Der Widerstand - eine Verpflichtung

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Karl Gumbel

Der Widerstand - eine Verpflichtung

Gedenkrede des Staatssekretärs im Bundesministerium der Verteidigung Karl Gumbel am 20. Juli 1965 in der Bonner Beethovenhalle

Wir haben uns hier versammelt, um des Tages der deutschen Erhebung, des 20. Juli 1944, zu gedenken.

Der zeitliche Abstand, der uns von den Ereignissen jenes Tages trennt, wird immer größer. Nun sind es bereits 21 Jahre, die seitdem vergangen sind. Zugleich wird die Erinnerung an das, was sich damals abgespielt hat, blasser. Auch wächst eine Generation heran, die darüber nicht mehr viel oder überhaupt nichts mehr weiß. Zudem: wer feiert schon eine Niederlage und einen missglückten Aufstand? Haben wir nicht erst vor kurzem einen Zwiespalt der Gefühle beobachtet, als sich das Datum des deutschen Zusammenbruchs und der bedingungslosen Kapitulation zum 20. Male jährte?

Es ist also durchaus Grund gegeben, die Frage nach der Berechtigung und nach dem Sinn dieser Gedenkfeier erneut zu stellen und darüber nachzudenken.

Es wäre ein falscher Ausgangspunkt, die Tat des Grafen Stauffenberg und seiner Mitverschworenen - diesen Versuch der gewaltsamen Beseitigung des Tyrannen - für sich allein zu betrachten. Die Erhebung war kein spontanes Ereignis, kein jäher Aufbruch. Der 20. Juli 1944 war vielmehr der Höhepunkt und zugleich der Kulminationspunkt des deutschen Widerstands gegen ein totalitäres System. Dieser Widerstand ist am 20. Juli für alle sichtbar in Erscheinung getreten. Er war sehr vielen, wohl den meisten Zeitgenossen, bis dahin verborgen geblieben. Seine Geburtsstunde hatte jedoch viel früher geschlagen. Er setzte bereits ein, als sich die Nationalsozialisten 1933 der Macht im Staate bemächtigt hatten. In dem verpflichtenden Bewusstsein ihrer Verantwortung für das öffentliche Wohl fanden sich deutsche Männer und Frauen zusammen, die - ihrem Gewissen folgend - zum Widerstand gegen den Missbrauch der Demokratie, gegen die Missachtung der Menschenwürde, gegen den Rassenwahn und gegen die rücksichtslose Machtbesessenheit der Gewaltherrscher entschlossen waren.

„Wenn es nach uns ginge, so wollten wir uns lieber nicht in diesen Kampf ... mit hineinreißen lassen; wenn es nach uns ginge, so wollten wir lieber nicht immer auf unserer Sache bestehen müssen ...; wenn es nach uns ginge, so zögen wir uns heute lieber als morgen zu den Stillen im Lande zurück ... Aber es geht eben - Gott sei Dank - nicht nach uns ... Wir sind vor die Entscheidung gefordert, wir können nicht ausweichen ...; es heißt Entscheidung, es heißt Scheidung der Geister.“

Diese Sätze stammen aus einer Predigt Dietrich Bonhoeffers aus dem Sommer 1933.

Die deutsche Widerstandsbewegung war nicht exklusiv. Sie war nicht Sache einer Partei, einer Klasse, eines Standes, einer Berufsgruppe - in ihr waren vielmehr alle Schichten unseres Volkes vertreten. Vielgestaltig waren auch die Formen des Widerstands: er reichte von der schweigenden Obstruktion bis zum lauten Protest, vom Rücktritt bis zur Hilfe für Verfolgte, von der Denkschrift bis zur Gewaltanwendung. Nicht jeder Widerstand endete tödlich; aber er war stets mit Gefahr, Verfolgung und Leid verbunden. Der Erfolg ist ihm versagt geblieben.

Die Vermessenheit und die Hybris der nationalsozialistischen Machthaber und der Widerstand, der ihnen entgegengesetzt und dessen Fanal die Erhebung des 20. Juli wurde, sind ohne Beispiel in unserer Geschichte. Beides zusammen ist viel mehr als eine flüchtige Episode in unserer nationalen Vergangenheit, mit der sich nur noch Historiker zu beschäftigen hätten. Hitler hat Deutschland in das tiefste Unglück seiner Geschichte gestürzt, das fortwirkt und dessen Ende wir nicht zu erkennen vermögen. Auch Widerstand muss fortwirken. Er hat eine hehre und gegenwärtige Bedeutung für die Überlebenden und für die nachwachsende Generation. Er ist der stets sich erneuernde Aufruf an uns, den Geist der Freiheit zu bewahren und für die Freiheit einzutreten, wie es jene taten, die in aussichtsloser Lage den Mut zum Widerstand gegen die Tyrannei fanden. Ihr Vermächtnis verpflichtet uns, für die Würde des Einzelnen und für die Menschenrechte, für eine gerechte und soziale Ordnung zu kämpfen.

Aus dem Regierungsprogramm der Männer des 20. Juli stammen folgende Kernsätze:

„Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts.“

„Wir wollen die Grundlagen der Sittlichkeit wiederherstellen, und zwar auf allen Gebieten des privaten wie des öffentlichen Lebens.“

„Die zerbrochene Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung wird wiederhergestellt.“

Dieser Geist und die Haltung der Männer und Frauen des deutschen Widerstands waren Richtpunkte für uns bei der Neuordnung und dem Aufbau unseres Gemeinwesens, das wir stellvertretend zugleich für die von uns getrennten Brüder und Schwestern geschaffen haben. Wir werden dieser Richtpunkte noch lange bedürfen. So, meine ich, hat diese Feierstunde, die von der Demut des Erinnerns getragen werden soll, ihre tiefe Berechtigung. Der 20. Juli ist kein Erinnerungsdatum allein für diejenigen, die unmittelbar dabei gewesen und der Hölle der Verfolgung und der Rache entronnen sind.

Unsere Jugend hat den 20. Juli nicht selbst erlebt. Welches Bild - so frage ich - macht sie sich von den Vorgängen und von den Zusammenhängen, welches Urteil bildet sie sich? Ich habe eingangs schon gesagt, dass es damit nicht gut bestellt ist. Die Jugend ist schlecht und unzulänglich unterrichtet.

Es ist daher für die, die mit dabei waren, eine der vornehmsten Aufgaben, der jungen Generation, die heute bereits an der Verantwortung für den Staat teilhat - die 21-jährigen, die bei den Bundestagswahlen zum ersten Mal zur Wahlurne gehen werden, gehören zum größten Teil dem Geburtsjahrgang 1944 an und werden morgen die ganze Verantwortung tragen -, das Vermächtnis des 20. Juli zu vermitteln.

Es ist keine einfache Sache, jungen Menschen gegenüber, die in der rechtsstaatlichen Ordnung unseres demokratischen Staatswesens aufwachsen, die Widerstandskämpfer zu legitimieren und die sittliche Berechtigung zum Widerstand gegen die bestehende Ordnung unter den damaligen Verhältnissen darzutun. Der Wertung muss die Darstellung vorausgehen. Ohne eine umfassende Kenntnis des geschichtlichen Ablaufs jener Jahre gibt es keine sachgerechte Wertung und Würdigung des Widerstands und des 20. Juli. Wir müssen also das Wissen um die Dinge weitergeben. Das schließt die wichtige Frage ein, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Geht man gerade dieser Frage nach, so ist das entscheidende Datum für Lehre und Beispiel der Vergangenheit, mit der wir leben, weniger der 20. Juli 1944 als vielmehr der 30. Januar 1933.

Denn die Tat der Männer des 20. Juli entsprang ihrer individuellen Entscheidung in einer Ausnahmesituation. Einmaligkeit in der Geschichte setzt jedoch keine Norm. Der kalte Hauch der Geschichte berührt uns, wenn wir in Dokumenten und Schilderungen von den einsamen Stunden lesen, in denen das Schicksal vom Einzelnen höchste Bewährung forderte. „Wir haben uns vor Gott und unserem Gewissen geprüft: es muß geschehen.“ Das sind Worte Stauffenbergs. Die sich bewährten, sind uns Beispiel. Sie sind Vorbilder menschlicher Größe. Rezepte für unser Verhalten können sie uns jedoch nicht geben. Die, die am 20. Juli gehandelt haben, machen uns nicht - um eine Formulierung Jakob Burckhardts in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ aufzunehmen - „klug für ein andermal“, wohl aber können sie uns „weise für immer“ machen.

Die „Weisheit“ des Widerstands gegen Hitler besteht in der Einsicht, dass sich der 30. Januar 1933 nicht mehr wiederholen darf. Das ist der Kern des Vermächtnisses, das uns die Widerstandskämpfer hinterlassen haben. Wird das erkannt und danach gehandelt, dann ist der 20. Juli nicht mehr nur ein Anlass für öffentliche Feierstunden sondern vielmehr ererbtes Gut und wirksame Kraft in den Herzen unserer Bürger.

Es hat sich erwiesen, wie schwer - ja, dass es fast unmöglich ist, in einem totalitär regierten Staat, der alle Lebensbereiche organisiert, der alle Mittel der Meinungsbildung zur Durchsetzung seiner Ziele einsetzt und abweichende Anschauungen nicht duldet, der die Gesetzgebung bestimmt und die Rechtsprechung seinem Willen unterordnet, Widerstand zu leisten und die Wiederherstellung menschenwürdiger Zustände zu erzwingen. Einen aktuellen Anschauungsunterricht über die Verhältnisse, die in einem derartigen Staat herrschen, erhalten wir noch heute tagtäglich durch das kommunistische Regime in Mitteldeutschland.

Wichtiger noch als diese Kenntnis erscheint mir jedoch das Wissen um Anzeichen, Erscheinungen und Ursachen, die den verhängnisvollen Weg zum totalitären Staat öffnen. Unsere jungen Deutschen müssen wissen, warum es möglich gewesen ist, dass sich in unserem Land ein Unrechtsstaat etablieren und Macht über alle Bürger gewinnen konnte. Der Jugend muss gezeigt werden, wo die Schwächen lagen, die dem Nationalsozialismus den Griff zur Macht ermöglicht haben. Sie müssen auf das geistige Durcheinander und die politische Zersplitterung am Ende der Weimarer Demokratie hingewiesen werden, auf das mangelnde Engagement der Bürger, die fehlende Identifizierung mit der gültigen Staatsordnung, auf die Nachsicht gegenüber den Feinden der Demokratie, auf die Illusion, eine einmal in den Sattel gehobene Diktatur könne innerhalb der Grenzen und Schranken einer Demokratie gebändigt und gehalten werden.

Wer die Umstände kennt, die zum Niedergang der ersten deutschen Demokratie geführt haben, gelangt zu Einsichten und Maßstäben, die verpflichtende Richtschnur für sein Verhalten in der Zukunft sind. Die Überantwortung der Macht im Staate an die Hitlerpartei war nicht unvermeidlich und nicht unausweichlich. Auf dem Hintergrund der historischen Tatsachen und Wahrheiten bedeutet „weise für immer“; sich für die Erhaltung und für die Bewahrung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung allezeit einzusetzen. Das verlangt Gemeinsinn und Verantwortungsbewusstsein von jedem einzelnen Bürger. Den Feinden und Gegnern von Menschenwürde, Recht und Freiheit muss entschlossen entgegengetreten und jeder Versuch, unsere Ordnung zu untergraben und zu zerstören, unmöglich gemacht werden. Nur auf diese Weise bewahren wir und die, die nach uns kommen, das Erbe derer, die im Hof der Bendlerstraße und an vielen anderen Orten, an finsteren Wänden, vor denen sie zusammenbrachen, an Fleischerhaken, an denen sie ihr Blut verströmten, sich selbst der Freiheit zum Opfer brachten.

Es geht nicht darum, die Vergangenheit in dem Sinn zu „bewältigen“, dass man von ihr freikomme, um endlich vergessen zu können. Es geht vielmehr darum, die Zukunft zu bewältigen, in die wir unsere Vergangenheit, unsere Geschichte mit hineinnehmen müssen. Dazu müssen wir uns mit dem, was geschehen ist, auseinandersetzen, daraus lernen und dem Hang zur Rechtfertigung abschwören. Nicht das Trennende, das in den oftmals zu abstrakt geführten Diskussionen um die sittliche Berechtigung des Tyrannenmordes und um das Maß der Eidesbindung gegenüber einer gottlosen Staatsgewalt zutage treten kann sondern das Verbindende des Kampfes um und für die Freiheit muss im Vordergrund der bewusstseinsbildenden Lehre vom deutschen Widerstand stehen.

An dieser Stelle sollten wir unser Augenmerk für einen Augenblick auf jenes Ereignis werfen, das in einer inneren Verbindung zum 20. Juli steht: an den Aufstand der Arbeiter in Ost-Berlin und anderen Orten der Zone am 17. Juni 1953. Beide Ereignisse gehören zusammen. Beiden Ereignissen ist gemeinsam, dass sie mehr sind als flüchtige Tagesbegebenheiten. Beide Male brach aus Menschen der Wille hervor, gegen eine Macht ohne Recht und Gesetz, gegen die staatliche Willkür aufzustehen. Beide Ereignisse sind von der Ohnmacht der Freiheit und vom Scheitern des Widerstands gekennzeichnet.

Jene Deutschen im anderen Teil unseres Vaterlandes müssen noch immer die Freiheit entbehren, deren wir uns erfreuen dürfen.

Einen starken Kontrast zu dieser düsteren Vergangenheit und Gegenwart stellt demgegenüber die Lage des deutschen Volkes im freien Teil Deutschlands dar! Was ist hier nicht alles geschaffen und erreicht worden!

Das deutsche Volk im freien Teil unseres Vaterlandes

hat noch nie so viele politische und persönliche Freiheiten besessen, wie sie heute verbürgt sind,

genießt ein Maß an Rechtssicherheit, demgegenüber die nationalsozialistische und kommunistische Willkürherrschaft wie Gruselgeschichten aus grauer Vorzeit anmuten,

bietet soziale Sicherheit in einem Umfang, der seinesgleichen in unserer Geschichte sucht,

besitzt schließlich einen Lebensstandard wie nie zuvor.

Aber - rechtfertigt all dies eine sich selbst genügende Zufriedenheit und Sattheit, rechtfertigt dies staatspolitische Lauheit? Können wir in der Welt, wie sie nun einmal ist, einem schrankenlosen Egoismus frönen? Können wir das Gemeinwesen sich selbst überlassen und uns der Verantwortung entziehen? Sind alle Gemeinschaftsprobleme gelöst? Ist die Freiheit für alle Zeit gesichert?

Gewiss – eine erkennbare innere Gefahr droht uns nicht. Anders ist es dagegen um unsere äußere Sicherheit bestellt. Ist sie nicht latent bedroht? Müssen wir nicht stets auf der Hut sein? Hat etwa der militante Kommunismus auf seine Expansions- und Eroberungspläne verzichtet? Vigilia pretium libertatis - Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit -, so lautet der Wahlspruch der NATO. Diese Parole gilt nicht nur für jene, denen unsere äußere Sicherheit anvertraut ist, sie gilt für alle Bürger und zu jeder Zeit.

Worauf es ankommt, ist zweierlei:

Zum Einen bedarf unser Gemeinwesen der immer innigeren Verknüpfung der Bürger mit ihm. Es muss deutlich werden, dass ihm die Zuneigung aller gehört, dass es sich lohnt, ihm zu dienen und sich mit ihm zu identifizieren.

Zum Anderen muss ein solchermaßen geschärftes und gestärktes Gemeinschaftsbewusstsein von der geistigen Kraft und jener Willensstärke erfüllt werden, die im deutschen Widerstand lebendig war.

Im Widerstand gegen Hitler haben sich die Vorstellungen herauskristallisiert, die unseren Vorstellungen von Staatlichkeit, von der Ordnung des Ganzen, von der Verteilung der Gewalten und Gewichte in unserem Gemeinwesen entsprechen. Die Ideen, aus denen der Widerstand erwachsen ist, sind die gleichen, nach denen wir unsere Zukunft formen.

Darum muss die Tat des Grafen Stauffenberg und aller seiner Gesinnungsfreunde tief im Bewusstsein aller freiheitsliebenden Deutschen verankert sein. Darum darf an der Symbolkraft dieser Tat nicht gedeutelt werden. Sie ist Ansporn für jeden Deutschen, dem es ernst um die Erhaltung der Freiheit in deutschen Landen ist.

Wir bekennen uns zum Widerstand, der aus Gewissenhaftigkeit, Wahrhaftigkeit und Folgerichtigkeit im Denken und Handeln entsprungen ist.

Wir bekennen uns zu allen Menschen, die Widerstand gegen die Tyrannei geleistet haben und auch heute noch leisten.

Wir bekennen uns zu den Opfern, die gebracht worden sind und noch gebracht werden und verneigen uns in Ehrfurcht und Dankbarkeit vor ihrer Größe.

Ich finde keine bessere Deutung für das Vermächtnis, das uns die Männer und Frauen des Widerstands hinterlassen und die Verpflichtung, die sie uns auferlegt haben, als den ersten Vers der dritten Strophe unserer nationalen Hymne:

„Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland.“






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