Die Reinigung des deutschen Namens

Hans Filbinger

Die Reinigung des deutschen Namens

Gedenkrede des Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg und Bundesratspräsidenten Dr. Hans Filbinger am 19. Juli 1974 im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes, Berlin

Es ist durch die Jahre hin in fast lückenloser Folge hier in Berlin der Ereignisse vor und am 20. Juli 1944 feierlich gedacht worden. Meistens an der Stätte tragischen Geschehens, in Plötzensee, im Hof des alten Wehrministeriums und in der Bendler-, jetzt Stauffenbergstraße. Wenn auch der zeitliche Abstand manche Erinnerungen hat verblassen lassen, so ist diese Gedenkstunde doch nie zur Routine geworden. Im Kreis der Freunde, der Angehörigen, der Nachfahren jener Männer und Frauen, die ihr Leben für die Befreiung Deutschlands und die Wiederherstellung der Menschenwürde opferten, hat sie ihr besonderes, weithin forthallendes Echo stets gefunden. In besonderem Maße gilt dies heute. Es ist ein weithin sichtbares Zeichen, dass die erste Sitzung im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes seit 40 Jahren der Erinnerung an die Tage um den 20. Juli 1944 gewidmet ist.

Die Geschichte dieses Ereignisses ist mit Blut geschrieben. Viele Widerstandskämpfer wurden schon am 20. Juli 1944 hingerichtet, manche nach langer Folter in den Kellern der Gestapo ermordet und andere erst kurz vor dem Zusammenbruch der Gewaltherrschaft erschossen. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt; jedoch waren es Tausende, die ihr Leben im Widerstand gegen Hitler verloren.

In der Tat des Grafen Stauffenberg ist gleichsam konzentrisch zusammengefasst, was als deutscher Widerstand gegen Hitler und sein Regime in die Geschichte einging. Aber es handelt sich bei dieser 30-jährigen Wiederkehr der Erhebung des 20. Juli um ein sehr viel breiteres Hineinwirken in Zusammenhänge lebendigster Art, weit über die Kreise Nächstbetroffener, über die Grenzen einer Generation, ja über die Grenzen Deutschlands hinaus. In den Worten eines englischen Staatsmannes, die vor zehn Jahren bei der Enthüllung einer Gedenktafel in der Deutschen Botschaft in London gesprochen wurden, kommt dies zum Ausdruck. Die Tafel enthielt die Namen dreier ehemaliger Angehöriger der Botschaft, die zur Widerstandsgruppe der Wilhelmstrasse gehört hatten. Von ihrem Mut, sagte der Engländer, dass er „fackelgleich durch die Finsternis und den Propagandanebel strahlt“.

In der Tat können wir das Bild der Fackel aufgreifen. Dem heutigen Gedenktag ging die 25-jährige Wiederkehr der Begründung der Bundesrepublik Deutschland nur um wenige Wochen voraus. In der Entstehungsgeschichte dieser Republik und ihres Grundgesetzes hat das knapp fünf Jahre ältere Ereignis des 20. Juli eine unübersehbare Rolle gespielt. Das gilt für die politischen und die sozialen Zielsetzungen führender Kreise der Widerstandsbewegung. Mehr aber noch in prinzipieller Hinsicht; eben als leuchtendes Wegzeichen. In ihm hatte sich ja am deutlichsten und sinnfälligsten das ”andere Deutschland“ offenbart, das hinter der nationalsozialistischen Fassade in weiten Kreisen und praktisch allen Schichten des Volkes noch fortbestand und trotz der angeblich totalen Gleichschaltung oder weitgehenden Indoktrination lebendig geblieben war.

Churchill war einer der Ersten, der dies erkannte. Schon 1946 erklärte er vor dem Unterhaus, dass in Deutschland eine Opposition lebte, „die durch ihre Opfer und eine entnervende Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne Hilfe von innen und außen – einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens. Solange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar, weil sie sich tarnen mussten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden. Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. Aber ihre Taten und Opfer sind das Fundament des neuen Aufbaues. Es gibt schon aus der Zeit vor dem 20. Juli genügend Zeugnisse für den Widerstand gegen Hitler, vor allem im Martyrium, das so viele auf sich nahmen und nehmen mussten.” Aber in der Tat von Stauffenberg wurde das „andere Deutschland“ erst recht sichtbar. Sichtbar vor allem auch im innerdeutschen Bewusstsein, das daraus die Berechtigung zu einem Neubau herleiten konnte, wie auch vor den Augen einer freilich noch lange ungläubig bleibenden Welt.

Dass es für den Verschworenen um die Reinigung des deutschen Namens, der für so furchtbares missbraucht worden war, ging, braucht nicht in die Ereignisse hinein- oder aus ihnen herausgelesen zu werden. Es sei an die Worte des Staatssekretärs Erwin Planck, des Sohnes des berühmten Physikers, erinnert: „Das Attentat muss versucht werden, allein schon um der moralischen Rehabilitierung Deutschlands willen.“

Auch einer der leidenschaftlichsten Gegner des NS-Regimes unter den Militärs, der schon lange zur befreienden Tat drängte, General von Tresckow, hatte sich einige Tage vor dem 20. Juli zur gleichen Sicht bekannt: „Das Attentat auf Hitler“, so sagte er, „muss erfolgen um jeden Preis. Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem der Staatsstreich versucht werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat.“

Auch das Bekenntnis zum „Sühne-Gedanken“ als Vermächtnis des 20. Juli bleibe nicht unerwähnt. Es spielt eine Rolle unter anderem in den Aufrufen der „Weißen Rose“, mit denen die Münchner Studenten sich an die deutsche Jugend wandten. Und in einem ergreifenden Schlusswort seines Lebens hat Goerdeler im Gefängnis darum gebetet, sein und seiner Freunde Schicksal möge als „Buße“ angenommen werden für die Sünden, die unter dem Hakenkreuz begangen seien.

Das Geschehen um den 20. Juli muss mithin als eine Rettungstat für das deutsche Gewissen vor der Geschichte angesehen werden. Ein Neuanfang sollte möglich gemacht werden, was immer die Chancen sein mochten. Vor diesen Zeugnissen der Unbedingtheit muss der so häufig geäußerte kritische Hinweis auf das Vergebliche eines Versuchs verstummen, dem der äußere Erfolg versagt blieb.

Hier erweist sich offenbar jede solche Beratungsart als unzureichend und kurzschlüssig. Die Frage, warum alle Anschläge, unter denen der des 20. Juli nur der letzte in einer langen Reihe war, scheiterten, führt vielmehr ins Spekulative wenn nicht gar Theologische. Was als Hindernis vorlag, war nicht zu langes Zögern, so sehr darüber von führenden Männern geklagt wurde, war jedenfalls nicht mangelnde Entschlossenheit oder „Widerstand gegen den Widerstand“. Der Grund des Scheiterns lag auch nicht in den Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz Hitlers oder des Hauptquartiers. Sie waren zwar in den Jahren 1943 und 1944 sehr verschärft worden; gleichwohl kann keine Rede davon sein, dass sie undurchdringlich waren. Es ist mir ein Fall bekannt, dass ein zum Attentat bereiter Offizier, der Rittmeister von Breitenbuch, der eine entsicherte Browning in der Tasche trug, auf dem Berghof durch einen SS-Mann gestoppt wurde. In aller Regel waren es mehr oder weniger triviale Zwischenfälle, die sich der Ausführung von Anschlägen und schon weit vorbereiteten Attentatsplänen in den Weg legten.

So geschah es auch mit Stauffenbergs Bombe am 20. Juli, die durch nicht einkalkulierbare Zufälle um die beabsichtigte und völlig sicher erscheinende Wirkung kam. Hitler mochte darin in prahlenden Obertönen die Hand der Vorsehung erblicken. In einem anderen Sinne neigten auch Männer des Widerstandes zu dieser Auffassung, in der sie meinten, das Übel solle ausbrennen und nicht durch Menschenhand zu Ende gebracht werden. Es gibt für diese Sicht sehr bewegende Zeugnisse, vor allem aus dem sogenannten Kreisauer Kreis um den Grafen Moltke. Sie legen im Grunde erst recht dar, aus welcher inneren Notwendigkeit, aus welcher Tiefe der seelischen Substanz gehandelt wurde – weit über die Erwägungen des Möglichen und Erreichbaren hinaus.

Damit sei nicht gesagt, dass es Stauffenberg und seinen Verbündeten an handgreiflichen Planzielen verpflichtender Art gefehlt hätte. Es ging um den Sturz eines Regimes, unter dem ein menschenwürdiges Leben und mit dem ein Leben in Frieden nicht möglich war. Es ging um die Beendigung des Krieges vor dem vollen Ausbluten und ehe das Chaos hereinbrach. Es ging um die Lebensrettung von Millionen von Menschen im Feld und in den Städten – über die der Bombenhagel niederging – und um die Befreiung der Häftlinge in den KZ-Lagern. Und es ging um die Erhaltung des Vaterlandes mindestens in den Grenzen von 1933. Freilich war der militärische und politische Spielraum schmal geworden. Versuche, bei den westlichen Alliierten über eine konstruktive Politik gegenüber einem nach-nationalsozialistischen Deutschland Sicherheit zu erlangen, waren vergeblich. Die Alliierten hatten sich auf der Konferenz von Casablanca bereits auf die bedingungslose Kapitulation Deutschlands geeinigt.

Aber auch das konnte Männer von hohem sittlichen Verantwortungsbewusstsein nicht aus der Aufgabe entlassen, gegen eine Führung anzugehen, die offenbar bereit war, in den eigenen Untergang ein ganzes Volk mit herabzureißen. Gewiss waren die zum Widerstand entschlossenen Militärs – in Heimatstäben wie in leitenden Kommandostellen – die Letzten, der opferreichen Kameradschaftsgesinnung und der Härte der Pflichterfüllung, wie sie an der Front geübt wurde, die Achtung zu versagen, die ihr auf immer gebührt.

Aber sie selbst waren bereit, um der Erhaltung von Leib und Seele des eigenen Volkes willen, eine schwerere Pflicht auf sich zu nehmen und traditionelle Standespflichten und Loyalitäten zu durchbrechen. Sie waren dazu bereit, obwohl sie sich damit den Vorwurf des Hochverrats und des Landesverrats aussetzen mussten; Vorwürfen, die erst in späterer Sicht ins Wesenlose zerrinnen. Ging es doch bei solchem Handeln gegen alle Tradition um eine Zurechtrückung der Werte, bei der das nationale Interesse im üblichen Sinne nicht mehr an der Spitze der Rangordnung der Werte stehen konnte.

Mich dünkt, im Rückblick von heute her, dass dies wohl das Erregendste am Aufstand dieser Männer ist und, im Blick auf die Zukunft Europas, das eigentlich „Evokative“.

Schon die Versuche des Generalstabschefs Beck und des Staatssekretärs von Weizsäcker, den Ausbruch des Krieges, auf den Hitler zutrieb, durch eine internationale Aktion, durch geheime Fühlungnahme in London, also durch diplomatische Zusammenarbeit über Landesgrenzen hin zu verhindern, zielten nicht nur darauf, Deutschland vor einer Katastrophe – einer im Urteil dieser Männer vorhersehbaren – zu bewahren, sondern auch dem Verbrechen überhaupt ein Ende zu setzen und eine menschenwürdige Ordnung zwischen den Völkern wiederherzustellen.

Im Kriege mit seiner erst recht dringenden Forderung nach nationaler Solidarität steigerte sich das Dilemma der Pflichten und trieb damit umso mehr auf das Grundsätzliche, auf die ethische Unbedingtheit eines Widerstandes hin, bei dem es sich nicht mehr um das Interesse eines Volkes, sondern um die Bewahrung des Menschentums überhaupt handelte.

Von vornherein unterschied sich ja die Situation der deutschen Widerstandsbewegung vor der in anderen europäischen Ländern. In unseren Nachbarländern galt die Auflehnung fremden Eroberern. Dort wurde neben dem Kampf gegen eine Geißel der Menschheit um die nationale Befreiung gerungen. Wer sich zum Widerstand entschloss, konnte der Hilfe seiner Umgebung in aller Regel gewiss sein. Bei uns war es umgekehrt. Es konnte kaum mit Duldung und schon gar nicht mit Unterstützung gerechnet werden.

Man hat die besondere Art der Konflikte, die sich aus dieser deutschen Situation ergaben, durch eine entlastende Beweisführung zu bagatellisieren versucht. Einem Unrechtsstaat gegenüber habe man nicht Unrecht tun können; man brauchte den Treueid einem Manne gegenüber, der das wechselseitige Treueverhältnis selbst gelöst und damit den Eid gebrochen habe, nicht zu halten.

Und wenn General Oster, Abteilungschef der Abwehr, durch den holländischen Militärattaché in Berlin die genaue Festsetzung des Zeitpunktes, der für den Angriff auf Holland, Belgien und Dänemark jeweils in Frage kam, warnend weitergab, ja, wie wir heute zusätzlich wissen, auch versucht hat, die englische Flotte zur Verhinderung des deutschen Norwegen-Unternehmens zu alarmieren, so lautet ein oft gehörtes entschuldigendes Argument, Osters Verrat habe ja praktisch keinen Schaden angerichtet, da man – was zutrifft – seine Mitteilungen in den betreffenden Ländern für eine Falle hielt.

Dies mag als krasses Beispiel dafür stehen, wie durch solche Argumentation, durch eine wohlgemeinte, aber unangebrachte Offensive, der Charakter und die Deutung höchst symptomatischer Vorgänge verwischt werden kann. Gerade vom extremen Fall her werden indessen Gewissensentscheidungen in ihrem vollen Gewicht erkennbar, kann der schon berührte Durchbruch durch das Obrigkeitsdenken, durch die berufliche Ethik des Offiziers, durch seinen sozusagen normalen Patriotismus verständlich gemacht werden.

Der innerste Grundzug der Opposition als einer Umkehr der im 19. Jahrhundert üblich gewordenen Wertskala wird hier erst recht deutlich. Die einzelne Persönlichkeit aber, die diesen Durchbruch vor ihrem Gewissen leisten und durch Mühsal und Enttäuschung Tage, Wochen, Monate und Jahre aufrechterhalten musste, bedurfte großer seelischer Kraft. Nach dem schweren Kampf der Selbstüberwindung aber gab es Klarheit. Die Worte Stauffenbergs bezeugen es: „Wir haben uns vor Gott und dem Gewissen geprüft: Es muss geschehen.“

Gestatten Sie mir an dieser Stelle ein persönliches Wort: Ich selbst habe dem Freiburger Freundeskreis um Reinhold Schneider angehört, der Verbindung zu verschiedenen Gruppen des Widerstandes unterhalten hat und habe aus der Gesinnung, die diesen Kreis beseelte, gehandelt, unter Inkaufnahme der damit gegebenen Risiken, und doch empfinde ich das Ungenügende dessen, was wir getan haben als schwerwiegende Unterlassung angesichts dessen, was hätte geschehen müssen, um den Dingen eine andere Wendung zu geben.

Nirgendwo ist dieses Empfinden treffender in Worte gefasst worden als in der Stuttgarter Erklärung der evangelischen Kirche aus dem Jahre 1945, die Bundespräsident Gustav Heinemann in seiner unvergesslichen Rede zum 25. Jahrestag des 20. Juli 1944 zitiert hat: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Es ist wohl kein Zufall, dass der Widerstand in den Kirchen lebendig war. Ja, im Kirchenkampf beider Konfessionen war der Übergang von einer Teilfront zu einer Totalfront des Widerstandes am sichtbarsten vorgebildet worden. Wenn kirchliche Kreise sehr bald nach der Machtübernahme sich zu wehren hatten gegen Gestapo-Einmischung und innere Zersetzungsversuche, so dauerte es doch nicht lange, bis der grundsätzliche Widerstreit der Prinzipien aufbrach, für die Kreuz und Hakenkreuz die Symbole waren. Von da an galt der Angriff der katholischen Bischöfe und der Bekenntniskirche dem nationalsozialistischen System selbst in seinen wesenhaften Zügen, dem Totalitätsanspruch mit seiner völligen Missachtung der Unantastbarkeit persönlichen Lebens und seiner Verspottung elementarer Rechtsbegriffe, der rassendogmatischen Umdeutung des christlichen Glaubens, der Vergötzung Hitlers und der Verherrlichung der Blutsgemeinschaft des auserwählten deutschen Volkes.

Früh, schon vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und erst recht danach, wurde in den Gewerkschaften Widerstand organisiert. Während zunächst die Anstrengungen überwiegend darauf gerichtet waren, das deutsche Volk über das verbrecherische Tun seiner Regierung aufzuklären, änderte sich dies mit Beginn des Krieges.

Spätestens seit diesem Zeitpunkt war klar, dass der Widerstand auch andere Formen annehmen musste. Die ersten Pläne zur Beseitigung Hitlers wurden ausgearbeitet. Sowohl Wilhelm Leuschner als auch Jakob Kaiser, die sich schon 1933 trafen und sich zur Schaffung einer Einheitsgewerkschaft verpflichteten, bauten gewerkschaftliche Widerstandskreise auf. Als Leuschner 1944 zur Hinrichtungsstätte geführt wurde, signalisierte er in Zeichensprache nur noch das eine Wort: Einigkeit. Wir dürfen ein solches Vermächtnis nicht vergessen.

Der Übergang von der Kritik an verfehlten Maßnahmen zur Ausweitung der Kritik ins Prinzipielle vollzog sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Man entdeckte, dass etwa die Kritik an einer dilettantischen Finanz- oder einer leichtsinnigen Außenpolitik im Vordergründigen stecken geblieben wäre. Wer sein Gewissen befragte, dem wurde klar, dass es sich um Auflehnung gegen das Böse schlechthin, um die Bewahrung des Menschentums überhaupt handelte. So fanden viele Bürger des Dritten Reichs unter erschütternden Erfahrungen der Konfrontation über Klassen- und Parteigrenzen hinweg im Bekenntnis zum Humanen ihren Vereinigungspunkt.

Gewiss wird von diesen inneren Vorgängen nicht auf eine etwa am 20. Juli gipfelnde Massenbewegung geschlossen werden dürfen. Soviel aber ist sicher: Die Männer des 20. Juli waren keine „kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherisch-dummer Offiziere“, wie Hitler am 21. Juli 1944 im deutschen Rundfunk erklärte. Vielmehr kamen sie aus allen Schichten des Volkes. Gleichwohl handelte es sich zunächst um den Aufschrei einer Elite. Man wird fragen müssen: Hätte sie im Erfolg genügend Rückhalt beim jüngeren Offizierscorps und bei breiten Volksmassen gefunden, um den Umsturz wirklich zu vollziehen? Wäre nicht eine tiefer gegründete Revolution nötig gewesen? Eindeutige Antworten auf diese Fragen lassen sich nicht geben. Jedoch wäre nach der Zerstörung der Zwangsapparatur alles anders gewesen?

Auf den vorbereiteten Widerstand der Kirchen und der Gewerkschaften habe ich bereits hingewiesen. Auch wird man nicht übersehen dürfen, dass es neben der aktiven Opposition eine schweigende gab. Schichten von erheblicher Breite zeigten sich von der Nazi-Propaganda praktisch unberührt. Sie ließen nicht ab von den Geboten einfach menschlichen Anstands in den gewöhnlichen Dingen des täglichen Lebens. Und viele waren in der Hilfe für die Verfolgten des Regimes, insbesondere in der Hilfe für die Juden, aktiv tätig.

In alledem zeigte sich ein Reservoir von Kräften, auf die der aktive Widerstand hätte zählen können, wenn die Macht der Unterdrücker erst einmal aus der Hand geschlagen war. Jedenfalls dürfte die versuchte Charakterisierung des 20. Juli als einer „Revolution ohne Volk“ und die These von dem in diesem Bewusstsein liegenden angeblichen Unsicherheitsgefühl der Akteure grundfalsch sein.

Insbesondere kann von einem Unsicherheitsgefühl und einer mangelnden Zukunftsbezogenheit gewiss nicht im Hinblick auf die Grundkonzeption der Männer des 20. Juli gesprochen werden. Sie zielte auf die Überwindung eines engen Nationalismus. Auch in der Förderung des europäischen Zusammenschlusses haben die zahlreichen Entwürfe des deutschen Widerstandes Bestand gehabt und Nachfolge gefunden. Sie schlossen mit Selbstverständlichkeit ein wiederhergestelltes Polen und eine wiederhergestellte Tschechoslowakei in den Rahmen der geplanten europäischen Föderation ein, die ihrerseits ein integrierender Teil einer Weltföderation sein sollte. Die ganze Bemühung um internationale Lösungen kreiste um das Problem des Friedens zwischen Staaten. Ohne die Worte zu pressen, wird man von einem Vorklang der Impulse, die in der heutigen Konflikt- und Friedensforschung lebendig sind, sprechen dürfen, einem Vorklang universaler Entspannungsbemühungen.

Weniger eindeutig ist das verfassungspolitische und gesellschaftspolitische Leitbild, das im Zielpunkt der Erhebung vom 20. Juli stand. Es bedurfte nicht erst der tendenziösen Gestapo-Berichte, um uns über Gegensätze, personalpolitische wie staats- und sozialpolitische, in den Widerstandskreisen zu unterrichten. Auch in den Tagebüchern von Hassells findet sich das Echo sehr ernster Auseinandersetzungen. Dennoch ist die Widerstandsbewegung insgesamt eine Mahnung, die Polarisierung unseres heutigen staatlichen und parteipolitischen Lebens auf keinen Fall weiterzutreiben, sondern abzubauen. Man wird sich hüten müssen, die vorhandenen Differenzen, etwa zwischen Älteren und Jüngeren, im Sinne einer Polarität zwischen Erhaltung und Fortschritt zu überschätzen. Gewiss gab es einen erheblichen Abstand zwischen den Grundanschauungen des Kreisauer Kreises, der ein Gesellschaftsprogramm vertrat, das christliche, aristokratische und sozialistische Elemente verband, und der mehr bürgerlich-liberalen Richtung, als deren Hauptrepräsentant Goerdeler gelten kann. Seine Zukunftspläne lagen in der Richtung sozialer Marktwirtschaft. Aber auch er stand in naher Verbindung zu Gewerkschaftsführern. Für die zukünftige Regierungsbildung sah auch er eine starke Beteiligung führender Sozialdemokraten vor.

Diese Differenzen sollen nicht verwischt werden. Aber es muss darauf hingewiesen werden, dass sie weitgehend verschwinden, wenn man sie vergleicht mit der überzeugenden und ungewöhnlichen breiten Gemeinsamkeit fast aller Widerstandskreise.

Diese Gemeinsamkeit bestand in der Forderung nach einer auf Freiheit und Selbstverantwortung, auf Menschenrecht und Menschenwürde gegründeten Gesellschaft. Diese Interpretation steht der Auffassung einer tiefgreifenden und etwa typisch deutschen Polarisation doch entschieden entgegen. Sie erhält ihre besondere Beleuchtung, wenn man kommunistische Ansichten vom Widerstand mit heranzieht. Sie helfen in ihrer Weise mit, das Vermächtnis des 20. Juli nach seiner 30-jährigen Wiederkehr zu klären. Es ist eine sowjetische These gewesen (autoritativ vom russischen Historiker Melnikow und weiter in vielfältigem Ostberliner Schrifttum vertreten), dass die Kommunisten, wenn nicht die einzigen, so doch die ernstesten und entschlossensten Kämpfer gegen die faschistische Diktatur gewesen seien. Vor der geschilderten breiten geschichtlichen Wirklichkeit kann sich dieser Exklusivanspruch des kommunistischen Widerstands nicht aufrechterhalten lassen.

Erstens wird gewiss niemand die Verfolgungen und die Opfer, die die Kommunisten gebracht haben, bagatellisieren wollen. Aber verfolgt sein, wie man nie übersehen sollte, ist keineswegs ohne weiteres identisch mit Widerstand. Zweitens kann kaum bestritten werden, dass gemäß Moskauer Direktive ein erheblicher Teil der kommunistischen Agitation sich gegen die Sozialdemokraten richtete, die als angebliche Sozialfaschisten verleumdet wurden. Drittens ist sehr viel Verwirrung in die kommunistischen Kader durch den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 und die Liquidationswelle in Moskau getragen worden. Was auch sollten deutsche Kommunisten davon denken, wenn nach der Zerschlagung Polens von Stalin und Molotow die Allianz als „mit Blut zementiert“ gefeiert wurde?

Heute wird die deutsche Opposition gegen Hitler von östlicher Seite gerne nach dem Schwarz-Weiß-Gemälde des Klassenkampfes aufgespalten in ein progressiv-russophiles und ein reaktionär-westliches Lager. Damit wird von dieser Seite die Polarisation in zugespitzter Weise in Anspruch genommen.

Sie kann sich einiger Scheinargumente bedienen, insbesondere des Hinweises auf verschiedene mehr konservative Züge in den Verfassungsplänen beispielsweise von Goerdeler, Popitz, Jessen und anderen. Tatsächlich aber handelt es sich bei diesen Entwürfen um den Versuch, bestimmte Schwächen der Weimarer Verfassung zu vermeiden. Das Prinzip des „konstruktiven Misstrauensvotums“, das sich geschichtlich als Vermächtnis der Verfassungserörterungen des Widerstandes durchgesetzt hat, ist so zu sehen und nicht als Versuch, typisch konservatives Gedankengut in der Verfassung festzuschreiben.

Mit mehr Recht scheint die kommunistische These von der zweigeteilten Opposition sich auf die gesellschaftspolitischen Anschauungen der Kreisauer berufen zu können. In ihren Planungen war Nachdruck gelegt worden auf Landreform und auf Verstaatlichung der Schlüsselunternehmen. Gerade die ostdeutschen Mitglieder des Kreises, wie die schlesischen Grafen, nahmen, was jenseits der Grenze in sozialer Hinsicht geschehen war, sehr ernst. Aber daraus eine prosowjetische Orientierung abzuleiten oder gar eine Bereitschaft, die Hitlersche Diktatur gegen die Stalins einzutauschen, führt völlig in die Irre. Ausdrücklich ist für die Kreisauer in einer Denkschrift Moltkes bezeugt, dass sie zwar das russische Volk und die russische Kultur liebten, „aber das russische Regime“ – so das Zitat – „war allen verhasst“.

Stauffenberg wird in der neueren sowjetischen Literatur als glühender Patriot anerkannt, in dem gleichen Sinne wie sein Vorfahr Gneisenau, der ja auch als Klassenkämpfer reklamiert wird, als Mann, der den Werktätigen die Hand reichen wollte und ein besonderer Freund Russlands. Man wird gegen diese tendenziöse Umdeutung des Befreiungskampfes gegen Napoleon starke Vorbehalte zu erheben haben. Jedenfalls aber sieht die Russenfreundschaft Stauffenbergs sehr anders aus, als die östliche Propaganda es wahrhaben will. Diese Haltung des Grafen bestätigte sich zunächst im humanem Sinne, indem Stauffenberg russische Kriegsgefangene, die Hitler praktisch zum Tode verurteilt hatte, freisetzte und sie dann in militärischen Formationen zusammenfasste, die nicht als deutsches Kanonenfutter, sondern als antisowjetische Befreiungsarmee dienen sollte.

Wie immer man die Vorgänge des 20. Juli 1944 in seinen Einzelzügen deutet, ein Gesamtbild tritt klar hervor: Es ist das Anringen gegen die Anmaßung des Totalitären. Immer wieder, auch in unseren Tagen, ist uns die Aufgabe, gegen das Totalitäre in allen seinen Formen und Farben zu kämpfen, aufgegeben.

Vor allem der Jugend sollte dieser 20. Juli aufzeigen, wie unendlich schwer die heute erreichte Entscheidung zur Freiheit war, als die Freiheit der Entscheidung nicht gegeben war. Solche Erkenntnis mag zu einem ausgewogenen Staatsbewusstsein beitragen. Denn nur dann werden wir die Jugend für diesen Staat der Freiheit und des Rechts gewinnen können, wenn wir beweisen, dass dieser Staat mehr ist als ein Regelmechanismus zur Konsumbefriedigung. Wir müssen dieser Jugend Brücken des Verständnisses bauen. Die Erinnerung an eine deutsche Freiheitsbewegung, die Erinnerung an das Andenken jener Frauen und Männer der Opposition gegen Hitler, ist eine solche Brücke. Denn sie haben in den Jahren der Schreckensherrschaft nicht aufgehört, das Recht und die Freiheit der inneren Entscheidung höher zu achten als ihre persönliche Freiheit und ihr Leben.

Wir müssen aber auch das verschollene Geschichtsbewusstsein wieder aufbauen. Denn die Geschichte mit ihren von menschlicher Bosheit verdunkelten, aber auch von menschlicher Größe hell erleuchteten Kapiteln ist und bleibt die Lehrmeisterin der Politik.

Kein Ereignis kann so wie das Ereignis des 20. Juli 1944 Größe gegenüber Gemeinheit aufzeigen. Schließlich muss uns der 20. Juli 1944 Mahnung sein, gemeinsam die Werte zu bewahren, ohne die eine freie Welt nicht bestehen kann. Letzten Endes sind damit Entscheidungen vorgelebt und vorgestorben worden im Sinne einer allen übrigen Bindungen übergeordneten Front des Menschlichen, die sich nicht nur auf einmalige Situationen und nicht nur auf den deutschen Bereich bezieht. So heißt es in einem Brief, den Moltke mitten im Krieg an einen englischen Freund schrieb, in dem er der Zukunft eines Europa der freien Völker nachsann: „Die eigentliche Frage, vor die Europa nach dem Kriege gestellt sein wird, ist die, wie das Bild des Menschen wiederhergestellt werden kann.“

Diese Aufgabe haben wir begonnen. Wir müssen sie fortsetzen.







Weitere Reden

19.07.1974
Dr. h.c. Klaus Schütz
Dr. h.c. Klaus Schütz