Die Toten der Mordaktion in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945

Johannes Tuchel

Die Toten der Mordaktion in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945

Begrüßungsansprache von Prof. Dr. Johannes Tuchel am 21. April 2016 in der Kapelle auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, Berlin anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 71. Jahrestag der Mordaktionen in der Nähe des Zellengefängnisses Lehrter Straße zwischen dem 22. und 24. April 1945

Liebe Angehörige der im April 1945 Ermordeten,

liebe Frau von dem Bottlenberg-Landsberg,

sehr verehrter Herr von Dohnanyi,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 wurden insgesamt fünfzehn Gefangene des Zellengefängnisses Lehrter Straße 3 auf den nahe gelegenen ULAP-Gelände erschossen. Eine Nacht später wurden noch einmal drei Häftlinge ermordet.

Acht Tote der Mordaktion vom 22. April wurden bereits am 23. April 1945 gefunden und am nächsten Tag in das Leichenschauhaus hier in der Französischen Straße überführt. Dies waren Rüdiger Schleicher, Klaus Bonhoeffer, Friedrich Justus Perels, Hans Sierks, Carl Marks, Wilhelm von zur Nieden, Hans John und Richard Kuenzer.

Im Leichenschauhaus verblieben die acht Toten bis zum 5. oder 6. Mai 1945. Dann wurden sie durch eine Lücke in der zerstörten Mauer auf dem angrenzenden Dorotheenstädtischen Friedhof gebracht und gemeinsam mit fünf Kindern in einem großen Bombentrichter bestattet und ihre Leichen mit Kalk und Erde bedeckt. Die Kleidung der Mordopfer wurde verbrannt. Einige Tage später, am 10. und 11. Mai 1945 wurden dann neunundfünfzig weitere Menschen, die bei den Kampfhandlungen um Berlin in den letzten Kriegstagen ums Leben gekommen oder gefallen waren, in diesem Bombentrichter beigesetzt und das Massengrab, in dem jetzt 72 Menschen ruhten, erhielt einen schlichten Hügel.

In den folgenden Tagen begannen Pastor Eberhard Bethge und Heinz Haushofer, der Bruder des ermordeten Albrecht Haushofer, mit ihren Nachforschungen nach den verschwundenen Gefangenen des Zellengefängnisses Lehrter Straße 3. Schon bald erfuhren sie, dass ein Teil der Ermordeten, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt worden waren. Sie sprachen mit Mitarbeitern des Leichenschauhauses und erhielten nähere Angaben.

Nur wenige Tage später, am 11. Juni 1945, gab es dann hier eine erste Trauerfeier für die Verstorbenen, die unter das Symbol der Losung des 23. April 1945 aus dem Buch Hiob gestellt wurde: „Wir sind von gestern her, und wissen nichts; unser Leben ist ein Schatten auf Erden.“ (Hiob 8, 9) . Eberhard Bethge predigte.

Bereits am 18. Juli 1945 trafen sich die überlebenden Häftlinge des Zellengefängnisses Lehrter Straße auf dem Hof des Gefängnisses, um dort – so die Einladung –„eine kurze Gedenkstunde für die gemordeten Kämpfer des deutschen Erhebungsversuches“ abzuhalten. Andreas Hermes, selbst Häftling des Zellengefängnisses, sprach einige Gedenkworte, es gab ein stilles Gebet, anschließend einen fünf Minuten langen Erinnerungsrundgang auf dem Hof.

Meine Damen und Herren, dieses waren die ersten Gedenkfeiern zur Erinnerung an die Morde vom 22. und 23. April 1945. Heute, 71 Jahre später, haben wir uns wieder versammelt, um an die Ermordeten zu erinnern.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die Geschichte der Mordaktion und des Zellengefängnisses Lehrter Straße systematisch aufgearbeitet worden; die Gedenkstätte Deutscher Widerstand und die Stiftung 20. Juli 1944 haben in vielen Veranstaltungen seit 1989 an die Mordaktion erinnert. In diese Tradition reihen wir uns heute ein.

Dass wir in diesem Jahr diesen Ort gewählt haben, hat einen ganz konkreten Grund: Vor längerer Zeit regten Sie, lieber Herr von Dohnanyi, an, den hier vorhandenen Gedenkstein mit den Namen der Ermordeten des Zellengefängnisses Lehrter Straße um drei fehlende Namen zu ergänzen: um die Namen von Albrecht Graf von Berns-torff, Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg und Ernst Schneppenhorst. Das Landesdenkmalamt der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt nahm dies zum Anlass, gleichzeitig auch den originalen Gedenkstein wieder herzurichten und so in einen würdigen Zustand zu versetzen. Mit Unterstützung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Stiftung 20. Juli 1944 konnte Ihre Anregung aufgegriffen und jene Gedenktafel realisiert werden, die wir nachher der Öffentlichkeit übergeben werden. Herr Bluhm restaurierte den Stein, die ergänzende bronzene Gedenktafel wurde von dem Restaurator Thomas Dempwolf entworfen und realisiert und in der Kunstgießerei Flierl gegossen. Ihnen allen gilt ebenso unser Dank wie dem Evangelischen Friedhofsverband Berlin-Stadtmitte, der dieses Vorhaben ebenso engagiert vorangetrieben hat wie Frau Gesine Sturm vom Landesdenkmalamt Berlin.

Wer waren die drei noch in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945 Ermordeten?

Der am 6. März 1890 in Berlin geborene Albrecht Graf von Bernstorff erhielt 1909 ein Rhodes-Stipendium und studierte zwei Jahre in Oxford Volkswirtschaftslehre. Nach Deutschland zurückgekehrt, studierte er kurz Jura in Kiel und begann ein Referendariat, bevor er 1915 als Attaché an der deutschen Botschaft in Wien seine diplomatische Laufbahn begann. Seit 1923 arbeitete er als Legationssekretär an der deutschen Botschaft in London, zuletzt 1933 im Rang eines Botschaftsrats. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde er Ende 1933 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. In der Zeit danach war Bernstorff vor allem als Privatbankier im Bankhaus A.E. Wassermann tätig. „Weil er als deutscher Staatsangehöriger sich bei Kriegsausbruch nicht unverzüglich aus der Schweiz nach Deutschland begeben“ hatte, wurde er zwischen dem 1. Juni und dem 27. September 1940 im Konzentrationslager Dachau inhaftiert und unterlag im Anschluss daran einer polizeilichen Meldepflicht.

Am 29. Juni 1943 wurde der Priester Max Josef Metzger festgenommen. Er hatte die schwedische Staatsangehörige Dagmar Imgart gebeten, ein „Friedensmanifest“ an den Bischof von Uppsala zu übermitteln und dabei nicht gewusst, dass Imgart bereits seit mehreren Jahren als Spitzel für die Gestapo arbeitete. In dem vom Leiter der Gruppe IV B („Politische Kirchen, Sekten und Juden“) Regierungsrat Erich Roth federführend bearbeiteten Verfahren belastete Metzger den früheren Legationsrat Richard Kuenzer schwer und nannte auch den Namen von Albrecht Graf von Bernstorff. Richard Kuenzer wurde daraufhin am 6. Juli 1943, Albrecht Graf Bernstorff nach der Rückkehr von einer Reise in die Schweiz am 30. Juli 1943 in Berlin „vorläufig festgenommen“. Eine ausführliche Erklärung Metzgers vom 30. Juli 1943 muss schon als ein Versuch gesehen werden, Kuenzer und Graf Bernstorff zu entlasten.

Im August und September 1943 blieben Bernstorff und der ebenfalls festgenommene Richard Kuenzer in der Prinz-Albrecht-Straße 8 inhaftiert. Später wurden sie in das KZ Ravensbrück verlegt. Ulrich von Hassell notierte am 7. Februar 1944 in seinem Tagebuch: „Bernstorff sitzt nach wie vor. Er wird, offenbar völlig ohne Grund, mit Langbehns Reisen in Verbindung gebracht. Letzterer wird bestimmt weiter festgehalten werden, weil Himmler für sich selbst fürchtet. Ein Akt größter Illoyalität.“

Albrecht Graf Bernstorff wurde in Ravensbrück schwer gefoltert. Isa Vermehren, ebenfalls seit Februar 1944 im Zellenbau des KZ Ravensbrück inhaftiert, berichtete ergänzend: „Man mußte ihm immer Grüße bestellen, immer ein wenig trösten, ein wenig aufheitern, ihm ein wenig Mut zusprechen – er lebte so spürbar am Rande der Hoffnungslosigkeit. Für Wochen konnte er sich nicht erholen von einem fürchterlichen Nachtverhör, wo man ihn mit schrecklichen Folterqualen zu Aussagen gepreßt hatte, die andere belasteten.“

Am 19. Oktober 1944 wurde Albrecht Graf Bernstorff von Ravensbrück in das Zellengefängnis Lehrter Straße 3 in Berlin-Moabit verlegt und kam dort in die Zelle 269. Diese Verlegung lässt darauf schließen, dass gegen ihn mittlerweile neue Verdachtsmomente im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 aufgetaucht waren. Am 15. November 1944 wurde gegen Johanna Solf und andere, darunter auch Albrecht Graf Bernstorff, Anklage erhoben. Am 9. Januar 1945 wurde die Hauptverhandlung für den 19. Januar 1945 angesetzt, aber dann erneut verschoben. Als neuer Termin wurde der 8. Februar 1945 festgesetzt, der dann wegen des Todes Freislers ebenfalls verschoben wurde. Schließlich wurde die Hauptverhandlung für den 27. April vor dem 2. Senat des Volksgerichtshofs terminiert. Dieser Termin sollte nicht mehr stattfinden.

Von Bernstorffs Mitangeklagten war Richard Kuenzer bereits in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 ermordet worden – in der Gruppe der zum Tode Verurteilten, ohne dass gegen ihn ein Urteil vorgelegen hätte. Warum Kuenzer bereits in der Nacht zum 23. April und Graf Bernstorff erst eine Nacht später ermordet wurde, bleibt eine offene Frage. Vielleicht war Bernstorff am 22. April 1945 einfach übersehen oder vergessen worden; ein „Versäumnis“, das die Gestapo einen Tag später korrigierte.

Der am 19. April 1881 in Krefeld geborene Ernst Schneppenhorst erlernte den

Beruf des Schreiners und war von 1906 bis 1918 Geschäftsführer des Deutschen Holzarbeiter-Verbandes in Nürnberg. Daneben war er von 1912 bis 1920 für die SPD Mitglied des Bayerischen Landtages. Zwischen November 1918 und März 1919 war er Regierungsvertreter und Leiter des Generalkommandos des III. Bayerischen Armeekorps in Nürnberg, anschließend bis zur Übergabe der Bayerischen Armee an das Reich bayerischer Staatsminister für militärische Angelegenheiten. 1921 gründete er ein Optikergeschäft. 1932/33 gehörte Schneppenhorst für die SPD dem Reichstag an und war auch ihr Nürnberger Vorsitzender. Am 23. März 1933 gehörte Ernst Schneppenhorst zu den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, die in namentlicher Abstimmung Hitlers „Ermächtigungsgesetz“ nach der beeindruckenden Rede des sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Otto Wels ablehnten.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste er sein Optikergeschäft auf persönlichen Druck des Nürnberger Gauleiters Julius Streicher verkaufen und Nürnberg verlassen. Die Gestapo bezeichnete ihn 1939 in ihrer „Erfassung führender Männer der Systemzeit“ für die Zeit vor 1933 als „Spitzenfunktionär der SPD und des Reichsbanners“ und verdächtigte ihn für die Zeit nach 1933, Verbindung mit dem „illegalen Parteivorstand“ der SPD in der Tschechoslowakei gehabt zu haben. Sie hielt es sogar für möglich, dass Schneppenhorst in die Tschechoslowakei emigriert war.

Tatsächlich war Schneppenhorst nach der letzten Reichstagssitzung, an der SPD-Abgeordnete 1933 teilnehmen konnten, in Berlin geblieben und hielt sich verborgen, zuerst in Eichkamp, später in Kreuzberg. Nach intensiver Fahndung nahm ihn die Gestapo am 4. September 1938 fest und überführte ihn nach Nürnberg. Schneppenhorst blieb offenbar ein Jahr in Haft; es kam jedoch nicht zu einem Verfahren. Nach der Haftentlassung und der Rückkehr nach Berlin nahm er wieder Kontakt zu seinem früheren Gewerkschaftskollegen Wilhelm Leuschner auf. Leuschner war in Berlin bis 1944 Inhaber einer kleinen Apparatebau- und Metallveredelungsfirma, in der auch andere ehemalige sozialdemokratische Funktionäre wie Hermann Maaß und Friedrich Ebert jun. tätig waren und zu denen jetzt auch Ernst Schneppenhorst stieß. Auf dem Firmengelände in Berlin-Kreuzberg wurden zuerst vor allem Bierdruckapparate entwickelt, gebaut und verkauft. Das in dieser Fabrik entwickelte Verfahren der Hartverchromung von Aluminium war aber in den folgenden Jahren auch für die Rüstung des NS-Staates von Bedeutung und verschaffte der Firma ab 1938 nicht nur einen wichtigen geschäftlichen Aufschwung, sondern vor allem eine vorzügliche Tarnung der gegen das Regime gerichteten Aktivitäten.

Für Leuschner stellte Schneppenhorst im Herbst 1943 und im Frühjahr 1944 Kontakte zu anderen ehemaligen Gewerkschaftern her. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 wurden diese Verbindungen aufgedeckt und Ernst Schneppenhorst festgenommen. Nach der Festnahme wurde Schneppenhorst in der Sicherheitspolizeischule Drögen und in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen, seit dem 19. Oktober 1944 im Gefängnis Lehrter Straße inhaftiert. Die Gestapo berichtete an Hitlers Sekretär Martin Bormann am 18. September 1944 in einem ausführlichen Bericht über die Kontakte von Schneppenhorst zu Leuschner sowie über ein Gespräch, das Leuschner noch am 25. Juli 1944 mit Schneppenhorst geführt hatte. Darin soll Leuschner zu Schneppenhorst gesagt haben: „Wie die Dinge liegen, muß ich damit rechnen, dass ich geholt werde und längere Zeit eingesperrt bleibe. Unter diesen Umständen müssen wir eine Aussprache haben.“ Da Leuschner untertauchte, kam das Gespräch nicht mehr zustande.

Nachdem Matthäus Herrmann am 13. Januar 1945 vor dem „Volksgerichtshof“ freigesprochen worden war, wurde offenbar kein Verfahren gegen Ernst Schneppenhorst eingeleitet. Seine engen Freunde Wilhelm Leuschner und Hermann Maaß waren bereits am 29. September 1944 bzw. 20. Oktober 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet worden. So war Ernst Schneppenhorst in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945 der letzte ermordete frühere Gewerkschaftsfunktionär im Zusammenhang mit dem Umsturzversuch vom 20. Juli 1944.

Der am 22. Mai 1902 in Würzburg geborene Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg gründete nach dem Abschluss seines Geschichtsstudiums 1930 die Arbeitsstelle für konservatives Schrifttum, aus der 1934 das Organ „Weiße Blätter. Zeitschrift für Geschichte, Tradition und Staat“ hervorging. Er war mit Therese Prinzessin zu Schwarzenberg verheiratet, mit der er zwei Töchter und einen Sohn hatte. Für die „Weißen Blätter“ gewann Guttenberg im Laufe der Zeit Autoren wie Reinhold Schneider, Jochen Klepper und Ulrich von Hassell. Die Zeitschrift trug so zu einer Diskussion von politischen Denktraditionen außerhalb des Nationalsozialismus bei. Im August 1939 konnte Guttenberg den ersten Kontakt zwischen Carl Goerdeler und dem Diplomaten Ulrich von Hassell vermitteln. Wie andere Hitlergegner wurde Guttenberg mit Hilfe von Ludwig Beck zum Wehrdienst beim Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht unter Admiral Canaris eingezogen und gehörte dort zum Kreis um Hans Oster und Hans von Dohnanyi.

Wenige Tage nach dem Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 wurde Guttenberg in Zagreb festgenommen und nach Deutschland gebracht, wo er in der Schule der Sicherheitspolizei in Drögen inhaftiert und vernommen wurde. Bevor Guttenberg nach Drögen kam, muss er auch einige Tage im Konzentrationslager Ravensbrück verbracht haben. Auf einer Postkarte teilte Guttenberg am 17. August 1944 seine Verlegung nach Berlin mit.

Ausführlich beschreibt Maria Theodora von dem Bottlenberg-Landsberg die Haft ihres Vaters in der Lehrter Straße 3 und seine Verhöre durch die Gestapo-Beamten in der Prinz-Albrecht-Straße 8, bei denen Guttenberg auch gefoltert wurde. Heinz Haushofer berichtete in seinen Erinnerungen: „Mit Guttenberg verbindet mich eine merkwürdige gute Erinnerung. Nachdem ich von der Ruhr geschwächt das erste mal auf der steilen Stiege von den Kellerzellen in den Gefängnishof gehen wollte, wurde ich bewußtlos, ohne es selbst zu merken. Hinter mir stand Guttenberg, der mich auffing, als ich auf ihn hinunterfiel, und der mich hielt, bis mich andere in meine Zelle trugen. Guttenberg berichtete mir danach, er habe noch nie auf dem Gesicht eines Menschen einen so seligen, gelösten Ausdruck gesehen, wie in diesen Momenten auf dem meinen. Ich habe mir das gut gemerkt.“

Es sollte keinen Prozess vor dem „Volksgerichtshof“ gegen Guttenberg oder andere aus dem Amt Ausland/Abwehr geben. Tatsächlich hatte es außer gegen Georg Alexander Hansen, der wegen seiner direkten Beteiligung am Umsturzversuch zum Tode verurteilt wurde, keine Verfahren vor dem „Volksgerichtshof“ gegen Angehörige des Amtes Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht gegeben. Dies soll auf eine persönliche Anweisung Hitlers von Mitte Oktober 1944 nach dem Fund von Unterlagen von Hans von Dohnanyi und von Admiral Wilhelm Canaris in einem Tiefbunker des OKH-Quartiers in Zossen zurückgehen.

Am 5. April 1945 befahl Hitler– so eine Nachkriegsmitteilung vom Chef des Reichssicherheitsdienstes, Johann Rattenhuber, an Josef Müller – noch am selben Tag die sofortige „Vernichtung der Verschwörer“ aus der Abwehr. Dies löste hektische Aktivitäten bei RSHA-Chef Kaltenbrunner und Gestapo-Chef Müller aus. Sie schickten SS-Standartenführer Huppenkothen zuerst in das KZ-Sachsenhausen, wo Hans von Dohnanyi nach einer Scheinverhandlung am 6. April 1945 wenige Tage später ermordet wurde; Dietrich Bonhoeffer, Wilhelm Canaris, Hans Oster, Theodor Strünck und Ludwig Gehre traf dieses Schicksal im Konzentrationslager Flossenbürg am 9. April 1945. Lediglich die zu dieser Zeit ebenfalls in Flossenbürg inhaftierten Josef Müller und Franz Liedig sollten den Krieg überleben. In Berlin saßen in der Lehrter Straße noch die Abwehrangehörigen Ernst Munzinger und Karl Ludwig Freiherr zu Guttenberg. Auch für sie galt Hitlers Mordbefehl, der dann noch am 23. und 24. April 1945 umgesetzt wurde. Nur ein Angehöriger der Abwehr überlebte in der Lehrter Straße 3, Justus Delbrück. Dieser jedoch wurde am 20. oder 23. Mai 1945 vom sowjetischen NKWD festgenommen und starb am 23. Oktober 1945 im Internierungslager Jamlitz.

Pater Augustin Rösch berichtete über die letzte Begegnung mit Guttenberg, nachdem einige Mitgefangene entlassen worden waren: „Wir waren gute, sehr gute Freunde geworden ... und ich fragte ihn: ‚Karl Ludwig, was hältst Du von dieser neuen Lage?’ ‚Ich sehe sie äußerst ernst an. Wir kommen da nicht mehr heraus. Warum sind die anderen fort? Warum sind die Bibelforscher frei? Die anderen aber heute nacht abgeholt worden? Wir allein übrig hier im Gefängnis?’ Ich versuchte ihm und mir Mut zu machen. ‚Ich bin so froh, daß wir heute am Sonntag noch eine so schöne Gemeinschaftsmesse mit hl. Kommunion gehabt haben. Das ist mein einziger Trost.’ Wir sprachen noch von daheim. Es tat uns wohl, aber er blieb sehr ernst.“

Die Gedenktafel nennt jetzt die Namen der drei Mordopfer Albrecht Graf von Bernstorff, Karl Ludwig von und zu Guttenberg und Ernst Schneppenhorst. Sie wurden in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945 aus dem Zellengefängnis in der Lehrter Straße abgeholt. Eberhard Bethge berichtete: „In der Nacht vom 23. zum 24. April gegen 3 Uhr wurde durch ein SS-Kommando eine weitere Gruppe in Stärke von drei Häftlingen abgeholt. Auch fehlt jede Spur.“ Am Abend des 23. April hatte Hans-Detlof von Winterfeld noch gemeinsam mit Graf Bernstorff als Brandwache auf dem Dach des Gefängnisses in der Lehrter Straße gestanden, auch Karl Ludwig von und zu Guttenberg hatte noch zwischen 1 und 2 Uhr an dieser Brandwache teilgenommen. Unmittelbar danach wurden die drei Häftlinge abgeholt. Auch die kürzlich erst wiederentdeckten Tagebücher des Mitgefangenen Friedrich Leon bestätigen dies: „½ 3h werden Bernsdorff Gutenberg + Schweppenhorst unerwartet von 3 Posten des R.S.HA. abgeholt. Uns alle traf das wie eine Lähmung.“

Nach dieser Abholung durch das Mordkommando fehlt jede Spur der drei Männer. Das „Eingangsbuch über Häftlinge“ des Zellengefängnisses Lehrter Straße weist bei allen drei Gefangenen den lapidaren Entlassungsvermerk „23. April 45 Justiz“ auf. Doch dies ist Tarnung, denn diesen Vermerk tragen sowohl die Namen der bereits am 22. April Ermordeten wie auch die Namen der erst am Nachmittag des 25. April 1945 aus der Haft Entlassenen.

Das Vorgehen war dasselbe wie am Abend davor: Die Häftlinge wurden unter dem Vorwand, sie würden verlegt, gemeinsam aufgerufen. Sie erhielten offensichtlich ihre Effekten, wurden aus dem Gefängnis geführt und auf einem der zahllosen Ruinengrundstücke in der Nähe ermordet. Die drei Leichen der in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945 aus der Lehrter Straße abgeholten Häftlinge wurden nie gefunden. Trotz aller Bemühungen wissen wir heute nicht, wo sie unter den tausenden unbekannter Kriegstoter Ende April 1945 in Berlin beerdigt worden sind.

Ihre Mörder wurden nie gefasst; der Hauptverantwortliche für die Mordaktionen, SS-Sturmbannführer und Kriminalrat Kurt Stawizki, lebte unter falschem Namen bis zu seinem Tod 1959 in Bonn, ohne je von der Justiz vernommen worden zu sein. Die Ermittlungsverfahren gegen die Gestapo-Beamten, die die Gefangenen dem Mordkommando auslieferten, wurden ohne jedes Ergebnis eingestellt – aus heutiger Sicht unfassbare Vorgänge.

Jetzt aber gibt es auch für die in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945 Ermordeten einen angemessenen Ort der Erinnerung. Jetzt werden sie auf dem Grab ihrer Mitgefangenen namentlich genannt, jetzt gibt es auch für sie einen Ort der Erinnerung und der Trauer.

Es ist gut, dass Angehörige der Familien von Guttenberg und von Bernstorff nachher diese Gedenktafel der Öffentlichkeit übergeben werden. Ich weiß, dass dieses ein spätes Zeichen ist, aber es ist auch ein bleibendes Zeichen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Dr. von Dohnanyi hat diese Gedenktafel angeregt. Insofern bin ich sehr froh, dass er spontan und ohne jedes Zögern auf die Bitte der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Stiftung 20. Juli 1944 eingegangen ist und sich freundlicherweise bereit erklärt hat, am heutigen Tag hier die Gedenkansprache zu halten.

Insofern darf ich jetzt Sie, lieber Herr von Dohnanyi, bitten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Die Schreibweise der Namen folgt dem Original des Tagebuches.






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21.04.2016
Dr. Klaus von Dohnanyi
Dr. Klaus von Dohnanyi