Der Mut zum individuellen Gewissen

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Annemarie Renger

Der Mut zum individuellen Gewissen

Gedenkrede der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Ehrenpräsidentin des Zentralverbandes Demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen (ZDWV) Dr. h.c. Annemarie Renger am 20. Juli 1981 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

meine Damen und Herren!

Zu dieser Stunde, zu der wir hier versammelt sind, hatte sich damals in Berlin bereits alles entschieden.

Das Attentat auf Hitler war gescheitert und damit war der Versuch, Deutschland noch in letzter Stunde von innen her aus eigener Kraft von der furchtbaren Tyrannenherrschaft zu befreien, misslungen.

Wenige Stunden später starben unter den Kugeln eines Hinrichtungskommandos die ersten der Offiziere, die es gewagt hatten: Graf Stauffenberg, Olbricht, von Haeften, Mertz von Quirnheim.

In den folgenden Tagen und Wochen wurden Hunderte von Angehörigen der Widerstandsbewegung verhaftet, vor einen sogenannten Volksgerichtshof gestellt und von diesem dem Henker ausgeliefert.

Damit war die deutsche Widerstandsbewegung der meisten ihrer führenden Köpfe beraubt, war die letzte Hoffnung vieler zerstört.

War der Widerstand deshalb umsonst?

War deshalb alles vergeblich gewesen?

Wenn man nur nach den geschichtlichen Fakten geht, ist die Antwort eindeutig.

Aber diese Frage lässt sich nicht aus den historischen Fakten allein beantworten.

Es ist letzten Endes eine Frage, die immer an uns selbst, die Nachlebenden, zu richten ist und die von uns selbst beantwortet werden muss.

Herr Bundespräsident, ich danke Ihnen dafür, dass Sie zu uns gekommen sind, um in dieser Feierstunde des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zu gedenken und um eine Antwort zu geben auf diese immer wieder neu sich stellende Frage.

Ich danke Ihnen für die Würdigung des Widerstandes in seiner geschichtlichen Bedeutung und ich danke Ihnen auch für Ihre eindrucksvollen Worte, mit denen Sie des Opfermutes derer gedachten, die es wagten, der totalitären Diktatur des Nationalsozialismus zu trotzen und nur der Stimme ihres Gewissens zu gehorchen.

„Es war der Mut zum individuellen Gewissen, der den ersten Antrieb zum Widerstand bildete“, schrieb Annedore Leber, die sich als Frau des ehemaligen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und führenden Mitglieds der Widerstandsbewegung, Julius Leber, selbst nach dem 20. Juli einige Zeit in Haft befunden hatte.

Und sie fügt dieser für alle Angehörigen des Widerstandes geltenden zentralen Feststellung die folgenden mahnenden Worte hinzu:

„So entscheidet auch heute das Gewissen jedes Deutschen, ob die Tragik unserer jüngsten Geschichte für Gegenwart und Zukunft fruchtbar werden kann, oder ob wir von der klaren Stellungnahme gegenüber dieser Vergangenheit und ihren polaren Erscheinungen von Untat und Widerstand ausweichen.

Eindringlicher denn je ist der Anruf an uns gerichtet, dem universellen menschlichen Anspruch auf Gerechtigkeit und Freiheit den gebührenden Raum in unserem Denken zu geben.

Und gewiß bleibt wahr - wie es kaum für ein Ereignis in der deutschen Geschichte gilt -, daß uns durch jene Rechts- und Freiheitsbewegung, die sich unter den unvergleichbaren Umständen der modernen totalen Diktatur in unserem Volke bildete, auch die Umrisse für eine gültige Tradition gezeichnet wurden.“

Annedore Leber schrieb diese Sätze vor mehr als 20 Jahren, aber sie sind auch für uns heute richtungsweisend.

Es wird immer eine Aufgabe von uns Deutschen bleiben, zu dieser unserer Vergangenheit klar Stellung zu beziehen und uns dabei dieser beiden polaren Erscheinungen in unserer Geschichte stets bewusst zu sein.

Der abscheulichen Untat eines Holocaust steht die von höchstem sittlichen Bewusstsein und unbedingter Gewissenstreue zeugende Widerstandsbewegung gegenüber. Im Bewusstsein dieser beiden polaren Möglichkeiten unserer Geschichte erkennen wir, was für die Zukunft zu tun ist.

Sie haben es, Herr Bundespräsident, als ein Vermächtnis der Widerstandsbewegung bezeichnet, auf soziale Konflikte nicht mit Hass und Gewalt zu reagieren.

Wir sehen mit Besorgnis, wie sich auch wieder der Ungeist der Gewaltverherrlichung und des Irrationalismus ausbreitet, und müssen daher alles tun, um junge Menschen davor zu bewahren, indem wir ihnen etwas von den Werten und den sittlichen Lebenskräften vermitteln, von denen der Widerstand gegen den Nationalsozialismus getragen war.

Ich sehe mit Besorgnis eine offenbar wachsende Zahl von rechtsradikalen Gruppen und Grüppchen, in denen sich der Ungeist der Gewaltverherrlichung und des Irrationalismus bereits eingenistet hat.

Der heutige Rechtsradikalismus ist trotz seiner Zersplitterung und geistigen Führungs- und Orientierungslosigkeit eine internationale Erscheinung.

Er verlangt über die Grenzen hinweg Wachsamkeit und Solidarität in seiner Bekämpfung.

Ich sehe auch, wie das schleichende Gift des Antisemitismus, der sich gern auch als Antizionismus ausgibt, sich hier und dort wieder verstärkt zu verbreiten beginnt.

Wenn es überhaupt für Eltern, Lehrer und Erzieher eine aus unserer Geschichte erwachsende Verpflichtung gibt, so ist es diese, die ihnen anvertrauten jungen Menschen gegenüber diesem gefährlichen Gift immun zu machen.

Auch die Angehörigen des ehemaligen Widerstandes sollten sich aufgerufen fühlen, daran mitzuwirken.

Ich sehe aber auch noch eine andere Gefahr. Mit Bedenkenlosigkeit oder gar Skrupellosigkeit wird unser demokratisch-parlamentarisches Staatswesen attackiert in einer Sprache, die mich an die Systemkritik der Weimarer Republik erinnert.

Daneben wird ein Sozialhass geschürt, der sich, wie kürzlich in Berlin, im Anprangern einiger Gruppen missliebiger Bürger ausdrückte.

Ich frage mich, wie weit ist es dann noch, bis wieder Listen herumgehen und Menschen vogelfrei erklärt werden!

Solange oppositionelle Kräfte die Spielregeln einhalten, können sie durchaus befruchtend auf die Politik einwirken. Aber der organisierte Anti-Parlamentarismus, der sich die Zerstörung unserer verfassungsmäßigen Grundordnung zum Ziel setzt, muss auf den entschiedenen Widerstand aller stoßen, die aus den Erfahrungen einer unseligen Vergangenheit gelernt haben.

Seit dem tragisch gescheiterten Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 sind 37 Jahre vergangen - ein gutes halbes Menschenalter also.

Das bedeutet, dass ein großer Teil der Lebenden - zwei Drittel unserer Bevölkerung oder die Hälfte aller erwachsenen Mitbürger - jene Zeit nicht mehr bewusst miterlebt haben.

Wir leben in einem Staat, der der Achtung vor der Würde des Menschen, dem Schutz des Rechts und der Sicherung der Freiheit verpflichtet ist.

Sorgen wir dafür, dass mit dem Abstand von der Herrschaft des Unrechts und der Unfreiheit die Erinnerung in unserem Volke nicht verblasst und dass der Blick für die Gefährdungen der Freiheit geschärft bleibt.






Weitere Reden

20.07.1981
Prof. Dr. Karl Carstens
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