Die Lehren der Geschichte für unsere Zukunft

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Klaus von Dohnanyi

Die Lehren der Geschichte für unsere Zukunft

Festvortrag von Dr. Klaus von Dohnanyi am 15. Juli 2004 im Plenarsaal des Niedersächsischen Landtags, Hannover

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Zunächst möchte ich Ihnen, Herr Präsident Gansäuer, ganz herzlich für Ihre bewegenden Worte danken, die man so nicht oft hört. Nicht nur der Widerstand des 20. Juli, sondern auch der Widerstand der vielen Unbekannten - auch wenn sie nicht in der Lage waren, einen Sturz der Regierung bzw. die Ermordung Hitlers vorzubereiten - zeigt in der Tat, wie viele unbekannte Frauen und Männer des Widerstandes es auch im „anderen“ Deutschland gegeben hat.

Ich möchte, bevor ich beginne, eine weitere Ihrer Überlegungen aufnehmen, und zwar zu der Frage: Was hätten diese Leute des 20. Juli wohl danach gemacht? - Ich finde die Meinung mancher heutiger Zeitgenossen, Stauffenberg oder Moltke hätten auf dem Hintergrund ihrer Überlegungen keine Demokratie aufbauen können, lächerlich. Zum einen haben die wenigen Überlebenden gezeigt - ich nenne Eugen Gerstenmaier aus dem Kreisauer Kreis und Joseph Müller, der zusammen mit meinem Vater im Gefängnis war - wie demokratisch die Substanz war. Zum anderen: Der von uns allen geschätzte Graf Baudissin, zum Beispiel, der die Idee vom Bürger in Uniform entworfen hat, hatte sich dem Widerstand nicht angeschlossen. Er war aber wohl in demselben Regiment wie Stauffenberg. Baudissin kein Demokrat? Es gab so manchen, der den letzten Entschluss nicht gefasst hat, der sich aber danach dennoch als unzweifelhafter Demokrat erwiesen hat. Warum sollen dann gerade die, die den Mut zu diesem Entschluss hatten, weniger in der Lage gewesen sein, nach Hitler als Demokraten zu arbeiten, als diejenigen, die den Entschluss nicht gefasst haben? - Ich finde diese These, wie Sie mit Recht sagen, leichtfertig.

Wir gedenken in diesen Tagen bei zahlreichen Veranstaltungen des 20. Juli und damit auch der vielfachen früheren Versuche, die schon in Siegeszeiten des Nazireiches unternommen wurden. Mein Vater war 1937/1938 mit Beck und Oster zum ersten Mal in Staatsstreichüberlegungen involviert. Damals kamen dann leider die Alliierten in München zu einer Vereinbarung, die das Ganze zerstörte. Es hing also nicht nur davon ab, dass der Krieg verloren ging. Für viele hing es von moralischen Fragen ab. Wir denken heute an alle.

Erinnerungstage wollen Menschen ehren, und wir wollen der Erinnerung dieser Menschen, ihrer Haltung, ihrem Werk, ihren Hinterlassenschaften Festigkeit geben. So erinnern wie z. B. - Sie sagten das auch - den 17. Juni 1953 als einen Tag des Aufstandes deutscher Arbeiter gegen sowjetische Unterdrückung. Es war übrigens - das wird auch international oft vergessen - der erste Aufstand im Sowjetimperium gegen die Herrschaft des Sowjetsystems. Und er kam aus Deutschland. Das wird vielleicht sogar geflissentlich übersehen. Man will den Deutschen eine Zuständigkeit in Sachen Freiheit wohl nicht gerne zugestehen oder sogar stillschweigend absprechen.

Wir erinnern an wichtige Tage wie den 20. Juli auch deswegen, weil vorbildliche Deutsche für die Freiheit und die Menschenrechte gehandelt, aufrecht gestanden und gelitten haben. Vorbilder sind aber nicht Säulenheilige, wir sollten von ihnen lernen können. Dabei ist es wichtig, sich immer wieder klar zu machen, dass der militärische Widerstand, das Attentat des 20. Juli und die folgenden Schauprozesse nur einen kleinen Teil - wenn natürlich auch den politisch markantesten - des vielfachen und unzählbaren Widerstandes in Deutschland darstellen. Es ist gut - ich habe das nur in Ihrer Dokumentation nachlesen können, während Sie auch den Vorträgen zuhören konnten -, dass in der Ausstellung der Wandelhalle gerade auf solche, weniger bekannten Menschen verwiesen wird, die damals aufrecht gestanden haben. Gerade von ihnen - so scheint mir - können wir lernen.

Ich möchte mich deswegen an diesem Abend mit der Frage befassen, was wir aus unserer Geschichte lernen können und gelernt haben, aus der Geschichte, die uns die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als Erinnerung hinterlassen hat.

Vor einigen Jahren hat der Historiker Hans-Ulrich Wehler einen sehr interessanten Essayband mit dem Titel „Aus der Geschichte lernen?“ veröffentlicht. Er hat ein Fragezeichen hinter den Titel gesetzt. Es ist ein interessantes Werk, gerade für unsere Zeit. Anders als viele Skeptiker ist Wehler der Meinung, man könne aus der Geschichte lernen, allerdings vorausgesetzt, man hat sich um ein objektives Verständnis der Geschichte bemüht. Lassen Sie uns das in dieser Stunde vielleicht noch einmal gemeinsam versuchen.

Was ist diese, unsere Geschichte gewesen? Heute, bald 60 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft in Deutschland, werden täglich immer neue Einzelheiten über Nazigrößen und Naziverbrechen bekannt. Unsere Buchläden sind gefüllt mit Berichten über Leben und Psychologie der Nazigrößen und ihrer Verbrechen. Wir erfahren ganz präzise, wer in der damaligen deutschen Gesellschaft versagte, wer welche Verbrechen beging, wer welchen Lebenslauf und welche Karriere hatte usw. Wenn man lernen will, dann muss man zunächst einmal fragen: Können Verbrechen früherer Generationen wirklich ein politischer Kompass für eine bessere Welt sein? Hat bei der persönlichen Resozialisation ein solcher Weg der ständigen Konfrontation mit sündhafter Vergangenheit jemals funktioniert? - Kaum! Warum sollte das für die Deutschen als Volk anders sein? Wohin hat uns eine „Vergangenheitspolitik“ geführt, die kaum an die Aufrechten des Widerstandes erinnert, aber immer wieder an Verbrechen und Verbrecher? Könnten wir vom Widerstand vielleicht mehr lernen?

Wissen und Erinnern der historischen Verbrechen Deutschlands ist notwendig und stand in den 50er- und 60er-Jahren noch in den Anfängen. Dafür, dass die meisten Deutschen heute die Naziverbrechen kennen und sich erinnern, haben wir in Deutschland wirklich gesorgt. Wir wissen diese Geschichte. Aber was haben wir und andere Völker aus der deutschen Katastrophe und dem Widerstand gelernt? Was wissen wir nicht nur, sondern was lernen wir?

Zunächst fällt auf, wie oft nach 1945 die Geschichte der Nazizeit in sehr fragwürdiger Weise bemüht wurde. So wurde z. B. schon in den frühen 50er-Jahren die deutsche Beteiligung an einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft bekämpft und jeder Wiederbewaffnung Deutschlands, auch im Rahmen der NATO, wegen der deutschen Geschichte heftig widersprochen. Mit welcher Vehemenz schleuderte damals die große Mehrzahl deutscher Intellektueller der Regierung Adenauer ihr „Nie wieder“ entgegen. Interessanterweise kam dieser Protest schon damals weniger aus den Völkern im Westen, die im Krieg von 1939 bis 1945 von uns überfallen worden waren, als von den Deutschen selbst. Der Missbrauch deutschen Militärs durch die Nazis nämlich, oder - besser - die willige Bereitschaft des deutschen Militärs nach 1933, sich vor den Karren der Aufrüstungs- und Kriegspläne Hitlers spannen zu lassen, und das militärische Säbelrasseln einer längst vergangenen Wilhelminischen Kaiserzeit, galten als eine überzeugende Begründung für den Ausspruch „Nie wieder eine deutsche Armee, nie wieder deutsches Militär“, obwohl doch damals, zu Beginn der 50er-Jahre, der Beitrag aus Deutschland zu einem demokratischen Bündnis geleistet werden sollte, zu einem Bündnis gegen das aggressive, totalitäre System der Sowjetunion. Und, obwohl damals kein Land in unmittelbar größerer Gefahr war, als die demokratische Bundesrepublik Deutschland mit ihrer geteilten Hauptstadt Berlin.

Gut 50 Jahre nach dem Ende des Nazikrieges kehrte jenes „Nie wieder“ in der Debatte um die deutsche Beteiligung im Balkankonflikt noch einmal auf die politische Bühne zurück. Heute, wenige Jahre später, erscheint diese damalige prinzipielle Debatte nur noch wie eine Farce. Deutsche Soldaten kontrollieren in Mazedonien, stehen im internationalen Einsatz im Kosovo und in Afghanistan, Marineeinheiten operieren am Horn von Afrika, und die Welt bewundert die Leistung des deutschen Militärs, friedensstiftende Maßnahmen zu bewältigen.

Auch die Irak-Debatte ist auf deutscher Seite ja keine pazifistische Debatte gewesen, sondern eine der politischen Vernunft, eine über die langfristigen Folgen der verschiedenen Lösungsmöglichkeiten der Irak-Krise. Das alles sind heute demokratische Selbstverständlichkeiten. Das ist friedenspolitische Normalität in Deutschland geworden. Wo sind die Nie-wieder-Lehren aus der Vergangenheit, die einst so selbstgewiss zitiert wurden, heute geblieben?

Seit Anfang der 50er-Jahre haben wir Debatten dieser Art immer wieder geführt. So wurde z. B. der Einrichtung eines Verfassungsschutzes oder des Militärischen Abschirmdienstes von vielen Intellektuellen mit dem Hinweis auf die Gestapo leidenschaftlich widersprochen, obwohl es natürlich seit eh und je FBI, CIA und ähnliche Einrichtungen gab, nicht nur in den USA, sondern in allen demokratischen Gesellschaften. Wo stünden wir denn heute auch ohne diese Einrichtungen bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, des Extremismus oder des Terrorismus? Noch in den 80er-Jahren - ich sehe hier Herrn Kollegen Albrecht unter den Zuhörern - sollte sogar eine Volkszählung unterbunden werden - ich erinnere an die Debatte im Hamburger Senat - mit dem Hinweis, dass angeblich die Nazis ein halbes Jahrhundert früher ohne entsprechende öffentliche Register nicht in der Lage gewesen wären, die jüdischen Bewohner aufzuspüren! Das war natürlich lächerlich für den, der die Nazizeit selbst erlebt hatte. Aber auch hier gab es dieses selbstgewisse, moralische „Nie wieder“ bezogen auf eine den meisten weitgehend unbekannte Wirklichkeit vergangener Jahre. Gegen die Einführung eines verpflichtenden Sozialdienstes kommt noch heute ein Reflex, als sei das die Wiederkehr des Arbeitsdienstes. Oder, weil die deutschen Universitäten - völlig unbestritten - nach 1918 auch ein Hort nationalsozialistischer Studenten und Professoren geworden waren und so für die Nationalsozialisten ein Einfallstor in die Gesellschaft gebildet hatten, musste dann in den 70er-Jahren die Ordinarien-Universität zerstört und eine gruppendemokratische Leitungsstruktur eingeführt werden, die die deutschen Universitäten - auf jeden Fall bisher, ich hoffe, nicht für immer - zur Zweitrangigkeit verurteilt, und zwar im Namen angeblicher Lehren aus der Geschichte.

Damals wurden wir Bildungspolitiker an den Universitäten auch belehrt - viele erinnern ja die Plakate „Marx an die Uni“ usw. -, dass es nichts Schlimmeres geben könnte als eine Verbindung von Universitäten und Wirtschaft. Industrieforschung wurde ein vernichtendes Schimpfwort, denn angeblich hatte ja in erster Linie die Großindustrie Hitler finanziert. Heute suchen diese Besserwisser von gestern selbst aufgeregt nach Quellen der Drittmittelforschung in der deutschen Wirtschaft. Zugleich ließ damals die Art und Weise der Auseinandersetzung an den Universitäten in erschreckender Form erkennen, dass gerade der besonders aktive Teil der Studenten offenbar wenig aus Weimar gelernt hatte: Denn damals, in Weimar, wurden Andersdenkende von den Nazis mit Geschrei und Gewalt tyrannisiert. Geschrei und körperliche Gewalt haben auch wir in den 70er-Jahren an den Universitäten erlebt. Doch die Mehrheit, die sich so willig auf das Lernen aus der Geschichte bezog, kuschte vor den Radaubrüdern. Ganz wie in den 20er-Jahren. Ich habe nur selten erlebt, dass dem, was dort an Gewalt zum Teil verursacht worden war, von der Mehrheit mutig und aktiv widersprochen wurde. Man verurteilte zwar die Nazizeit, aber wo blieben der Mut und die Zivilcourage, die man bei den Eltern gleichzeitig so lautstark vermisste? - Die Mehrheit hatte offenbar nur gelesen und nicht gelernt.

Es ist auch nur wenige Jahre her, dass Bemühungen, türkischen oder anderssprachigen Zuwanderungskindern die Erlernung der deutschen Sprache zur Pflicht zu machen, als rassistisch verteufelt wurden. Man sprach von Zwangsgermanisierung. Heute, nach PISA, wenige Jahre später, sind Bemühungen zur sprachlichen Integration Pflichten aller Kultusminister.

Oder, wenn man in Deutschland im Zusammenhang mit Fragen der Gentechnologie und Stammzellenforschung auf den Holocaust und die Eugenikdebatte des 19. Jahrhunderts in Deutschland verweist - und mit Recht -, sollte man dann nicht wenigstens wissen, dass es vor 1933 Zwangssterilisationen zwar in den USA und in Skandinavien, aber nicht in Deutschland gab?

Offenbar müssen wir - so scheint es - sehr viel bescheidener werden mit dem ständigen Verweis auf die Naziperiode, wenn wir unsere Geschichte zitieren. Liegen die vielen falschen Geschichtsbezüge vielleicht daran, dass es keine objektive Debatte darüber gab und gibt, wie es überhaupt zum Entstehen, zur Machtergreifung des Nationalsozialismus und schließlich zur Terrorherrschaft und zum Völkermord kommen konnte?

Auch das ist nämlich erforderlich, um aus der Geschichte zu lernen, auch um die Haltung der Männer des 20. Juli zu verstehen. Meist wird diese Entwicklung - von Weimar zu Hitler - sehr schlicht mit angeblich besonderen gesellschaftlichen Strukturen und Mentalitäten der Deutschen erklärt: Ein deutscher Sonderweg habe zu den einzigartigen und unvergleichbaren Verbrechen des Holocaust geführt. Schon dabei blieben die allgemeinen Tendenzen zu autoritären Regierungssystemen im Europa der 20er- und 30er-Jahre der nachgeborenen Generation offenbar fast unbekannt. Die Lehren aus der deutschen Geschichte werden strikt auf Deutschland beschränkt. Wo ein angeblicher Sonderweg die Ursache war, da können wir also am Ende ja auch nur von uns selbst lernen. Mit dieser Einseitigkeit des öffentlichen Geschichtsverständnisses sollte man sich - so scheint mir - nicht zufrieden geben.

In einer bedeutsamen Studie von Professor William Brustein mit dem Titel „The Logic of Evil“ - „Die Logik des Bösen“, veröffentlicht in der Yale University Press im Jahre 1996, wird den Zusammenhängen vorurteilsloser auf den Grund gegangen. Aus den Originalen des US Document Centers, in dem die Materialien der NSDAP-Mitgliedschaften gesammelt und studierbar sind, hatte Brustein die Gründe für den Beitritt zur NSDAP statistisch herausgearbeitet. Brustein meint nun, mit diesem Material klarer erkennen zu können, warum Weimarer Verhältnisse Hitler und seine Demagogen so extrem begünstigten. Er kommt zu dem Schluss, dass nicht in erster Linie Antisemitismus oder nationalistische Propaganda, sondern politische und soziale Versprechungen Hitlers Gefolgschaft so mächtig werden ließen. Die Erwartung vieler deutscher Wähler, Hitler werde die drückenden Tagesprobleme - die Arbeitslosigkeit, die soziale Not, die politische Instabilität, die Gewalt in den Straßen - anpacken und lösen, war das Hauptmotiv der Hitler-Wähler. Brustein folgert, Hitlers plebiszitäre Macht gründete nicht in erster Linie auf Antisemitismus oder einem militanten Chauvinismus, wie wir es heute überwiegend hören, sondern in einer Phase großer sozialer Not auf einem für die Wähler nachvollziehbaren, sozialen Versprechen - übrigens einer Not, wie sie die Jüngeren und die, die sich in Deutschland weniger mit Geschichte befassen, heute überhaupt nicht mehr verstehen können, weil heute die Zahl der Arbeitslosen nicht wiedergibt, was damals Arbeitslosigkeit in Deutschland, aber auch in anderen Ländern der Welt, bedeutete.

Für Brusteins Thesen spricht aus meiner Sicht viel, u. a. auch, dass sich damals so viele und unterschiedliche Menschen zunächst von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließen. Martin Niemöller z. B., dann ein unbeirrbarer Held des deutschen Widerstandes, hat später bekannt, dass er selbst noch im März 1933, also zwei Monate nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, NSDAP gewählt habe. Carl Zuckmayer - ein unbestreitbarer Nazifeind und Emigrant - schreibt noch im April 1933 an einen Freund etwa so: „Ich gehöre nicht zu den Leuten, die über die jüngsten Ereignisse in Deutschland unglücklich sind. Ich kann mich der Größe dieser elementaren Bewegung einfach nicht entziehen.“ - Als Zuckmayer das schrieb, waren aber kommunistische und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete längst verhaftet, und das Parlament war längst zerschlagen. Wir wissen auch, dass herausragende Figuren des Widerstandes - Sie, Herr Präsident, haben darauf hingewiesen -, z. B. Claus von Stauffenberg, aber auch Hans und Sophie Scholl, zu Beginn ebenfalls von Hitler fasziniert waren. Dietrich Bonhoeffer schrieb deswegen im Krieg, Hitler habe sich mit dem Mantel relativer historischer und sozialer Gerechtigkeit kleiden können.

Man versteht die frühen 30er-Jahre eben nur sehr unvollkommen, wenn man sie heute mit dem rückblickenden Wissen auf die verbrecherische Entwicklung nach 1933 betrachtet. Den damals zunächst schwankenden Männern und Frauen heute vom sicheren Port der Rückschau kritische Vorwürfe zu machen, ist aus meiner Sicht schlicht großmäulig.

Wir sollten vielmehr überdenken, ob wirklich alle gutwilligen, rechtlich denkenden Menschen schon früh hätten wissen können und müssen, was da kommt. Brustein gelang nämlich in seiner Materialstudie zu einem erschreckenden Ergebnis - erschreckend für uns, weil sie uns zum Nachdenken zwingt. Er formuliert am Ende seines aufregenden Buches seine besorgten Schlussfolgerungen so: Was wäre, wenn wir die entscheidenden Gründe für den Aufstieg der Nazis verfehlt hätten? Wären wir in der Lage, einen neuen Hitler, eine neue Nazipartei auszumachen? - Er fährt zur Erläuterung fort: Wenn die wirtschaftlichen Bedingungen, das Wahl- und Parteiensystem und die politischen Alternativen Deutschlands unter den Weimarer Bedingungen so in den USA, in Frankreich, Schweden oder Großbritannien bestanden hätten, dann hätten Millionen von Menschen in diesen Ländern möglicherweise genau das getan, was Millionen Deutsche taten - die NSDAP zu wählen und ihr beizutreten.

Um unsere Vergangenheit wirklich aufzuarbeiten und aus dieser Geschichte für unsere Zeit das Richtige zu lernen, sollten wir also noch einmal etwas genauer auf die Ursachen der nationalsozialistischen Machteroberung und die Ausgangslage Deutschlands vor den Nazijahren schauen. Denn als die Nazis einmal die Macht hatten, da war es, mit Ausnahmen der vielleicht einzigen Chance eines Generalstreiks der Gewerkschaften, der leider im Frühjahr 1933 nicht stattfand, schon sehr spät, vielleicht sogar zu spät, um die Nazis wieder zu vertreiben.

Mir geht es natürlich nicht um eine Relativierung der deutschen Verbrechen. Wir Deutsche werden sie nie vergessen. Es geht auch nicht um eine solange geübte Beschönigung jener massiven Unterstützung, die Deutsche in allen Verantwortungsbereichen dann später für ein dann erkennbar verbrecherisches Regime geleistet haben; oder gar um eine Bemäntelung der Verantwortung von Zuschauern und Wegschauern. Es geht mir allein um eine tiefere Annäherung an die historische Wahrheit über die Ursachen der Nazibewegung. Denn nur aus der Wahrheit können wir das Richtige lernen.

Ein verlorener Krieg, eine Revolution - und eine Revolution ist es allemal, wenn ein Übergang aus der Monarchie in die Republik stattfindet -; ein fälschlich von einseitiger Kriegsschuld diffamiertes, sich gedemütigt fühlendes deutsches Volk; und eine Reihe für uns heute unvorstellbarer sozialer Katastrophen - ich erinnere nur an die Zerstörung des mittelständischen Vermögens durch die Hyperinflation Anfang der 20er-Jahre und an die Massenarbeitslosigkeit nach dem großen Crash 1929 - waren die äußeren Umstände von Weimar in den frühen 30er-Jahren. Diese Konstellation spielte auch die entscheidende Rolle für den Aufstieg der Nazis. Insofern, so meine ich, haben wir nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch die Geschichte richtig verstanden und etwas gelernt: Die große Inflation wurde 1948 durch eine Währungsreform gestoppt. Unbestreitbar haben auch die Industriestaaten insgesamt und die internationale Gemeinschaft versucht, aus der Weltwirtschaftskrise der frühen 30er-Jahre Konsequenzen zu ziehen: Die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde wesentlich gestärkt, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die Welthandelsorganisation und nicht zuletzt die regionalen Integrationen Europäische Union, NAFTA, ASEAN usw. sind eindeutige Beweise dafür, dass wir gelernt haben Krisen, wie sie sich zu Beginn der 30er-Jahre ausprägten, frühzeitiger entgegenzuwirken. Dennoch gibt es auch heute unter den sich wieder schnell verändernden Bedingungen einer zunehmenden Globalisierung der Finanz- und Arbeitsmärkte tief greifende regionale Wirtschaftskrisen wie z. B. vor einigen Jahren in Asien. Oder, meine Damen und Herren, wer hätte sich vor einigen Jahren einen nationalen wirtschaftlichen Zusammenbruch, wie er vor kurzem in Argentinien erlebt wurde, auch nur vorstellen können? Wer hätte sich auch nur vorstellen können, dass dort 20 % der Bevölkerung plötzlich aus der Suppenküche ernährt werden mussten? Wer hätte das in Argentinien auch nur Tage zuvor geahnt?

Weltwirtschaftliche Krisen würden sich heute eben nicht notwendigerweise in früherer Gestalt wiederholen. Ihre Ursachen und Dominoeffekte könnten überraschend wieder entstehen.

Wenn kaum etwas so entscheidend für den Zusammenbruch von Weimar und für die totalitäre Wende der Demokratie in Deutschland war wie die damalige Weltwirtschaftskrise, dann trägt angesichts unserer Erfahrungen die deutsche Politik auch hier eine besondere Erinnerungsverantwortung. Ich meine, wir alle spüren doch, dass der globale Wirtschaftsboden gegenwärtig erheblich schwankt. Die Arbeitslosigkeit und die überall - übrigens in Deutschland nicht am meisten - schnell wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, sind beängstigende Zeichen einer Gesamtentwicklung in der Welt. Sind wir wirklich gewappnet?

Wachsamkeit und Sachverstand, nicht emotionaler Antikapitalismus sind gefragt. Aus meiner Sicht sollte unsere sachkundige deutsche Stimme gerade wegen unserer Erfahrungen noch hörbarer werden. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929 sollten Teil deutscher Erinnerungskultur sein. Unsere Mahnung an die USA, sich nicht erneut - wie nach 1918 - den multilateralen Entwicklungen und Ansätzen zu entziehen, reicht nicht nur bis zur Irak-Frage, sondern auch nach Kyoto und in ähnliche Sphären.

Damals, Anfang der 30er-Jahre, muss es allerdings auch deutsche Besonderheiten gegeben haben. Denn die Weltwirtschaftskrise erschütterte zwar fast alle demokratischen Nationen, und es gab auch in anderen europäischen Nationen Tendenzen zu so genannten starken Männern und autoritären Regierungen. Aber am Ende überlebten die Demokraten. Das gilt auch für die USA. Auch dort brachen die sozialen Strukturen nach 1929 faktisch zusammen. Aber es entstand keine Diktatur, obwohl sich auch dort erhebliche faschistoide Tendenzen verbreiten konnten. Doch Roosevelt wurde gewählt, begab sich auf den Weg von Keynes und verbreiterte sogar das Fundament der amerikanischen Demokratie, anstatt es, wie Hitler in Deutschland, zu zerstören. Brustein bezieht sich eben auf die wirtschaftlichen und die politischen Bedingungen der Weimarer Republik. Wir müssen nun fragen: Was war denn besonders an der politischen Ausgangslage in Deutschland?

Niederlage und Kriegsfolgen unterschieden uns, übrigens ebenso wie Ungarn und Österreich, grundsätzlich von den anderen westlichen Nationen. Daraus resultierten notwendigerweise innenpolitische Spannungen. Nach dem Umbruch von 1918 und dem Versailler Frieden war das wohl auch voraussehbar. Auf jeden Fall hat John Maynard Keynes 1919 in seinem Buch über „The Economic Consequences of the Peace“ geschrieben: Eines Tages werden in diesen Ländern - er meinte besonders Deutschland - die Verführer ihre Stimme erheben, und diejenigen, die die Leidenden sind, werden nichts mehr hören außer der Stimme der Verführung.

Die Weimarer Verfassung war zwar sehr perfektionistisch demokratisch, erwies sich jedoch für die innenpolitischen Stürme der wirtschaftlichen und politischen Nachkriegskrisen als sehr wenig tauglich, viel weniger z. B. als die Verfassung der USA oder Großbritanniens. Der große Generalstreik von 1924 in Großbritannien, zum Beispiel, blieb für die Demokratie faktisch folgenlos, während die Weimarer Regierungen wiederholt schon nach wenigen Monaten durch einfache Misstrauensvoten fallen konnten. Und dann wurde der Einsatz parlamentarischer Mehrheiten durch das so genannte Notverordnungsrecht des Artikels 48 der Weimarer Verfassung ersetzt und schwächte den demokratischen Prozess im Parlament sowie das Parlament zugunsten der Exekutive.

Die Weimarer Verfassung war für die Aufgabenstellung nach 1918 eine aus meiner Sicht fatale Fehlkonstruktion. Man erkannte das bald und diskutierte die Schwächen u. a. auch am Institut eines „konstruktiven“ Misstrauensvotums wie es heute im Grundgesetz steht. Die Überlegungen lagen in den Regalen der Republik, als Hitler kam. Aber es hatte den Parteien an Einsicht, vielleicht auch an Mut, Solidarität und Verantwortungsgefühl gefehlt, um diese rettende Entscheidung zu treffen. Zu politischem Mut und parteiübergreifender Verantwortung in schwierigen Zeiten mahnt uns deswegen heute ebenfalls unsere Erinnerung an die deutsche Katastrophe des 20. Jahrhunderts.

Parteiübergreifende Verantwortung in kritischen Zeiten sollte eine weitere, wichtige Lehre aus der deutschen Geschichte der 20er-Jahre sein. Beherzigen wir das gegenwärtig? - Ich denke, eher nicht. Taktik überlagert oft einen selbstverständlichen Patriotismus.

Gewiss, man kann nicht bestreiten, dass auch damals bestimmte Strukturen der deutschen Gesellschaft und eine parlamentarisch ungeübte Mentalität mitverantwortlich waren. Aber ich sehe nicht, dass der fatale Ausgang in erster Linie diesen Faktoren zugerechnet werden könnte. Noch im Angesicht der Katastrophe unmittelbar nach 1945 sahen das nämlich auch viele Zeitzeugen ganz anders als mancher Historiker der nachgeborenen Generation.

Ich möchte hierfür einen amerikanischen Beobachter etwas ausführlicher zitieren, und zwar Allen Dulles, den Bruder des Außenministers im Kabinett Eisenhower, John Foster Dulles. Allen Dulles war während des Krieges Chef des US-Nachrichtendienstes in der Schweiz und schrieb in seinem Buch „Germany’s Underground“ über den deutschen Widerstand, 1947 veröffentlicht, Folgendes (meine Übersetzung): „Als ich nach dem Ende des Krieges begann, die Informationen über den deutschen Widerstand zusammenzutragen, die ich seit 1943 gesammelt hatte“ - es gab ja Kontakte u. a. aus der Gruppe Oster, Canaris, meines Vaters, Dietrich Bonhoeffers in die Schweiz -, „da hatte ich nur ein begrenztes Ziel - ich wollte die Geschichte einer Gruppe von Frauen und Männern erzählen, die den Mut hatten, gegen Hitler zu konspirieren, und wie sie es gemacht hatten. Aber als ich mit meiner Arbeit vorankam, da wurde klar, dass die Geschichte dieses Widerstandes eine der fundamentalen Fragen unserer Gesellschaft beleuchtete. Sie legte nämlich offen, wie die verschiedenen Ebenen der deutschen Gesellschaft reagierten, als der Diktator sich anschickte, die Demokratie zu zerstören. In Deutschland, mindestens, gab es keine tiefgestaffelte Verteidigung gegen diese Attacke. Als die Linie einmal an einer vitalen Stelle durchbrochen war, da war die Schlacht schon verloren. Diese Tatsache sollte uns alle bewegen zu überdenken, wie angemessen unsere eigenen Institutionen für den Erhalt der Demokratie sind und in welchem Umfange ihr Überleben davon abhängen muss, mit welchem Engagement Männer und Frauen bereit und willens sind, diese Institutionen rechtzeitig zu verteidigen.“

Dulles fährt fort: „Die fatale Schwäche des politischen Systems der Weimarer Republik lag in der einfachen Weise, in der die absolute Macht vom Volke genommen und in die Hand eines einzelnen Mannes gelegt werden konnte. Wo verfassungsrechtliche Sicherheitsschranken so schwach sind, dass schon ein einziger Ansturm sie überwinden kann, da kann dem Volk schon dadurch die Möglichkeit genommen werden, einen wirksamen Kampf zur Verteidigung der Demokratie aufzunehmen.“

Ich bin, meine Damen und Herren, heute ziemlich sicher: Ein besonderes Verfassungsgericht des Reiches damals; die dazugehörenden Grundrechte; eine Fünfprozentklausel; ein konstruktives Misstrauensvotum; eine unabhängige Bundesbank bzw. Reichsbank; oder auch nur einige dieser institutionellen Vorkehrungen, wie wir sie als Ergebnis des Parlamentarischen Rats heute haben, kurz, eine bessere Verfassung hätte Weimar so stabil machen können, dass auch extremistische Demokratiefeinde, ja, dass selbst Hitlers Verbrecher wahrscheinlich kaum eine Chance haben würden.

Eine wichtige Lehre, also vielleicht die wichtigste überhaupt, die wir aus der deutschen Katastrophe zu ziehen hatten, lautete deswegen: Eine Verfassung muss so gestaltet sein, dass ihre Institutionen auch in Krisenzeiten ein Höchstmaß an flexibler Stabilität aufweisen. Wie ein Gebäude, das in gefährdeten Regionen immer auch für ein mögliches Erdbeben sicher gebaut sein muss. Erwartet man große Krisen - und das war nach dem Sturz der Monarchie, den Friedensbedingungen von Versailles und den wirtschaftlich zu erwartenden Folgen ganz klar! - dann muss die Stabilität der Verfassung absoluten Vorrang haben.

1945 hatten wir diese institutionellen Voraussetzungen einer stabilen Verfassung verstanden. Denn im Parlamentarischen Rat von 1947 saßen ja die „gebrannten Kinder“ von Weimar. Auch die westlichen Siegermächte machten erfolgreiche Vorgaben für bessere, stabilere Strukturen.

Allerdings sorgten sie zugleich auch aus machtpolitischen Gründen für eine extreme Föderalisierung des Grundgesetzes, die uns heute zum Teil erheblich beschwert. Heute zeigt der so genannte Reformstau in Deutschland deswegen auch wieder strukturelle Ursachen in der Verfassung. Es sind Fehlentwicklungen eines so genannten kooperativen Föderalismus, den man auch - auf jeden Fall tue ich das - als eine perfekte Organisation politischer Unverantwortung bezeichnen kann.

Denn: Wer hat eigentlich heute das letzte Wort, wer trägt letztlich die Verantwortung bei den meisten Entscheidungen auf Bundesebene? Bundestag, Bundesrat, Vermittlungsausschuss, Bundesregierung, Landesregierung? Und welche Aufmerksamkeit widmen wir heute als „Erinnerungskultur“ dieser Tatsache? Der Tatsache nämlich, dass wir Deutsche eigentlich gar nicht wissen, von wem wir wirklich regiert werden, weil die wahre Regierung „Vermittlungsausschuss“ heißt. Und da wissen wahrscheinlich nur wenige, wer jeweils der Vorsitzende ist.

Deutschland bedarf jetzt eines großen, verantwortungsvollen, demokratischen Verfassungsdiskurses über die Funktionsfähigkeit unserer föderativen Verfassung und über die Effizienz der politischen Entscheidungsprozesse, also z. B. über Gemeinschaftsaufgaben, Mischfinanzierungen und so fort. Auch die europäische Dimension in einer veränderten Welt müssen wir aus dieser Perspektive diskutieren; denn diese Welt birgt ihre eigenen, neuen und noch unbekannten Gefahren, und in diesen Gefahren müssen wir stabil sein können.

Die negativen deutschen Verfassungserfahrungen von Weimar hatten auch den Blick der Männer des 20. Juli geprägt. Stauffenberg selbst hat wiederholt gesagt: Dahin wolle man, wolle er, nicht zurück. - Ich denke, hier hatte er Recht: Deutschland musste sich eine Verfassung bauen, die stabiler war. Nicht ohne Grund haben auch die Amerikaner nach 1945 für längere Zeit eine Militärregierung für notwendig gehalten, weil das in einer so bewegenden Umsturzzeit, wie nach 1945 in Deutschland, eine wichtige Voraussetzung für die zukünftige politische Stabilität sein konnte.

Unsere deutsche Hilfe beim so genannten national-building, also beim Aufbau stabiler demokratischer Strukturen in Entwicklungsländern und Transformationsländern, z. B. auch in Osteuropa, ist deswegen auch eine Erinnerungsverpflichtung, die uns aus unserer Erfahrung erwachsen ist. Demokratie setzt den Rechtsstaat und dieser eine gewisse zivile Ordnungsbereitschaft voraus. Das ist eine wichtige Erkenntnis: Der Rechtsstaat kommt zuerst. Ohne durchsetzbares Recht wird es nirgendwo eine funktionsfähige Demokratie geben.

Im Angesicht tief greifender Umwälzungen im Gefolge von Europäisierung und Globalisierung müssten wir und unsere europäischen Nachbarn deswegen dringend für stabile und funktionstüchtige institutionelle Strukturen der Europäischen Union sorgen. Denn die Fragen der europäischen Staaten und der europäischen Verfassung und ihrer Institutionen sind nicht in erster Linie parteiaktische Machtfragen oder vorrangig Fragen nationaler Interessen oder auch Fragen, die in erster Linie wissenschaftlicher Sauberkeit entsprechen müssten: Es geht darum, auch unter schwierigen Bedingungen, eine Verfassung in der Praxis funktionsfähig zu machen.

Es sind also lebenswichtige Fragen, die unsere verbundenen europäischen Demokratien für die vor uns liegenden stürmischen Jahre als Verfassungsfragen zu überlegen haben. Wird diese heute erkannt? Haben wir wirklich aus der Erinnerung gelernt? Wird die europäische Verfassung Europa handlungsfähig machen, wird den Mitgliedsstaaten die notwendige Handlungsfähigkeit in ihrem Raum belassen? - Vergessen wir nie: Von der demokratischen Effektivität des verfassten Europas wird die Zukunft Europas abhängen. Auch das lehrt uns die Erinnerung an die Jahre vor 1933.

Weimar litt aber noch an einem weiteren Übel. Nicht nur die wirtschaftlichen Desaster der großen Inflation und der Weltwirtschaftskrise hatten die Gesellschaft erschüttert, nicht nur war die Weimarer Verfassung eine Fehlkonstruktion: Die Deutschen fühlten sich seit 1918/19 als Volk durch die Friedensverträge von Versailles gedemütigt, ungerecht behandelt und nahmen dies dem neuen Staat übel, obwohl dieser für die Lage nach 1918 doch überhaupt nichts konnte.

Die dominante Geschichtsschreibung der Siegermächte nach 1918, die schließlich nach 1945 weitgehend auch den Tenor der deutschen Forschung zur Geschichte des Ersten Weltkrieges bestimmte, hatte Deutschland und Österreich die überwiegende Schuld am Ausbruch des Krieges 1914 gegeben, weil Deutschland der Donaumonarchie bei deren Ultimatum an Serbien den Rücken stärkte. Ist ein solches Urteil gerecht? Was war geschehen? - Ein Serbe, unbestritten ein Terrorist, unterstützt vom Königreich Serbien, dessen großserbische Ambitionen damals ein ständiger Faktor der Destabilisierung auf dem Balkan waren, hatte den österreichischen Thronerben und seine Frau ermordet. Wenn ich dieses Bild vor dem Hintergrund der Irak-Krise heute betrachte, dann unterscheidet sich eigentlich die damalige deutsch-österreichische Position von derjenigen der USA moralisch wenig. Wie hätten die USA denn selbst reagiert, wären sie in Österreichs Lage gewesen? Der Unterschied liegt wohl nur darin, dass die Mittelmächte eben nicht die europäische Supermacht waren, die sich eine derartige Wahrnehmung ihrer Interessen herausnehmen konnten, so wie heute die USA. Das ist der wirkliche Unterschied.

Deutschland war eben nach heutiger historischer Kenntnis nicht der alleinige Schuldige am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die große und, wie ich glaube, nun wirklich verbindliche Studie des Oxford-Historikers Hew Strachan macht das ganz klar. Und auch der Geist von 1914, über den bei uns so oft kritisch gesprochen wird, die Kriegsbegeisterung, war es nicht. Winston Churchill schrieb am 28. Juli 1914 an seine Frau. Ich sage das zuerst auf Englisch, dann übersetze ich es; denn das Englische kling so schön: „My darling One & beautiful, everything tends towards catastrophe & collapse. I am interested, geared-up & happy.” - Übersetzt: “Mein einziger Liebling, meine Schöne, alles geht nun auf eine Katastrophe und auf einen großen Zusammenbruch zu. Ich bin interessiert, auf Hochtouren und glücklich.” - Das war damals die Stimmung in allen europäischen Ländern und keine deutsche Besonderheit. Professor Wohl hat ein sehr interessantes Buch über die Generation von 1914 geschrieben, zu dem Felix Gilbert ein wundervolles Vorwort geschrieben hat. Darin wird auf diese Zusammenhänge noch einmal hingewiesen.

Der Verweis auf Versailles als eine der Ursachen für den Aufstieg der Nazis beschuldigt also nicht die Alliierten und nimmt nichts vom deutschen Versagen am Ende der Weimarer Republik und schon überhaupt nichts von den Verbrechen der Nazidiktatur. Aber die verheerenden Folgen von Versailles gehören zur Wahrheit über die Ursachen der Naziherrschaft.

Es ist interessant, zu beobachten, wie deutlich heute die USA zwischen Saddam Hussein und dem irakischen Volk unterscheiden - ganz anders als nach 1918 zwischen dem Kaiser oder Ludendorff und den Deutschen und ganz anders als 1945 zwischen Hitler und den Deutschen. Heute heißt es: Wir beschuldigen überhaupt nicht das irakische Volk, wir sind nur gegen den Diktator. - Man hat gelernt.

Ein Weiteres wäre aus der Vorgeschichte der Nazizeit zu lernen. Wir alle kennen die wilhelminische Großmannssucht und ihren Anteil an der Lage vor 1914. Aber diese war auch - wie Paul Kennedy in seinem großen Buch „The Rise of the Anglo-German Antagonism“ geschrieben und herausgearbeitet hat - eine Reaktion auf die begrenzenden Chancen, die die großen europäischen Mächte dem aufstrebenden Deutschland vor 1914 zugestehen wollten. Weltpolitisch können wir auch hiervon für unsere Tage etwas lernen: Vermeiden wir nicht nur die Demütigung anderer Völker, beachten wir auch die Interessen anderer Nationen. Ich sage das besonders mit Blick auf Russland seit seinem tiefen Fall aus der Weltmachtstellung, auch wenn inzwischen mit Russland gelegentlich eine erstaunlich partnerschaftliche Haltung des Westens, auch der USA, entstanden ist.

Aber auch die Palästinenser und die islamischen Nationen befinden sich in der Gefahr, tiefe Kränkungen in einen dauerhaften Zorn gegen den Westen zu wandeln und dieser Zorn dann wieder in Gewalt. Der Irak-Krieg - so fürchte ich - könnte aus diesem Grunde, eben wegen der Demütigung der islamischen Nationen, diese Situation noch verschärfen.

Erlauben Sie mir einen Blick nach vorne, zum Beispiel China. Die sich noch entwickelnden Nationen müssen auf ihrem Weg in einen unausweichlichen, weltpolitischen Machtausgleich den notwendigen Spielraum durch ein flexibleres Gefüge der Weltpolitik finden. Hier werden insbesondere die USA gefordert sein und darauf achten müssen, dass sie den großen Nationen in der Weltpolitik genug Spielraum und Platz lassen, den diese Nationen brauchen. Da werden die USA aus der europäischen Geschichte vor 1914 zu lernen haben. Wer nämlich den Deckel zu lange auf dem Kessel hält, der erzeugt am Ende explosive Dampfkraft.

Ich kann nun an dieser Stelle eine Zwischenbilanz ziehen und komme insofern zu einem positiven Ergebnis unserer „Vergangenheitspolitik“, als wir und die westliche Welt nach 1945 nicht ohne Erfolg darum bemüht waren und sind, aus den meisten makropolitischen Ursachen der deutschen und europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu lernen, auch wenn die Nazivergangenheit allzu oft in falschem Zusammenhang mahnend zitiert wurde. Aber festere Verfassungsstrukturen, gesicherte Grundrechte, Instrumente nationaler und internationaler wirtschaftlicher Stabilisierung, weltweite Integrationsbestrebungen für den Ausgleich gegensätzlicher nationaler Interessen in den Vereinten Nationen - das haben wir gelernt. Sogar die für Deutschland so schmerzliche, endgültige Klärung der Grenzen in Mittel- und Osteuropa - auch diese Aspekte gehören letztlich als positive Faktoren zu dieser Entwicklung.

Ich glaube sogar, dass die Vereinten Nationen nicht geschwächt, sondern letzten Endes gestärkt aus der Irak-Krise herauskommen werden. Noch einmal wird sich eine Supermacht den Weg so einfach nicht machen können. Doch angesichts sich schnell wandelnder Weltverhältnisse müssen wir wachsam und beweglich bleiben. Die Zeiten, meine Damen und Herren, werden gefährlicher. Wir haben zwar gelernt, aber man lernt nie aus.

Ich komme nun zum letzten Teil meiner Überlegungen. Auch die besten demokratischen Institutionen bleiben ohne entschlossene Demokraten gefährdet. Allan Dulles schrieb 1947 wohl überlegt: Es müsse nicht nur institutionell tief gestaffelte Verteidigungslinien der demokratischen Institutionen geben, man brauche dann auch Frauen und Männer, die an diesen Stellen die Demokratie offen und mutig verteidigen. An solchen Männern und Frauen hat es damals, im Weimar der letzten Jahre, ganz ohne Zweifel gefehlt.

Diese Sicherung der Demokratie erfordert eine rechtzeitige Unterstützung und Verteidigung der demokratischen Institutionen und ihrer Regelsysteme im Rahmen des alltäglichen politischen Prozesses. Zu diesem Prozess gehört entscheidend eine offene, streitige, demokratische Debatte. Wenn diese Debatte allzu sehr eingeengt wird, dann kann sich eine unbefangene Meinungsfreiheit und damit ein sicheres Gefühl für den zentralen Wert von Freiheit kaum entwickeln. Dann erhält die Demokratie zu wenig frischen Atem.

Wir berufen uns oft auf gemeinsame Werte wie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ oder auch „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen an dieser Stelle nachdenken. Angesichts der sehr unterschiedlichen Interpretationen dieser Grundsätze erweist unsere so genannte westliche Wertegemeinschaft ihre wahre Bedeutung erst im Schutz der Unterschiede von Wertauffassungen und nicht in deren Übereinstimmung. Unsere so genannte Wertegemeinschaft ist im Kern eine Gemeinschaft zur Aufrechterhaltung des demokratischen Prozesses unter dem Dach der Menschenrechte. Die Demokratie ist ein Zweckbündnis zur Einhaltung von politischen Umgangsformen, ein Regelsystem für den politischen Entscheidungsprozess, ein Regelsystem aber, das sogar angesichts extremer Gegensätze in den Wertauffassungen einzuhalten ist, solange die Grundwerte der Menschenrechte gewahrt bleiben.

Demokratie ist also im Kern eine rechtlich geregelte und geschützte Praxis der Toleranz. Ausnahmen gelten nur dort, wo der anders Denkende die Regeln der Demokratie selbst nicht respektiert und die garantierten Rechte auf Freiheit der Meinung, Würde des Menschen und den politischen Prozess, wie er demokratisch geordnet ist, infrage stellt oder gar beseitigen will. Sonst, meine Damen und Herren, hat immer die Freiheit Vortritt, auch - oder sogar gerade - dort, wo Freiheit zum Widerspruch gegen den bestehenden gesellschaftlichen Konsens in Anspruch genommen wird. Denn jeder Fortschritt der demokratischen Gesellschaft muss im Widerspruch zum Status quo erstritten werden. Zu diesem Widerspruch bedarf es oft des Mutes oder, wie wir auch sagen, der Zivilcourage. Diese Bereitschaft zur freien widersprechenden Meinungsäußerung muss erlernt, aber ihre positiven Folgen müssen in der Gesellschaft auch erfahren werden.

Ich meine, dass heute dieser zivile Mut von den Reformern gefragt ist. Es ist, meine Damen und Herren, ja leicht, auf der Straße gegen die Reformen zu demonstrieren. Aber ich bin froh, dass die Reformer die notwendige Courage zeigen und der Straße widerstehen.

Die Bereitschaft, sich couragiert einem großen Strom des Konsenses entgegenzuwerfen, hängt allerdings auch davon ab, wie die demokratische Gesellschaft auf Widerspruch reagiert. Tut sie es mit Ausgrenzung, z. B. durch die Medien, oder droht die Gesellschaft Nonkonformisten sogar, sie existentiell zu vernichten, dann wird die Zivilcourage in der Gesellschaft erlahmen und der freie Dialog wohl verstummen. Denn Toleranz ist die Zwillingsschwester von Zivilcourage.

Wo auf abweichende Meinungen oder abweichendes Verhalten mit extremer Intoleranz, mit Ausgrenzung oder gar mit Gewalt geantwortet wird, dort wird auf die Dauer auch die Freiheit versiegen. Toleranz zu erlernen war eine der wichtigsten Aufgaben der Deutschen nach 1945. Hier haben wir aber aus meiner Sicht leider noch zu wenig erreicht.

Unsere Republik schützt natürlich die Meinungsfreiheit. Man kann sagen, was man will, ohne rechtliche Strafe fürchten zu müssen. Dennoch leidet die Republik aus dem Blickwinkel vieler Bürger unter einem intoleranten Klima von political correctness. Das führt zu vorsichtiger Anpassung und - ich sage sogar - zu Gedankenfeigheit. Ist diese heutige Situation vielleicht am Ende auch ein Ergebnis unserer „Vergangenheitspolitik“? Haben Erinnerung und Vergangenheitsbewältigung den offenen, streitigen Dialog inzwischen so eingeengt, dass am Ende die Entwicklung von Zivilcourage in unserem Lande eher behindert wurde? Erstickt die Art und Weise, wie wir in Deutschland oft über die Nazivergangenheit reden, eventuell die freimütige politische Diskussion zugunsten anderer Positionen in einer lautstarken Konformität?

Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die aus meiner Sicht sehr intolerante Behandlung des Historikers Ernst Nolde, dessen Position ich nicht immer teile und doch bin ich froh, dass jemand seine Positionen vertritt, weil man über sie diskutieren muss, auch in Deutschland. Nolte auszugrenzen, wissenschaftliche Konferenzen, wenn er teilnehmen soll, abzusagen, weil er dort seine Position vertritt, finde ich ein unmögliches Verhalten. In den USA und in Großbritannien wäre das undenkbar. Lassen Sie uns also in Deutschland, und zwar gerade wegen unserer Geschichte, der Meinungsfreiheit auch in diesen politischen Fragen eine Gasse bahnen, und uns nicht allzu oft auf den engen Pfad der political correctness abdrängen.

Ich nenne hier auch die Walser-Bubis-Debatte. Meine Damen und Herren, vielleicht hatten Sie das selbst beobachtet: Da standen in der Paulskirche die Zuhörer fast geschlossen zum Applaus für Walser auf. Ignatz Bubis blieb mit seiner Frau sitzen, ich konnte das nachvollziehen. Aber als dann wenige Stunden später der Bannstrahl des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden Martin Walser mit den Worten „geistiger Brandstifter“ traf, war niemand mehr von denjenigen an Walsers Seite zu sehen, die zuvor applaudiert hatten und aufgestanden waren.

Walsers angeblicher Versuch, einen „Schlussstrich“ unter die Nazivergangenheit zu ziehen und dem Vergessen das Wort zu reden, wurde öffentlich nur noch gebrandmarkt. Ich selbst konnte und kann solche Tendenzen aber bei Walser gar nicht erkennen! Und Bundespräsident Herzog hat in seiner Rede zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar im Jahr danach klargestellt, dass auch aus seiner Sicht diese Beschuldigung von Walser ohne jeden juristischen Grund sei. Doch noch immer wird Walser von intoleranten, kreischenden Gruppen, auch von Studenten an Universitäten, gehindert, zu sprechen. Das ist ein beschämender und - ich wiederhole - in England und in den USA unvorstellbarer Vorgang einer Einengung von Meinungsfreiheit und eines Mangels an Zivilcourage.

Ein anderes Beispiel: Bundestagspräsident Jenninger wurde wegen der missverständlichen Intonierung einer sonst inhaltlich akzeptablen Rede ehrabschneidend in die Wüste geschickt. Ignatz Bubis hat mir selbst versichert, er habe diese Rede später wiederholt ohne Widerspruch nachgesprochen, allerdings mit anderer Intonierung und mit dem Hinweis auf Zitate. Jenninger hatte also einen rhetorischen Fehler gemacht, und der Bundestag hatte - auch verständlich - emotional reagiert. Ich habe aber einige Zeit später, als das klar geworden war, das Präsidium des Deutschen Bundestages gebeten, Herrn Jenninger zu rehabilitieren. Das wurde abgelehnt, obwohl man die Zusammenhänge erkannt hatte. - Das ist auch kein Zeichen von Zivilcourage in Deutschland.

Haben wir also als Demokraten das Wichtigste gelernt? - Denn die Verbrechen zu wissen - Sie haben das eben schon gesagt, Herr Präsident -, reicht nicht aus. Allen Dulles hatte völlig richtig beobachtet: Die mutige Verteidigung der Demokratie in demokratischen Zeiten ist das Fundament jeder Demokratie. Erinnerungen an die alltägliche Zivilcourage von Menschen im Widerstand gegen die Nazis könnten uns da helfen. Alltägliche Demokratie muss gelernt werden. Aus der Zivilcourage des Widerstandes könnten die Deutschen heute dafür mehr lernen als aus der ständigen Wiederholung der Verbrechen. Deutsche Vorbilder sind notwendig, und hier im Widerstand gegen die Nazis gäbe es diese Vorbilder. Vorbilder nämlich für den alltäglichen Mut, auch für den Mut im Kleinen. Vorbilder von Leuten, die bei Abenddämmerung etwas Brot und Butter in jüdische Häuser trugen. Das sind die Vorbilder, an die man denken muss und aus denen heraus sich auch Kraft für eine Demokratie ziehen lässt.

Mit Blick auf die deutsche Katastrophe, auf die Verbrechen und auf die Feigheit in den Nazijahren sollte sich also heute unsere Aufmerksamkeit sehr viel mehr auf diejenigen richten, die damals versuchten, durch ihre Stimme und ihre Unabhängigkeit im Denken, Menschlichkeit und Demokratie zu bewahren. Von ihnen gab es viele, auch viele Unbekannte. Das zu wissen und sich daran zu messen, ist aus meiner Sicht viel wichtiger als jede zweite Wehrmachtsausstellung. Denn heute brauchen wir Menschen, die in Parteien und Gewerkschaften, in Parlamenten und Verbänden die notwendigen Entscheidungen früh erkennen und mutig benennen, was zu tun ist, auch wenn dies im Augenblick für ihre Karriere nachteilig sein kann. Durch solche Zivilcourage würde die Demokratie gestärkt, bevor ihr etwa, wie Allen Dulles schrieb, die „vitalen Linien“ gebrochen wären.

Ein einsamer Mahner auf einem Parteitag leuchtet mir deswegen sehr viel heller als jede Lichterkette. Wir dürfen uns nicht auf einen Widerstand im heute üblichen Wortgebrauch verlassen, - einen Widerstand nämlich, der erst nötig würde, wenn die Verfassung vom Staat schon gewaltsam gebrochen wäre. Wir müssen die alltägliche Zivilcourage klar von solchem Widerstand unterscheiden. Ich persönlich zweifle daran, ob unter den vielen politisch korrekten Zeitgenossen heute mehr Menschen zum Widerstand in der Gefahr bereit wären als damals. Ich bezweifle auch, ob in irgendeinem anderen Lande die Zahl der Aufrechten und Couragierten größer gewesen wäre als damals in Deutschland, nachdem doch 1933, gleich nach dem 30. Januar, die „vitalen Linien“ einmal durchbrochen waren, das Parlament in einem Akt der Gewalt entmachtet und die Gewalt von Polizei und Gerichten in die Hände eines parteipolitischen Mobs auf der Straße geraten war.

Jedenfalls gibt mir z. B. die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von keinem weißen Widerstand gebrochene, rechtlose, rassistische weiße Herrschaft in den Südstaaten der USA wenig Anhaltspunkte für so viel bessere Charaktere in anderen Nationen. Und die lange Toleranz der britischen Gesellschaft für Sklavenhandel und Sklaverei auch in den Südstaaten der USA, auch wiederum trotz einer jahrhundertealten Bill of Rights, schafft ebenfalls wenig Vertrauen in bessere Menschen anderer Gesellschaften. Auch die nahezu widerstandslose Haltung der Menschen in der Sowjetunion gegenüber stalinistischem Terror und Verbrechen ist in dieser Beziehung wenig ermutigend.

Ich komme zum Schluss. Es wird Zeit, so scheint es mir, dass wir erneut ehrlicher und offener Rechenschaft ablegen über die deutschen Lehren aus der Nazizeit, über die Ursprünge der Nazibewegung, ihre innenpolitischen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Bedingungen und dass wir begreifen, woraus sich der Mut zum Widerstehen speiste: Es waren Anstand, Überzeugung, Ehrlichkeit und Bereitschaft, sich zu bekennen. Sekundärtugenden waren also auch darunter.

Es ist verständlich und richtig, dass wir Deutsche trotz erfolgreicher demokratischer Entwicklungen auch heute noch schwer an unserer historischen Verantwortung tragen. Uns umgeben die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und der Holocaust unverändert, und wir werden sie nicht vergessen. Aber Deutschland hat diese Vergangenheit nun fest in seinem Gedächtnis. Wir haben die Fakten der Verbrechen gelernt. Für dieses Wissen waren umfassende historische Studien wertvoll und unersetzlich. Doch eine offenere, auch wahrheitsgemäßere Debatte über die deutsche Geschichte, freimütig geführt von deutscher Seite, steht aus. Hier sollten wir auf den Mut in der DDR und im Nazireich, auf den Mut der Widersprechenden und Widerstehenden, mit Respekt zurückschauen.

Die meisten Deutschen wissen heute mehr über die zwölf kurzen Jahre des Nationalsozialismus als über die Jahrhunderte deutscher Geschichte zuvor. Natürlich auch mehr über deutsche Verbrechen als über den deutschen Widerstand. Kein anderes Volk befasst sich mit den Schattenseiten seiner Geschichte so intensiv wie wir. Und gewiss: Angesichts des deutschen Holocausts hatte auch kein anderes Volk so viel Grund zur Selbsterforschung wie wir Deutschen. Doch ist da auch eine deutsche Eigenheit zu bemerken. Im Mai 1945, unmittelbar nach Kriegsende, hielt Thomas Mann eine berühmte Rede in der Library of Congress in Washington, eine kritische Rede über Deutschland. Aber dann fuhr er fort, und erlauben Sie mir, das noch zu zitieren: „Was ich hier gedrängt von der Zeit zu geben versucht habe, war ein Stück deutscher Selbstkritik, und wahrhaftig, ich hätte deutscher Tradition nicht treuer folgen können als eben hiermit. Der Hang zur Selbstkritik, der oft bis zum Selbstekel, zur Selbstverfluchung ging, ist kerndeutsch. Und ewig unbegreiflich wird mir bleiben, wie ein so zur Selbsterkenntnis angelegtes Volk zugleich den Gedanken der Weltherrschaft fassen konnte.“

Vielleicht kann man Thomas Mann in dieser Frage helfen. Denn die Eigenschaft, die er hier beschreibt, erweist auch einen Mangel an Selbstbewusstsein. Dieses Selbstbewusstsein stärken wir aber aus meiner Sicht nicht durch die ständige Wiederholung von Verbrechen, sondern allein durch die offene, freie und mutige Debatte, durch These und Widerspruch. Gerade wegen unserer Geschichte gilt dies für uns Deutsche in besonderem Maße. Nur in offener Meinungsfreiheit, die auch extreme Abweichungen toleriert und dann den politischen Streit austrägt, erwachsen Mut und Kreativität. Denn Zivilcourage, meine Damen und Herren, wächst nur in der Praxis. Auf dem Papier gibt es keine Zivilcourage.

Meinungsfreiheit lehrt demokratische Selbstbehauptung und toleranter Streit ist das Fundament der demokratischen Gesellschaft. Das zu erinnern, schulden wir den Frauen und Männern des deutschen Widerstandes. Einen tiefen, einen inneren Sinn für Freiheit zu entwickeln, ist für uns heute die wichtigste Lehre aus der deutschen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Wir haben diese Lehre, so scheint es mir, noch nicht wirklich beherzigt.






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