Die Pflicht zum Hochverrat

Ernst Steinbach

Die Pflicht zum Hochverrat

Gedenkrede von Prof. Dr. Ernst Steinbach am 20. Juli 1968 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstrasse, Berlin

Wir Älteren haben in der Schule gelernt, Berlin sei die Hauptstadt Deutschlands. Aber wo ist Deutschland? Ist es identisch mit der Bundesrepublik, die ja den Anspruch erhebt, dass sie allein zu Recht den deutschen Namen in der Welt vertritt, oder existiert es jenseits der Mauer, wie Ulbricht und die Seinen glauben? Die harte Wahrheit ist, dass wir Deutschland verloren haben, und zwar hüben und drüben. Das ist ein böses Schicksal, vor allem für die deutsche Jugend, nicht nur drüben sondern auch hüben.

Hier nun, meine verehrten Zuhörer, müssen uns die Toten helfen, in deren Namen und zu deren Gedächtnis wir uns heute versammelt haben. Ich glaube, dass sie dazu in der Lage sind, sie allein! Denn sie haben in dem schrecklichsten Abschnitt, den unsere Geschichte jemals durchlaufen hat, als Deutschland nicht nur äußerlich zugrunde zu gehen drohte, sondern vor allem innerlich verloren schien, weil es seine Seele dem Teufel überlassen hatte, auf die Frage „wo ist Deutschland?“ eine gültige und verbindliche Antwort gefunden.

Es ist natürlich, dass die dramatischen Abläufe, die den 20. Juli 1944 auszeichnen, die Kühnheit des Plans, die leuchtende Tat und schließlich der tragische Ausgang die Aufmerksamkeit des Beschauers in erster Linie auf sich ziehen. Dabei darf es aber nicht bleiben; sonst entsteht ein unvollständiges Bild. Der Erhebung, die am 20. Juli 1944 in dem Attentat des Grafen Stauffenberg gipfelte, gingen innere Vorgänge voraus, tiefe Veränderungen im Bewusstsein und Wollen der handelnden Personen. Das einem Deutschland, das der Unmenschlichkeit, dem Gewaltrausch, dem brutalen Größenwahn verfallen war, einem Deutschland, dessen Gesicht unerkenntlich geworden war. In der Gemeinschaft derer, die an Deutschland litten, war Deutschland da.

Aber diese Antwort ist erst vorläufig; sie genügt nicht. An einer Sache, an einem Menschen zu leiden, kann durchaus eine private Angelegenheit sein, die für die Praxis unfruchtbar bleibt. Zum Widerstand kam es, wo aus dem Leiden an Deutschland das Leiden um Deutschland wurde, das heißt das konkrete Leiden mit den konkreten Menschen, die, wo immer und wie auch immer, äußerlich und innerlich die Opfer der Gewaltherrschaft waren. Der Übergang vom bloßen Leiden an dem totalitär gewordenen Deutschland ist von entscheidender Bedeutung: Er bedeutet den Verzicht auf die Trennung zwischen privater und öffentlicher Existenz, und damit Verzicht auf die Flucht in ein Seelenreich bloßer Innerlichkeit, die uns Deutschen so nahe liegt. Aus dem Leiden um Deutschland ergab sich für alle diejenigen, die es auf sich nahmen, die Notwendigkeit der politischen Aktion.

Die Widerstandskämpfer machten sich freiwillig oder (was dasselbe ist) sie machten sich aus unabweisbarer innerer Nötigung zu Anwälten der Erniedrigten, Beleidigten, Entrechteten, der Misshandelten und Ermordeten, der Verführten und seelisch Gebrochenen. Mit ihnen erklärten sie sich solidarisch, ihre Sache führten sie. Die Kränkung ihres Rechts empfanden sie wie die Kränkung ihres eigenen Rechtes.

Damit war ein neuer Begriff von Führungsverantwortung gewonnen, zugleich ein neuer Begriff vom Wesen und der Verpflichtung politischer Macht. Die Macht hat dem Schutz des Menschen zu dienen und deshalb dem Recht, das wiederum letzten Endes die Freiheit der Personen, die Freiheit des Gewissens zu schützen hat.

Der deutsche Widerstand und insbesondere die Erhebung am 20. Juli war ein Aufstand des Gewissens. Wer davon überzeugt ist, dass die Macht zu dienen hat und nur zu diesem Zweck dem Menschen geliehen ist, der muss im totalen Staat das Böse schlechthin erblicken. „Wird die Regierungsgewalt“, hat Stauffenberg gesagt, „zum offenbaren schwersten Schaden des regierten Volkes missbraucht, und ist kein anderer Weg offen, noch schlimmerer Schädigung vorzubeugen, so gibt es eine Pflicht zum Hochverrat für diejenigen, die nach ernster Prüfung dazu berufen sind. Sie dürfen ihrer Verantwortung nicht ausweichen auch wenn sie in verschwindender Minderheit sind, gegenüber den vom Wahn umstrickten Vielen. Verständnis oder Unverständnis, die auf sie warten, dürfen ihr Handeln nicht bestimmen.“

Seit den Kaltenbrunner-Berichten weiß die Öffentlichkeit, wie die führenden Köpfe der Erhebung sich die künftige Ordnung vorgestellt haben. Sie waren keine Utopisten, sondern sehr wohl in der Lage, ihre Grundsätze, die aus der unbedingten Gewissensbindung entsprangen, in die Ebene der politischen Verwirklichung zu projizieren. Sie wussten, dass der Nationalismus eine wesentliche Quelle des Unheils war, sie überholten ihn, in sich selbst, und kamen – vor allem in Goerdelers Denkschrift – zum Programm eines europäischen Staatenbundes, in dem kein Volk die Hegemonie haben und durch den jede Wiederkehr eines europäischen Krieges mit Sicherheit ausgeschlossen sein sollte. Zu diesem Zweck sollte die deutsche Wehrmacht in eine europäische Wehrmacht eingegliedert, es sollte ein kontinentales Wirtschaftssystem geschaffen und gemeinsame politische Einrichtungen sollten begründet werden, ein europäischer Wirtschaftsrat, ein gemeinsames Wirtschaftsministerium, ein europäisches Außenministerium.

Das Attentat scheiterte; die hochfliegenden Pläne zerrannen; das Böse warf die letzte Maske ab und es kam zum Äußersten. Nun war Deutschland in den Kellern und Folterkammern der Gestapo, aus denen seine besten Söhne und Töchter den Opfergang anzutreten hatten. Aber aus den Qualen des Körpers und der Seele, denen sie unterworfen, der Schändung ihrer Ehre, der sie preisgegeben, dem bitteren Sterben, dem sie ausgeliefert wurden, machten sie eine Tat der höchsten Freiheit, durch die das Böse zu Schanden wurde, die Ehre ihren Platz erhielt und zugleich der Seele unseres Volkes eine neue Zukunftsmöglichkeit erschlossen wurde.

Wir haben diese Möglichkeit schlecht genützt. Die Leistungen des äußeren Aufbaus sind mit dem Mangel an innerem Aufbau und Umbau teuer bezahlt worden. Die Änderung des Bewusstseins, das Umdenken in der Tiefe, das von uns gefordert war, ist nicht eingetreten.

Der Widerstand hat keine wirkliche Heimat im Herzen des Volkes gefunden. Das ist die harte Wahrheit. Wir sind kein politisches Volk geworden, sondern begnügen uns wiederum mit einer bloß privaten Existenz, der die gespenstische Abstraktheit unserer politischen Routine entspricht. Die großen Ordnungsfragen, deren Lösung für die innere und äußere Konsolidierung unseres Gemeinwesens unerlässlich ist, schieben wir vor uns her und verdecken mit viel schönen Reden den Umstand, dass wir zu konstruktiver Gestaltung nicht bereit sind. In solch schwächlicher Verfassung treten wir in ein Zeitalter ein, in der es auch für die Völker keine Privatexistenz mehr gibt; in der die Probleme weltweit und zugleich ungeheuer schwierig geworden sind, in der mit der wachsenden Unruhe auch die Gefahr wächst, dass wir durch Kurzschlüsse in neue Formen der Diktatur kollabieren. Hier haben nur diejenigen eine Chance, die bereit sind, sich so zu engagieren, wie die toten Kämpfer des Widerstandes sich engagiert haben.

Der Kranz, den wir jetzt an dieser geweihten Stätte niederlegen, soll unsere Liebe, unseren Dank, unsere Klage um die Toten sichtbar zum Ausdruck bringen. Er soll aber vor allem bedeuten, dass wir die Herausforderung annehmen wollen, die in ihrem Beispiel liegt, dass wir – unter veränderten Umständen – ihr Erbe wahren und dem Geist letzter Freiheit in der sittlichen Entscheidung offen sein wollen, eingedenk dessen, dass sie standen, wo die Ehre war und wo sie standen, war Deutschland.






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20.07.1968
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