast gleichzeitigen Bekanntgabe des Endes des Kampfes in Stalingrad und der Proklamation der Forderung bedingungsloser Kapitulation Deutschlands, Italiens und Japans auf der Konferenz von Casablanca begonnen. Im März waren zwei Attentatsversuche auf Hitlers misslungen. Im April gelang dem SD eine empfindliche Schwächung der Abwehr. Im Mai kapitulierten die deutschen und italienischen Truppen in Nordafrika. Im Juli landeten die Alliierten in Sizilien. Mussolini wurde vom Faschistischen Großrat gestürzt und auf Befehl des Königs verhaftet - später aber wieder von Deutschen befreit. Im September landeten die Angloamerikaner in Süditalien und die neue italienische Regierung unter Marschall Badoglio kapitulierte und bot den Alliierten ihre Hilfe an. Die Deutschen intervenierten und kämpften zäh.

An der diplomatischen Front endete dann das Jahr 1943 mit der interalliierten Außenministerkonferenz in Moskau und dem Treffen von Stalin, Churchill und Roosevelt in Teheran. Auf diesen Konferenzen wurde das weitere gemeinsame Vorgehen gegen den gemeinsamen Feind beschlossen. Das etwa war der Rahmen, in dem sich der innerdeutsche Widerstand gegen das Hitlerregime 1943 abspielte.

Bevor das Jahr begann, hatte Dietrich Bonhoeffer eine Bestandsaufnahme nach 10 Jahren nationalsozialistischer Herrschaft gemacht, die er zur Jahreswende 1942/43 Hans von Dohnanyi, Hans Oster und Eberhard Bethge überreichte. Darin äußerte sich Bonhoeffer zur Frage Attentat und Staatsstreich wie folgt: Die Dummheit sei gefährlicher als die Bosheit, die man bekämpfen kann. Menschen könnten dumm gemacht werden, könnten sich dumm machen lassen. Es sei Machtentfaltung, die den Menschen die innere Selbstständigkeit raube, sie erlägen dann Schlagwörtern und Parolen und würden zum willenlosen Instrument und zu allem Bösen fähig und zugleich unfähig, es als Böses zu erkennen. Und nun kommt der springende Punkt: es war für Bonhoeffer ganz deutlich, dass nicht ein Akt der Belehrung sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könne. „Dabei wird man sich“, schrieb er, „damit abfinden müssen, dass eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorausgegangen ist“. Diese war es, die er mit seinen Freunden und Vertrauten anstrebte.

Was er dann über Klugheit schreibt, gehört vielleicht nicht so direkt zur Frage Widerstand, ist aber doch relevant und - für einen Lutheraner - erstaunlich. Die Missachtung der göttlichen Gesetze sei nicht nur unrecht, schreibt er, sondern unklug und er findet es, besonders nach den Erfahrungen der letzten zehn Jahre verständlich, „warum die aristotelisch-thomistische Ethik die Klugheit zu einer der Kardinaltugenden erhob“. „Klugheit und Dummheit“, fährt er fort, „sind nicht ethisch indifferent, wie uns eine neuprotestantische Gesinnungsethik hat lehren wollen“. Und dann: „Es ist einfach in der Welt so eingerichtet, dass die grundsätzliche Achtung der letzten Gesetze und Rechte des Lebens zugleich der Selbsterhaltung am dienlichsten ist, und dass diese Gesetze sich nur eine ganz kurze, einmalige, im Einzelfall notwendige Überschreitung gefallen lassen, während sie den, der aus der Not ein Prinzip macht, und also neben ihnen ein eigenes Gesetz aufrichtet, früher oder später - aber mit unwiderstehlicher Gewalt - erschlagen.“

Dass die verantwortliche Tat, die Befreiungstat, das irdische Leben kosten konnte, wusste er, wussten sie alle, die Widerstand leisteten. „Der Tod kann uns nicht mehr sehr überraschen“ schreibt er. „Unseren Wunsch, er möge uns nicht zufällig, jäh, abseits vom Wesentlichen sondern in der Fülle des Lebens und in der Gesamtheit des Einsatzes treffen, wagen wir uns seit den Erfahrungen des Krieges kaum mehr einzugestehen. Nicht die äußeren Umstände sondern wir selbst werden es sein, die unseren Tod zu dem machen, was er sein kann, zum Tod in freiwilliger Einwilligung.“18

Helmuth James von Moltke glaubte wohl weniger an eine solche Befreiungstat. Er meinte, dass nur eine klare militärische Niederlage zur Befreiung führen könne - Befreiung nicht nur von Hitler sondern von dem, was Hitler möglich gemacht hatte, einschließlich des Militarismus, der - seit dem „großen Moltke“, dem Feldmarschall Bismarcks - eine gesunde politische Entwicklung in Deutschland erschwert hatte. Ein Militärputsch und Staatsstreich, wie ihn die Verschwörer im Sinne hatte, konnte kaum die Grundlage eines gesunden Staatswesens abgeben. Wie Moltke von einer Dienstreise in Schweden an seinen englischen Freund Lionel Curtis schrieb, hielt er es für einen Fehler der deutschen Opposition, dass sie sich auf eine Aktion der Generäle verließ. Diese Hoffnung war, wie er meinte, von vornherein aussichtslos. Der wichtigste Grund war ein soziologischer: „Wir brauchen eine Revolution“ schrieb er, „nicht einen Staatsstreich; und eine solche Revolution wird den Generälen niemals denselben Spielraum und dieselbe Stellung geben, wie sie ihnen von den Nazis eingeräumt worden sind und noch eingeräumt werden.“19

Diese Ansicht spielte sicher eine Rolle in der Auseinandersetzung zwischen der Gruppe von Goerdeler und Beck (für den Moltke große Hochachtung hatte) und dem Kreisauer Kreis. Spannungen gab es monatelang. Anfang Januar 1943 gab es eine Begegnung zwischen den „Alten“ oder, wie Moltke sie nannte, „Exzellenzen“ Goerdeler, Beck, Popitz, Hassell, Jessen und dem Vermittler Fritz von der Schulenburg einerseits und den „Jungen“ vom Kreisauer Kreis: Moltke, Yorck, Gerstenmaier und Trott. Goerdeler wollte die jungen Männer nicht recht ernst nehmen und versuchte die Differenzen bezüglich der geplanten Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verschleiern. Moltke hielt Goerdelers Programm für eine „Kerenski-Lösung“, d. h. eine unhaltbare Zwischenlösung, die zum Kommunismus führen musste. Selbst Hassell fand Goerdeler „eine Art Reaktionär“.20

Was immer die auseinander gehenden Ansichten innerhalb des Widerstandes gewesen sein mögen - im März kam es dann zu zwei Attentatsversuchen, die missglückten. Kann man die Versuche als ein Zeichen nehmen, dass die Ende Januar in Casablanca von Roosevelt formulierte und von Churchill unterstützte Forderung der „bedingungslosen Kapitulation“ sich nicht so lähmend auf den deutschen Widerstand auswirkte wie von manchen angenommen wird? Stalingrad war ein Signal zum Handeln. Wie stark war die Behinderung durch die neue Formel - die eigentlich nur das formulierte, was längst stillschweigende Annahme gewesen war? Schon 1941 hatte Churchill angeordnet, dass jeglichen deutschen Annäherungen durch Schweigen zu begegnen war. Seitdem waren nur noch mehr Gründe hinzugekommen, vor allem die Notwendigkeit, die Koalition mit Sowjetrussland und Amerika zusammenzuhalten. Sachlich hatte die Forderung außerdem das für sich, dass man damit eine Wiederholung des Trauerspiels von Wilsons 14 Punkten und Versailles vermied. Rhetorisch war sie vielleicht weniger glücklich. Aber Goebbels hat wenig daraus gemacht - Historiker des deutschen Widerstands hingegen mehr.21

Im Juni fand die dritte und letzte Konferenz der Kreisauer in Kreisau statt. Die Hauptgesprächsgegenstände waren Außen- und Wirtschaftspolitik sowie die Bestrafung von „Rechtsschändern“. Diese Vokabel wurde benutzt, weil es sich bei den Naziverbrechen nicht nur um Kriegsverbrechen sondern um präzedenzlose Schändungen des göttlichen und Naturrechts handelte, denen schwer mit Paragrafen beizukommen war. Die Bestrafung dieser Rechtsschänder sollte einerseits in deklaratorischer Ächtung bestehen, andererseits von Deutschen oder von einem internationalen Gericht mit deutscher Beteiligung vorgenommen werden. In den folgenden Wochen wurden die besprochenen Entwürfe weiter diskutiert und in dokumentarischer Form festgelegt.22 Außerdem suchte man nach geeigneten Personen, die in der Übergangszeit als „Landesverweser“ fungieren konnten.

Parallel hiermit intensivierten sich im Sommer wieder die Planungen der auf einen Staatsstreich hin arbeitenden Verschwörer. Bis im Herbst Claus Stauffenberg zu dieser Gruppe stieß - bei dem sich Axel von dem Bussche als Attentäter meldete - war Henning von Tresckow der militärische Motor der Verschwörung.

Aber Attentat und Staatsstreich waren ja nicht die einzige Art des Widerstands. Planung für die Zeit nach dem Umsturz oder der Niederlage gehörte auch dazu - ebenfalls der Kampf gegen die Grausamkeiten des Regimes. In seinem schon erwähnten Bericht über die deutschen Zustände, der seinen englischen Freund nie erreichte, schrieb Moltke auch etwas über die Opposition gegen das Regime, jene Männer, von denen man, wie er in einer englischen Schlagzeile entnahm, „so viel hört und so wenig merkt“. Er erwähnte die großen Verluste der Regimegegner, ihre stillen Erfolge bei der Sabotage mancher nationalsozialistischer Maßnahmen, ihre Rettungsaktionen für einzelne Menschen. Zwei dauerhafte Erfolge der Opposition hebt er besonders hervor: die Mobilisierung der Kirchen und die Wegbereitung für ein dezentralisiertes Deutschland.23 In der Tat gehörten zu den Kreisauern nicht nur Kirchenmänner beider Konfessionen wie auch Sozialisten, die dem Christentum positiv gegenüberstanden sondern Moltke war von Anfang an bemüht, die deutsche Glaubensspaltung politisch zu überbrücken und die Hierarchien politisch zu aktivieren.24 Mit dem katholischen Bischof von Berlin besprach er seit 1941 regelmäßig, wie man den Unrechtsmaßnahmen der Regierung und Partei am besten entgegentreten konnte und 1943 gelang es, den Bischof Preysing mit dem evangelischen Bischof von Württemberg zusammenzubringen und beide, Preysing und Wurm, protestierten gegen Verfolgung und Tötung unschuldiger Menschengruppen.25 Auch ein Hirtenbrief der Fuldaer Bischofskonferenz über die Zehn Gebote erregte das Missfallen des Sicherheitsdienstes wegen seiner politischen Relevanz. Da stand nämlich zum 5. Gebot zu lesen: „Tötung ist an sich schlecht, auch wenn sie angeblich im Interesse des Gemeinwohls verübt wurde: an schuld- und wehrlosen Geistesschwachen und Kranken, an unheilbar Siechen und tödlich Verletzten, an erblich belasteten und lebensuntüchtigen Neugeborenen, an unschuldigen Geiseln und entwaffneten Kriegs- und Strafgefangenen, an Menschen fremder Rassen und Abstammung.“26 Der SD beanstandete auch, dass sich der Kommentar zum 6. und 9. Gebot mit der Heiligkeit der Ehe befasste, auch der rassischen Mischehe.27

Moltke selbst war besonders rege in der Verhütung von Geiselerschießungen und verhandelte hierüber nicht nur mit Generälen sondern auch mit den zuständigen SS-Gewaltigen in Holland und Dänemark.28 Außerdem mag er seine Unterredungen mit den Generälen Falkenhausen und Stülpnagel auch zu Sondierungen anderer Art, z. B. betreffend die Möglichkeit einer Öffnung nach Westen, benutzt haben.29 Sowohl in Holland als auch in Skandinavien besprach er sich mit Repräsentanten des Widerstands, der in Norwegen stark von der Kirche getragen war. Es gelang ihm auch dem bereits unter Hausarrest stehenden norwegischen Bischof Berggrav gegen noch peinlichere Repressalien zu helfen.

Moltke war auch in Kontakt mit schwedischen Ökumenikern und andere Kreisauern, besonders Trott und Gerstenmaier, mit dem Vorläufigen Weltkirchenrat in Genf, besonders dessen Generalsekretär A. W. Visser ‚t Hooft, der eine große Hilfe war.30

1945, zwei Jahre nach dem Bericht über die Weiße Rose, begannen wir in London Akten aus den befreiten Gebieten und aus dem besetzten Deutschland zu sehen, auch Papiere aus Konzentrationslagern. Das Entsetzen, das sie verursachten, lässt sich schwer beschreiben. Die Lager waren von den Alliierten überrannt und befreit worden. Auch die ersten Bilder kamen nun nach England. Da bekam ich ein Bündel Akten - Fotokopien - aus der Reichskanzlei: Eingaben an Heinrich Lammers, Chef der Reichskanzlei. Besonders erinnerlich ist mir ein Konvolut, das sich mit der - fälschlich - sogenannten „Euthanasie“ befasste. Da war ein Pastor Braune, der dagegen Einspruch erhob. Und da war, auf komisch kariertem Papier, ein Protest von einem Domprobst Lichtenberg. Es war wie eine Enklave des Himmels in der Hölle. Von den Predigten des Bischofs Galen hatten wir schon während des Krieges gehört. Sie wurden sogar in England veröffentlicht. Aber hier waren weniger prominente Männer, die offenbar ihr Leben aufs Spiel setzten, um das Leben Anderer zu retten. Viel später erfuhr ich Näheres über sie.

Am 5. November 1943 war der Domprobst Bernhard Lichtenberg nach Verbüßung seiner zweijährigen Gefängnisstrafe auf dem Weg nach Dachau gestorben. Er hatte unter anderem öffentlich in Abendandachten in der Hedwigskathedrale in Berlin zum Gebet für „die verfolgten nichtarischen Christen und für die Juden“ aufgerufen. Obwohl er das schon lange getan hatte - schon im November 1938 hatte er, wie er selbst in der Gerichtsverhandlung angab, damit begonnen - war er nie von einem Gemeindemitglied denunziert worden. Das taten dann zwei rheinische Studentinnen, die während einer dieser Andachten in der Kirche waren.31 Der Bericht über Lichtenbergs Gestapoverhör hatte Moltke bei einem seiner Besuche bei Bischof Preysing so beeindruckt, dass er ein Stück davon in einem seiner täglichen Briefe an seine Frau zitierte.32 Lichtenbergs Leiche wurde freigegeben - er war, schwer herzkrank, eines „natürlichen“ Todes gestorben. Sein Bischof, Konrad Preysing, sprach bei seiner Beerdigung, zu der Tausende kamen. Es war die letzte öffentliche Kundgebung der Katholiken Berlins33.

Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen - und jüngere Generationen können es sich kaum vorstellen - in was für einem Staat diese Menschen lebten. Das Gerichtsurteil gegen Lichtenberg mag das beleuchten. Die einschlägigen Paragrafen waren Kanzelmissbrauch und Vergehen gegen das Heimtückegesetz. In der Urteilsbegründung steht dazu:

„Indem der Angeklagte in seinem Gebet ausdrücklich für die Juden und die Gefangenen in den Konzentrationslagern eintrat, befasste er sich öffentlich mit den gegen die genannten Personengruppen eingeleiteten staatlichen Maßnahmen; denn der Grund dafür, dass er sie in seine Fürbitte aufnahm, lag nach seiner eigenen Einlassung allein darin, dass er sie um ihrer Rassenzugehörigkeit oder ihrer Weltanschauung willen für von den staatlichen Behörden verfolgt ansah. Er hat also in Ausübung seines Berufes in einer Kirche vor mehreren Personen Angelegenheiten des Staates zum Gegenstand seiner Verkündigung gemacht. Dies geschah in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise. Sowohl die Regelung der Judenfrage wie auch die Bekämpfung staatsfeindlicher Elemente durch Anordnung der Vorbeugungshaft in Konzentrationslagern sind Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates, an denen die gesamte deutsche Bevölkerung Anteil nimmt ... Dass sich gegen seine Abendandachten bisher niemand beschwert hatte, ... zeigt nur, wie sehr seine Zuhörer durch ihn schon beeinflusst waren.“34

Nun war er also tot. Und inzwischen hatten diese staatlichen Maßnahmen sich auf das ganze besetzte Europa ausgedehnt mit dem Erfolg millionenfachen Mordes.

In Deutschland war man an die Trennung der sogenannten Mischehen gegangen, deren jüdische oder wie es damals hieß „nicht arische“ Partner bisher von der Deportation ausgenommen waren. Das führte im Frühjahr 1943 zu der Demonstration Berliner Ehefrauen, denen es wirklich gelang, ihre schon verhafteten Männer noch mal freizukriegen.

Der Anlass zur Verhaftung von Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer Anfang April 1943 war ein Versuch, der auch gelang, einige Juden, als Abwehragenten getarnt, ins neutrale Ausland zu retten. Hans Oster wurde bei dieser Gelegenheit auch kaltgestellt und war fortan in seiner verschwörerischen Aktionsfähigkeit stark beeinträchtigt.35 Es war der erste Einbruch des SD in die Abwehr, in der sich ja, angefangen bei Admiral Wilhelm Canaris selbst, eine rege Tätigkeit gegen das Regime entfaltet hatte.

Da haben wir ein Spektrum von Widerstand, von dem nur ein Teil zu dem gehörte, was dann am 20. Juli 1944 in dem Versuch des Attentats und Staatsstreichs gipfelte. Alle diese Männer - und Frauen, wie z. B. Margarete Sommer vom Hilfswerk des Bischöflichen Ordinariats in Berlin und Gertrud Luckner, die im Auftrag des Freiburger Erzbischofs Gröber eine ähnliche Hilfstätigkeit entfaltete und dafür ins Konzentrationslager Ravensbrück kam - und junge Leute wie die Studenten und Schüler der Weißen Rose, all diese - wie man sagt - Deutschen setzten ihr Leben ein - und viele verloren es.

In Hava Bellers bewegendem Film über den deutschen Widerstand, „The Restless Conscience“, „Das ruhelose Gewissen“, wird ein Teil von Henning von Tresckows Ausspruch vom 21. Juli 1944 zitiert. Ich möchte den fehlenden Teil zitieren:

„Wenn Gott einst Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, dass Gott auch Deutschland um unsertwillen nicht vernichten wird.“36

Ob Tresckow Deutschland 1945, 1949, 1989 oder heute wohl als „vernichtet“ ansehen würde? Es handelt sich aber - für mich - nicht nur um Deutschland. Gewiss, der Widerstand war eine Manifestation des „Anderen Deutschland“ und das war nach dem Krieg eine gute Sache, auch für diplomatische Werbung im Ausland. Aber nicht darum geht es und nicht nur um Deutschland. Es geht um das, was Helmuth Moltke einmal „das Bild des Menschen“ nannte.37 Die Unmenschlichkeit, die die Menschheit in Hitlers Tausendjährigem Reich erlebte, war vor allem, aber nicht nur, eine Angelegenheit der Deutschen. Man sah, was Menschen möglich war.

Nach den zwölf Jahren waren es die Beispiele der Menschlichkeit, der Mitmenschlichkeit, die einen wieder Vertrauen zu den Menschen, auch deutschen, fassen ließen. Staatswesen sind pervertierbar. Mehr Menschen sind schwach als böse. Wohl denen, die in einem guten Staatswesen leben. Die Deutschen hatten es von 1933 bis 1945 schwer. Nur starke Gemüter konnten den Versuchungen und Drohungen des Dritten Reiches widerstehen.

Dafür, dass es sie gab, muss man sehr dankbar sein.

Anmerkungen:

Beate Ruhm von Oppen, Religion and Resistance to Nazism, Princeton 1971.

John Charmley, Churchill: The end of glory: a political biography. London 1993.

Jürgen Heideking und Christof Mauch, Das Herman-Dossier: Helmuth James Graf von Moltke, die deutsche Emigration in Istanbul und der amerikanische Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS), Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (40) 1992, S. 574, Anm. 36.

George F. Kennan, Memoirs 1925-1950, Boston 1967, S. 121; deutsch Memoiren eines Diplomaten, Stuttgart 1968, S. 127.

Beate Ruhm von Oppen (Hg.), Helmuth James von Moltke, Briefe an Freya 1939-1945, München 1988, Brief vom 13.11.41, S. 317.

Hermann Vinke, Das kurze Leben der Sophie Scholl. Ravensburg 1980, S. 125.

Vinke, Sophie Scholl (s. Anm. 6), S. 146.

Vinke, Sophie Scholl (s. Anm. 6), S. 157.

Test der „Kurzfassung“ mit Begleitbrief des Bischofs in Ger van Roon, German Resistance to Hitler: Count Moltke and the Kreisau Circle, translated by Peter Ludlow, London 1971, S. 364-367; Originaltext in Henrik Lindgren, Adam von Trotts Reisen nach Schweden 1942-1944, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (18), 1970, S. 274-291; wiederabgedruckt in Michael Balfour/Julian Frisby, Helmuth von Moltke: A Leader against Hitler, London 1972, S. 215-224; deutsch in Freya von Moltke/Michael Balfour/Julian Frisby, Helmuth James von Moltke 1907-1945: Anwalt der Zukunft, Stuttgart 1975, S. 212-220.

Wilhelm Ernst Winterhager (Hg.), Der Kreisauer Kreis: Porträt einer Widerstandsgruppe. Begleitband zu einer Ausstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1985, S. 234 f.

Herman-Dossier (s. Anm. 3), S. 567-623.

Herman-Dossier (s. Anm. 3), S. 584 f.

Moltke, Briefe (s. Anm. 5), 7.1.44, S. 587.

Herman-Dossier (s. Anm. 3), S. 590.

Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992, S. 360.

Herman-Dossier (s. Anm. 3), S. 588.

Herman-Dossier (s. Anm. 3), S. 615-619.

Eberhard Bethge (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Neuausgabe, München 1970, S. 16-20.

Helmut James von Moltke, Bericht aus Deutschland im Jahre 1943. Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel 1945. Berlin 1971, S. 19-46.

Moltke, Briefe (s. Anm. 3), Brief vom 9.1.43, S. 450 f.; Eugen Gerstenmaier, Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht, Berlin 1981, S. 169 f.; Die Hassell-Tagebücher 1938-1944. Ulrich von Hassell, Aufzeichnungen vom Anderen Deutschland. Nach der Handschrift revidierte und erweiterte Ausgabe unter Mitarbeit von Klaus Peter Reiss herausgegeben von Friedrich Freiherr von Gaertringen, Berlin 1988, S. 347.

Ihr schärfster deutscher Kritiker ist Lothar Kettenacker in seinem Beitrag über „Die britische Haltung zum deutschen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs“ in Lothar Kettenacker (Hg.), Das „Andere Deutschland“ im Zweiten Weltkrieg: Emigration und Widerstand in internationaler Perspektive, Stuttgart 1977, S. 49-74.

Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 550-571, und Roman Bleistein (Hg.), Dossier: Kreisauer Kreis. Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Aus dem Nachlass von Lothar König S.J., Frankfurt am Main 1987, S. 239-299 und 337-353.

Moltke, Bericht (s. Anm. 19), S. 38 f.

Moltke, Briefe (s. Anm. 5), S. 12-14.

Ludwig Volk (Hg.), Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945. Band 5, Mainz 1983, S. 675-678, 817-819, 938-943; Band 6, Mainz 1985, S. 19 ff., 21 ff., 25, 42, 62-65, 99 f., 128, 145, 192, 202, 207, 215-220, 267-270, 283, 285, 291 f., 293, 332, 429. Für Wurms Engagement s. Heinrich Hermelink (Hg.), Kirche im Kampf, Tübingen 1950, S. 654 ff., 659 f., sowie Gerhard Schäfer (Hg.), Landesbischof Wurm und der nationalsozialistische Staat 1940-1945. Eine Dokumentation. Stuttgart 1968, S. 149 ff., 160 ff., 163 f., 165 f.

s. „Protokoll der Plenarkonferenz des deutschen Episkopats, Fulda, 17.-19. August 1943“ in Volk, Bischofsakten (s. Anm. 25), Band 6, S. 133-146, und „Hirtenwort des deutschen Episkopats vom 19.8.43 - am 29.8.43 verlesen“, S. 178-184, sowie „Hirtenwort über die Zehn Gebote vom 19.8.43 - verlesen am 12.9.43“, S. 197-205. Siehe auch zwei Entwürfe von Eingaben des deutschen Episkopats vom 22./23. August 1943 gegen die Auflösung der Mischehen und die „Evakuierung der Nichtarier“, S. 216 ff. und 220 f. Für die „Handreichung an die Pfarrer und Ältesten zum fünften Gebot der letzten altpreußischen Bekenntnissynode vom 16.-17. Oktober 1943“ s. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse. München 1967, S. 795-797.

Heinz Boberach (Hg.), Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934-1944. Mainz 1971, Nr. 264, S. 850-855, besonders 853 f.

Moltke, Briefe (s. Anm. 5), Brief vom 5.6.43, S. 484-486, vom 7.6.43, S. 488, vom 12.9.43, S. 537, vom 4.-5.10.43, S. 550-552.

Moltke, Briefe (s. Anm. 5), Brief vom 5.-8.6.43, S. 488-491.

Für die umfassende Darstellung der Auslandskontakte des deutschen Widerstands siehe Klemens von Klemperer, German resistance against Hitler: the search for allies abroad 1938-1945. Oxford 1992. Das Buch ist dem Andenken der beiden ökumenischen Haupthelfer, George Bell und W. A. Visser ‚t Hooft, gewidmet.

Alfons Erb, Bernhard Lichtenberg, Domprobst von St. Hedwig zu Berlin. 5. Aufl., Berlin 1968, S. 80.

Moltke, Briefe (s. Anm. 5), Brief vom 14.11.41, S. 319-323.

Erb, Lichtenberg (s. Anm. 31), S. 136-138.

Erb, Lichtenberg (s. Anm. 31), S. 104-105.

Bethge, Bonhoeffer (s. Anm. 26), S. 878-885.

Fabian von Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler. Neue, durchgesehene und erweiterte Auflage von Walter Bussmann. Nach der Edition von Gero von S. Gaevernitz. Berlin 1984, S. 129.

s. Balfour/Frisby, Moltke (Anm. 9), S. 184-186; deutsch in Moltke/Balfour/Frisby (Anm. 9), S. 184-187 (unvollständig).