Der Kampf freier Menschen für die Freiheit

Heinrich Albertz

Der Kampf freier Menschen für die Freiheit

Ansprache des Senators für Inneres Dr. Heinrich Albertz am 19. Juli 1962 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Jedes Jahr, wenn wir uns in diesem außergewöhnlichen Kreis an diesem außergewöhnlichen Ort versammeln, geht es mir und geht es wahrscheinlich uns allen so: Das erste Gefühl, was uns verbindet, ist die tiefe Dankbarkeit für den Reichtum, den uns die Männer und Frauen des 20. Juli für unser ganzes Volk und damit auch für uns selber geschenkt haben: Ich möchte es jedenfalls bekennen, zu den schwierigsten Stunden des letzten Jahres seit dem 13. August 1961 waren Glaube und Hoffnung, waren Geduld und Tapferkeit des deutschen Widerstandes gegen die Tyrannei des Nationalsozialismus wie ein Seil, an dem ich mich festhalten konnte. Was wir heute gebrauchen, ist damals gelebt worden. Was sich in diesen Monaten in dieser Stadt zumeist in aller Stille als tragfähig erwiesen hat im Kampf gegen eine neue Tyrannei, kommt dort, wo es sich lauter und rein um den Kampf freier Menschen für die Freiheit handelte, an die Beispiele heran, deren wir heute wieder gedenken.

Die Mauer, auf die Sie, liebe Freunde, jetzt wieder sehen, hat unmittelbar und in einer bestürzenden Weise etwas mit jener anderen Mauer zu tun, die, seitdem wir das letzte Mal hier versammelt waren, durch diese Stadt gezogen wurde. Darum möchte ich, der ich Sie herzlich und dankbar für die Obrigkeit des freien Teils dieser Stadt hier wieder begrüßen darf, dies als Erstes sagen: In den Belastungen, denen wir jetzt wieder ausgesetzt sind und die nach menschlichem Ermessen in den nächsten Wochen und Monaten nicht leichter, sondern vielleicht noch schwerer für uns werden, werden wir, wenn wir recht handeln wollen, nach dem Gesetz und in der Liebe zu leben haben, die die Grundlage für Handeln und Opfer der Männer und Frauen war, die damals als Menschen für Menschen, als rechtlich Denkende für das Recht, als die Freiheit Liebende für die Freiheit den schweren Weg des Opfers ihrer Existenz gegangen sind. Was heißt das ?

Das heißt zuerst, dass wir uns in den Grundlagen dieser Gesinnung mehr als bisher über alle Gegensätze und Unterschiede in zweit- und drittrangigen Meinungen zusammenfinden. Wir leben hier in Berlin seit Jahr und Tag näher beieinander, als es in der Bundesrepublik Deutschland gemeinhin üblich ist. Wir versuchen, so schwer es uns fallen mag, das Große groß und das Kleine klein erscheinen zu lassen. Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Nation dort, wo sie sich noch frei bewegen kann, dieses mehr und mehr begreift: Vor außergewöhnliche Entscheidungen gestellt, wird es unwichtig, aus welcher Quelle ich Kraft und Einsicht für meine Entscheidungen ableite, aus den Zehn Geboten, aus einer lauteren politischen Gesinnung oder aus anderen Bindungen in dieser oder jener Gemeinschaft. Wichtig ist allein, dass das Menschliche geschieht für die Menschen, die uns anvertraut sind, für diese Stadt, dieses Volk, dieses Vaterland in seiner ganzen unseligen und schrecklichen Zerrissenheit.

Das Zweite aber, was ich sagen möchte, ist dies, und das ist ganz tief eingeschlossen in die Dankbarkeit, von der ich zu Beginn geredet habe. Seit dem 13. August 1961 sind in dieser Stadt Dinge geschehen, von denen wir erst in vielen Jahren werden offen reden können. Junge Menschen, deren Namen ich nicht nennen darf, aber deren Namen einst auf eine Tafel gehören, die den Inschriften hier in Plötzensee sehr nahe kommt, haben ohne Befehl, ohne Ruhm und Lohn ihr Leben für andere zum Opfer gebracht, in der Kanalisation dieser Stadt, in unter unendlicher Mühe gebauten Tunneln, vor den Stacheldrähten der grausamen Zwangsherrschaft, die sich in nichts von der Diktatur Adolf Hitlers unterscheidet, oft mit bloßen Händen, gegenüber den Maschinenpistolen eines verbrecherischen Systems. Die Geschichte des deutschen Widerstandes wird in einer neuen Form fortgeschrieben. Das kann uns ermutigen und uns über vieles hinweghelfen, was im Vordergrund deutschen Lebens und Gehabens in der Bundesrepublik uns oft in seiner Instinktlosigkeit die Schamröte ins Gesicht treibt. Das sind die namenlosen und stillen Beispiele, die erst später ans Licht kommen werden. Aber das Dritte und Letzte, was ich sagen möchte, ist dies:

Auch die politisch Verantwortlichen, die, deren Namen wir kennen, die, die öffentlich Verantwortung tragen und denen niemand diese Verantwortung abnehmen kann, werden in den auf uns zukommenden Entscheidungen gut daran tun, die Geschichte des deutschen Widerstandes in der Nazizeit immer wieder zu lesen, den schweren Konflikten nachzuspüren, in denen scheinbare oder wirkliche Pflicht und das Gewissen Einzelner damals in den Widerstreit gerieten. Ich verrate kein Geheimnis, dass auch heute schon ähnliche Konflikte wieder gegeben sind. Wenn es im letzten Ernst um die Freiheit dieser Stadt und damit um die Sache der Freiheit im Herzen Europas gehen wird, dann werden neben und hinter allem Spektakulärem, was auf uns zukommen mag, die Standfestigkeit und die Geradlinigkeit Einzelner den Weg unseres Volkes bestimmen. Kein anonymes Votum, keine geheime Abstimmung, kein Kompromiss zwischen Schwarz und Rot, sondern Du und ich, wir werden gefragt sein, was wir persönlich und unvertretbar für richtig halten. Möchte dann dieser Ort noch deutlicher und ernster als bisher nicht aus unserem Gedächtnis verschwinden, möchte die Gemeinschaft, in der wir heute beieinander sind, dann halten, und möchten wir uns dann vor den Männern und Frauen, derer wir heute in tiefer Dankbarkeit gedenken, nicht schämen müssen. Der 20. Juli 1962 sollte in diesem Sinne uns allen ein Tag der Ermahnung, aber auch der Ermutigung und der Hilfe sein. Es stände gut, wenn die Bereitschaft zum Kompromiss, das heißt zum gemeinsamen Handeln, von unserer jungen Mannschaft an dem Beispiel der Widerstandskämpfer gelernt würde, die sich und ihren Glauben nicht zu verraten glaubten, wenn sie zum Teil über Jahre hinaus mit Leuten anderer geistiger Herkunft zusammenarbeiteten.

Und zum Abschluss: Wir wissen, wie gefährdet der lebendige Glauben an Gott in unserer Gegenwart ist. Die Schädelstätten einer verwirrten Welt künden uns vielerorts den Abfall der Menschen von Gott. Mord und Unrecht wird es weiterhin geben. Aber der systematische, mathematisch-rationelle Mord, das perfekte und noch ideologisch motivierte Unrechte: Sie sind Errungenschaften unseres Jahrhunderts, das in zwei Kriegen 80 Millionen Menschen umbrachte. Man könnte zynisch oder verzweifelt werden beim Anblick dieser Fakten, wenn nicht das Vertrauen da wäre, dass Geschichte ein Raum der Freiheit ist und wir gerufen sind, in diesem Sinne Geschichte zu machen. Der Einzelne scheint dabei ganz ohnmächtig zu sein. Das entmutigt viele. Aber auch das gehört zu den eindringlichen Lehren, die uns das Opfer vermitteln kann, dessen wir heute gedenken: dass die Tat des einzelnen Menschen unverlierbar ist und selbst im Kerker neues Leben zeugt. Es bedarf nur der Menschen, die Zeugnis ablegen, und – das ist die Sache von uns Nachfahren – der Menschen, die fähig sind, von der Größe des Opfers erschüttert zu werden. Zu diesem Zweck sind wir hier: Zeugnis abzulegen und ihnen, die für eine heile Welt starben, im Angesicht der Lebenden zu danken.






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