Die Verantwortung vor dem Gewissen
Richard von Weizsäcker
Die Verantwortung vor dem Gewissen
Gedenkrede des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Dr. Richard von Weizsäcker am 20. Juli 1980 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstrasse, Berlin
Wir gedenken heute der Männer und Frauen, die im Widerstand gegen Hitler ihr Leben eingesetzt und geopfert haben. Wir versammeln uns um ihre Angehörigen und Hinterbliebenen.
Die Älteren unter uns erinnern sich der Vorbilder, die ihnen diese Menschen gewesen sind, und der Freunde, die sie verloren haben. Wir Älteren denken an eine Phase der deutschen Geschichte, die wir mit wachem Bewusstsein miterlebt haben. Sie wurde die prägende Erfahrung in unserem eigenen, damals noch jungen Leben. So klein der Kreis der Verschwörer war, so rasch der Zugriff durch Gestapo und Volksgerichtshof, so walzend die Propagandamühlen der Machthaber, so breit und tief war doch schon damals die Wirkung des 20. Juli. Nach diesem Datum wagte sich Hitler mit keiner freien Rede mehr vor die Deutschen. Im Volksmund entstand der Ausspruch: Hitler lebe nur noch 30 Meter unter der Erde. Der Chef des Sicherheitsdienstes äußerte unter dem Eindruck der Vernehmungsprotokolle: „Der 20. Juli wächst uns über den Kopf. Wir werden der Sache nicht mehr Herr.“ Und so war es auch. Niemand wurde mehr seiner Ziele Herr, die Verschwörer so wenig wie Hitler, die Wehrmacht so wenig wie die Bevölkerung.
Aber für die, die nach dem Kriege neu begannen, um wieder einen Stein auf den anderen zu setzen – im materiellen und im geistigen Sinn –, war dieser Anfang kein Nullpunkt. Sondern es ging ihnen darum, das Bild des Menschen wieder aufzurichten, das Helmuth von Moltke als Ziel gewiesen, und das verantwortliche Leben zu suchen, das Dietrich Bonhoeffer beschrieben und verwirklicht hatte.
Dies war es, was wir 1945 wollten und auch heute vor Augen haben. Aber wie lässt es sich weitergeben, wo wir, die ältere Generation, das Ziel doch so oft selbst verfehlt haben? Und wie lässt es sich an Jüngere vermitteln, wo der weit größere Teil der heute lebenden Deutschen vom 20. Juli 1944 nicht anders geprägt ist als von anderen Daten der Geschichte auch, die sich ereignet hatten, bevor das eigene bewusste Leben begann?
Weitergeben lässt sich an Jüngere, was sie aus ihrer eigenen heutigen Lage heraus verstehen. Verständlich wird etwas nicht schon dadurch, dass die eigene Kraft des Denkens es bewältigt. Vielmehr muss es an selbst gemachte Erfahrungen anknüpfen. Eben das ist die Schwierigkeit. Denn wie kann man überhaupt vermitteln zwischen Zeiten von so fundamentalen Gegensätzen? Zwar wurden damals wie heute dieselben Worte benutzt. Aber sie drückten ganz unterschiedliche Erlebnisse aus.
Damals wie heute gab es Ängste. Aber damals, gegen Ende des Krieges, war es die Angst vor Bombentod oder frühem Witwenschicksal, vor Vertreibung, Heimatverlust oder Gefangenschaft im Osten, vor Denunziation wegen Abhörens fremder Sender, vor Gestapo und Volksgerichtshof; Angst also vor lauter ganz konkreten Gefahren der täglichen Gegenwart.
Heute kennen wir Ängste vor einem ethisch nicht beherrschten Fortschritt der Wissenschaft und Technologie; vor der Zerstörung des Gleichgewichts der Natur; vor den Folgen des Wettrüstens; Angst, dass die gegenwärtigen Verhältnisse nicht stabil bleiben; Angst also vor ungewissen Gefahren einer dunklen Zukunft.
Damals waren Protest und Widerstand lebensgefährlich; aber sie waren klar in ihrem Ziel. – Heute sind Protest und Widerstand völlig ungefährlich. Sie sind als Grundrechte durch die Verfassung geschützt. Der Geist der Zeit lädt ein, sie reichlich zu nutzen. Aber allzu verschwommen sind oft ihre Ziele.
Damals herrschte äußerlich die Unfreiheit. Und doch blieben die Menschen, deren Andenken uns hier versammelt, innerlich frei und ihrer Aufgaben gewiss. – Heute haben wir äußere Freiheit die Fülle. Aber wir leiden oft unter einem inneren Orientierungsmangel. Inmitten der üppigen Existenzbedingungen eines Wohlstandes, eines freien Interessenkampfes der Gruppen und eines Rechtswegestaates herrscht in einem geistlich blinden Gemeinwesen eine Lebensphilosophie der Selbstverwirklichung vor. Gewiss, sie bringt Befreiung von Abhängigkeiten mit sich; aber sie kann keine zulängliche Klarheit liefern, was denn den innerlich freien Menschen ausmacht. Es ist schwerer geworden, zu wissen, wo man im Leben gebraucht wird, wofür der eigene ganze Einsatz lohnt.
Sind diese Unterschiede der Zeiten nicht viel zu groß? Kann es heute jemandem helfen, wenn ihm Erfahrungen vermittelt werden, die uns damals als junge Menschen maßgeblich geprägt haben? Gewiss ist nur, dass auch die heutige Zeit ihre Antworten selbst finden muss. Es gibt keine alten Formeln für die Bewältigung der Gegenwart.
Und dennoch sind es gerade heutige, unter gänzlich veränderten Rahmenbedingungen entstandene Fragen, welche den Zugang zum Vorbild der Menschen neu öffnen, die der Widerstand gegen Hitler damals zusammengeführt hat.
Was ist es denn, was heute junge Menschen beschäftigt? Was suchen sie, zum Beispiel gemessen an ihrer Lektüre?
Auf den Bestseller-Listen der Buchhandlungen standen vor zehn Jahren noch Werke der Theorie obenan, Abhandlungen der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen von der Gesellschaft. Ihre Analyse vom bestehenden Schlechten und ihre Verheißungen des kommenden Guten waren nicht an Geschichte, Überlieferung und persönlichem Vorbild orientiert, sondern an gedanklichen Konstruktionen.
Das hat sich mittlerweile gewandelt. Unlängst fand sich auf dem vordersten Platz der Taschenbücher das Tagebuch der Anne Frank. Junge Menschen suchen heute nicht doktrinäre Traktate, sondern Antworten auf Fragen seelischer Art: „Haben oder Sein“ gehört zu den meistgelesenen Werken. Nicht abstrakte Theorie, sondern der ergreifende Bericht über den Widerstand Münchner Studenten in der „Weißen Rose“ findet den Weg zum Herzen des Lesers.
Das alles bedeutet noch kein eindeutiges, konzentriertes Lebensziel. Aber es zeigt eine Richtung an. In einer Zeitepoche, die allzu lang das Materielle überbetont hat, bricht sich das Ideelle und allgemein Menschliche auf neue Weise eine Bahn.
Damit gewinnen auch Beispiele aus der eigenen Geschichte aufs Neue ihre Bedeutung, wenngleich ganz anders als in unserem früheren Geschichtsunterricht. Es geht weniger um einen einsehbaren Ablauf historischer Ursachen und Wirkungen, um Allianzen, Kriege und Friedensschlüsse, um Machtkämpfe und das rationale politische Kalkül. Vielmehr sind es die geistigen Strömungen und ihre menschlichen Schicksale, die inneren Werte und die Charakterbilder, die als Geschichte weiterwirken.
Wir erleben dies heute auf mannigfache Weise im Westen und Osten Deutschlands. Da gibt es zum Beispiel eine Neubelebung von geistigen Epochen und Persönlichkeiten der Geschichte im anderen deutschen Teilstaat. Zwar dient dies im offiziellen Auftrag einer Gegenwartsideologie. Die geschichtlichen Vorbilder für eine progressive Nation in der DDR sollen ermittelt werden gegen die reaktionären Ahnherren einer anderen deutschen Teilnation. Manche bei uns sind beunruhigt, da sie fürchten, dass ihnen auf diesem Weg jetzt zum Beispiel Martin Luther aus Anlass seines 500. Geburtstages entfremdet werden könnte. Aber diese Sorgen sind unbegründet. Ein Wettbewerb um den fortdauernden Wert geistiger Strömungen und Persönlichkeiten der Geschichte kann nur die Einsicht in das Wesentliche und damit Gegenwärtige vertiefen.
Wer sich intensiv mit Luther befasst, wird nicht bei dem kirchenpolitischen Geschichtsablauf hängen bleiben. Ebenso wenig wird er in Luther einen Revolutionär entdecken können. Aber er wird auf Luthers zentrale und auch heute gültige Grundfrage stoßen, auf die Frage nach dem gnädigen Gott.
Wer sich mit dem napoleonischen Zeitalter und den Befreiungskriegen auseinander setzt, der wird sich auf die Dauer nicht an der Vorsicht und Weitsicht des klugen Politikers Hardenberg orientieren, sondern an der elementaren Stimmung eines neuen Aufbruchs des ganzen Volkes.
Wer heute ein Bild von Preußen gewinnen will, wird tiefer eindringen mit den Dramengestalten Kleists und den Romanhelden Fontanes als mit einer Geschichte der Könige und Kanzler.
Vergleichbares gilt auch für den 20. Juli 1944. Was fortwirkt, sind nicht historische Zusammenhänge oder politische Berechnungen bei den Verschworenen, sondern ihr Charakter, ihr Gewissen und ihre Tat.
Als das Attentat am 20. Juli 1944 ausgeführt wurde, war die politische und militärische Lage Deutschlands hoffnungslos. Wenige Wochen zuvor war der mittlere Abschnitt der deutschen Ostfront zusammengebrochen. Nur noch 100 Kilometer vom Hauptquartier Hitlers in Ostpreußen entfernt befanden sich die Spitzen der russischen Armee. In Frankreich war die Invasion der westlichen Alliierten schon so erfolgreich, dass Rommel fünf Tage vor dem Affentat Hitler nahezu ultimativ aufforderte, die Front bis in die Nähe der deutschen Grenze zurückzunehmen. Die Alliierten waren sich darüber einig, mit größter Materialüberlegenheit weiterzukämpfen bis zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs. Keine wie immer geartete deutsche Regierung sollte sich Hoffnungen machen dürfen, von außen unterstützt zu werden, oder auch nur mit erträglicheren Bedingungen den Krieg beenden zu können, als Hitler sie zu erwarten hatte.
In dieser Lage gedieh der einzige von mehreren konkreten Plänen und Versuchen des Widerstandes zum öffentlichen, nicht mehr unterdrückbaren und bis zum Kriegsende verfolgten handgreiflichen Attentat.
Claus Stauffenberg und seine Freunde kannten die vielen Bedenken. Es gab für den Staatsstreich keinen günstigen Zeitpunkt mehr. Es fehlten berechenbare Aussichten sowohl für den Erfolg des Anschlages selbst als auch für eine ausreichende Ordnung danach. Auch waren tiefere Zweifel empfunden worden. Musste sich das Böse nicht selbst widerlegen, anstatt gewaltsam beseitigt zu werden, damit danach ein neuer Anfang gemacht werden könne? Würde etwas anderes als die unbeschönigte totale Niederlage im Stande sein, uns alle aus der mehr oder minder bewussten Selbstbelügung moralisch zu befreien?
Das alles war bedacht worden. Und dennoch entschlossen sich die Verschwörer, den Wurf zu wagen. Wichtiger als alle Bedenken war es ihnen, unter Einsatz des Lebens ein Zeichen aufzurichten. Sie wollten nicht länger fatalistisch zusehen, auf dass das Unrecht und Unglück bis zur Neige ausgekostet werde. Sie wussten, dass jeder neue Tag immer mehr unschuldige Leben forderte. Es galt, der ständig fortschreitenden Zerstörung der menschlichen Substanz Einhalt zu gebieten. So setzten einige Menschen ihr Leben dafür ein, um das Böse zu bekämpfen, welches so vielen Mitmenschen unaufhörlich widerfuhr.
Schon 1942 hatte Dietrich Bonhoeffer in seinem Fragment über das verantwortliche Leben die Maßstäbe genannt, die nun die Attentäter kennzeichneten:
Sie ließen das Warten, Analysieren oder Träumen hinter sich und stellten sich nüchtern der Wirklichkeit.
In Freiheit entschieden sie sich: nicht zum bloßen Denken, zum klugen Wissen, warum das Verhängnis seinen ganzen Lauf nehmen müsse, sondern zum eigenen Handeln mit allen Folgen.
Sie handelten stellvertretend; sie traten ein für andere, deren Zuständigkeit es gewesen wäre, einzugreifen.
Sie nahmen damit Schuld auf sich, Schuld für alle Versäumnisse der Vergangenheit, in die man verflochten ist, und ohne den Versuch, sich für die eigene Tat selbst zu rechtfertigen.
Sie handelten in Verantwortung vor ihrem Gewissen, vor Gott.
Aus allen Landschaften waren sie zusammengekommen, aus allen Schichten der Bevölkerung, aus allen Traditionen. Es hatte tiefe politische Gräben unter ihnen gegeben. Aber sie hatten erkannt, wie unwichtig dies gegenüber ihren gemeinsamen und nun lebensgefährlich bedrohten Überzeugungen der Humanität geworden war.
Sie hatten die Kraft, zu sehen. Sie hatten den leidenden Menschen erkannt. Das gab ihnen den Willen zur Veränderung und die Kraft zum Handeln. Weil sie bereit waren, bewusst und verantwortlich zu leben, waren sie bereit, ihr Leben einzusetzen.
Wir leben heute in einer anderen Zeit. Die Herausforderungen, vor die sie uns stellt, sind weniger handgreiflich und extrem. Die Probleme und Aufgaben sind schwerer zu erkennen. Aber die Anforderungen an ein verantwortliches Leben gelten auch heute wie damals.
So viele Menschen fragen heute wieder nach dem Sinn und Ziel für ihr Leben. Kein anderes Beispiel deutscher Geschichte dieses Jahrhunderts wie der 20. Juli 1944 bietet uns dafür die Maßstäbe. Die Menschen, an die wir uns heute erinnern, sie können das uns mit ihren Gedanken und Zeugnissen, mit ihrem Leben und Tod helfen, uns selbst zu finden. Ihr Leben und ihre Liebe spricht über ihren Tod hinaus. „Jeden Tag zu nehmen, als wäre er der letzte, und doch im Glauben und der Verantwortung einer großen Zukunft“, wie Bonhoeffer sagt, das ist ihr Vorbild für uns Heutige, für die Alten und die Jungen.
Die Verantwortung vor dem Gewissen
Gedenkrede des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Dr. Richard von Weizsäcker am 20. Juli 1980 im Ehrenhof der Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstrasse, Berlin
Wir gedenken heute der Männer und Frauen, die im Widerstand gegen Hitler ihr Leben eingesetzt und geopfert haben. Wir versammeln uns um ihre Angehörigen und Hinterbliebenen.
Die Älteren unter uns erinnern sich der Vorbilder, die ihnen diese Menschen gewesen sind, und der Freunde, die sie verloren haben. Wir Älteren denken an eine Phase der deutschen Geschichte, die wir mit wachem Bewusstsein miterlebt haben. Sie wurde die prägende Erfahrung in unserem eigenen, damals noch jungen Leben. So klein der Kreis der Verschwörer war, so rasch der Zugriff durch Gestapo und Volksgerichtshof, so walzend die Propagandamühlen der Machthaber, so breit und tief war doch schon damals die Wirkung des 20. Juli. Nach diesem Datum wagte sich Hitler mit keiner freien Rede mehr vor die Deutschen. Im Volksmund entstand der Ausspruch: Hitler lebe nur noch 30 Meter unter der Erde. Der Chef des Sicherheitsdienstes äußerte unter dem Eindruck der Vernehmungsprotokolle: „Der 20. Juli wächst uns über den Kopf. Wir werden der Sache nicht mehr Herr.“ Und so war es auch. Niemand wurde mehr seiner Ziele Herr, die Verschwörer so wenig wie Hitler, die Wehrmacht so wenig wie die Bevölkerung.
Aber für die, die nach dem Kriege neu begannen, um wieder einen Stein auf den anderen zu setzen – im materiellen und im geistigen Sinn –, war dieser Anfang kein Nullpunkt. Sondern es ging ihnen darum, das Bild des Menschen wieder aufzurichten, das Helmuth von Moltke als Ziel gewiesen, und das verantwortliche Leben zu suchen, das Dietrich Bonhoeffer beschrieben und verwirklicht hatte.
Dies war es, was wir 1945 wollten und auch heute vor Augen haben. Aber wie lässt es sich weitergeben, wo wir, die ältere Generation, das Ziel doch so oft selbst verfehlt haben? Und wie lässt es sich an Jüngere vermitteln, wo der weit größere Teil der heute lebenden Deutschen vom 20. Juli 1944 nicht anders geprägt ist als von anderen Daten der Geschichte auch, die sich ereignet hatten, bevor das eigene bewusste Leben begann?
Weitergeben lässt sich an Jüngere, was sie aus ihrer eigenen heutigen Lage heraus verstehen. Verständlich wird etwas nicht schon dadurch, dass die eigene Kraft des Denkens es bewältigt. Vielmehr muss es an selbst gemachte Erfahrungen anknüpfen. Eben das ist die Schwierigkeit. Denn wie kann man überhaupt vermitteln zwischen Zeiten von so fundamentalen Gegensätzen? Zwar wurden damals wie heute dieselben Worte benutzt. Aber sie drückten ganz unterschiedliche Erlebnisse aus.
Damals wie heute gab es Ängste. Aber damals, gegen Ende des Krieges, war es die Angst vor Bombentod oder frühem Witwenschicksal, vor Vertreibung, Heimatverlust oder Gefangenschaft im Osten, vor Denunziation wegen Abhörens fremder Sender, vor Gestapo und Volksgerichtshof; Angst also vor lauter ganz konkreten Gefahren der täglichen Gegenwart.
Heute kennen wir Ängste vor einem ethisch nicht beherrschten Fortschritt der Wissenschaft und Technologie; vor der Zerstörung des Gleichgewichts der Natur; vor den Folgen des Wettrüstens; Angst, dass die gegenwärtigen Verhältnisse nicht stabil bleiben; Angst also vor ungewissen Gefahren einer dunklen Zukunft.
Damals waren Protest und Widerstand lebensgefährlich; aber sie waren klar in ihrem Ziel. – Heute sind Protest und Widerstand völlig ungefährlich. Sie sind als Grundrechte durch die Verfassung geschützt. Der Geist der Zeit lädt ein, sie reichlich zu nutzen. Aber allzu verschwommen sind oft ihre Ziele.
Damals herrschte äußerlich die Unfreiheit. Und doch blieben die Menschen, deren Andenken uns hier versammelt, innerlich frei und ihrer Aufgaben gewiss. – Heute haben wir äußere Freiheit die Fülle. Aber wir leiden oft unter einem inneren Orientierungsmangel. Inmitten der üppigen Existenzbedingungen eines Wohlstandes, eines freien Interessenkampfes der Gruppen und eines Rechtswegestaates herrscht in einem geistlich blinden Gemeinwesen eine Lebensphilosophie der Selbstverwirklichung vor. Gewiss, sie bringt Befreiung von Abhängigkeiten mit sich; aber sie kann keine zulängliche Klarheit liefern, was denn den innerlich freien Menschen ausmacht. Es ist schwerer geworden, zu wissen, wo man im Leben gebraucht wird, wofür der eigene ganze Einsatz lohnt.
Sind diese Unterschiede der Zeiten nicht viel zu groß? Kann es heute jemandem helfen, wenn ihm Erfahrungen vermittelt werden, die uns damals als junge Menschen maßgeblich geprägt haben? Gewiss ist nur, dass auch die heutige Zeit ihre Antworten selbst finden muss. Es gibt keine alten Formeln für die Bewältigung der Gegenwart.
Und dennoch sind es gerade heutige, unter gänzlich veränderten Rahmenbedingungen entstandene Fragen, welche den Zugang zum Vorbild der Menschen neu öffnen, die der Widerstand gegen Hitler damals zusammengeführt hat.
Was ist es denn, was heute junge Menschen beschäftigt? Was suchen sie, zum Beispiel gemessen an ihrer Lektüre?
Auf den Bestseller-Listen der Buchhandlungen standen vor zehn Jahren noch Werke der Theorie obenan, Abhandlungen der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen von der Gesellschaft. Ihre Analyse vom bestehenden Schlechten und ihre Verheißungen des kommenden Guten waren nicht an Geschichte, Überlieferung und persönlichem Vorbild orientiert, sondern an gedanklichen Konstruktionen.
Das hat sich mittlerweile gewandelt. Unlängst fand sich auf dem vordersten Platz der Taschenbücher das Tagebuch der Anne Frank. Junge Menschen suchen heute nicht doktrinäre Traktate, sondern Antworten auf Fragen seelischer Art: „Haben oder Sein“ gehört zu den meistgelesenen Werken. Nicht abstrakte Theorie, sondern der ergreifende Bericht über den Widerstand Münchner Studenten in der „Weißen Rose“ findet den Weg zum Herzen des Lesers.
Das alles bedeutet noch kein eindeutiges, konzentriertes Lebensziel. Aber es zeigt eine Richtung an. In einer Zeitepoche, die allzu lang das Materielle überbetont hat, bricht sich das Ideelle und allgemein Menschliche auf neue Weise eine Bahn.
Damit gewinnen auch Beispiele aus der eigenen Geschichte aufs Neue ihre Bedeutung, wenngleich ganz anders als in unserem früheren Geschichtsunterricht. Es geht weniger um einen einsehbaren Ablauf historischer Ursachen und Wirkungen, um Allianzen, Kriege und Friedensschlüsse, um Machtkämpfe und das rationale politische Kalkül. Vielmehr sind es die geistigen Strömungen und ihre menschlichen Schicksale, die inneren Werte und die Charakterbilder, die als Geschichte weiterwirken.
Wir erleben dies heute auf mannigfache Weise im Westen und Osten Deutschlands. Da gibt es zum Beispiel eine Neubelebung von geistigen Epochen und Persönlichkeiten der Geschichte im anderen deutschen Teilstaat. Zwar dient dies im offiziellen Auftrag einer Gegenwartsideologie. Die geschichtlichen Vorbilder für eine progressive Nation in der DDR sollen ermittelt werden gegen die reaktionären Ahnherren einer anderen deutschen Teilnation. Manche bei uns sind beunruhigt, da sie fürchten, dass ihnen auf diesem Weg jetzt zum Beispiel Martin Luther aus Anlass seines 500. Geburtstages entfremdet werden könnte. Aber diese Sorgen sind unbegründet. Ein Wettbewerb um den fortdauernden Wert geistiger Strömungen und Persönlichkeiten der Geschichte kann nur die Einsicht in das Wesentliche und damit Gegenwärtige vertiefen.
Wer sich intensiv mit Luther befasst, wird nicht bei dem kirchenpolitischen Geschichtsablauf hängen bleiben. Ebenso wenig wird er in Luther einen Revolutionär entdecken können. Aber er wird auf Luthers zentrale und auch heute gültige Grundfrage stoßen, auf die Frage nach dem gnädigen Gott.
Wer sich mit dem napoleonischen Zeitalter und den Befreiungskriegen auseinander setzt, der wird sich auf die Dauer nicht an der Vorsicht und Weitsicht des klugen Politikers Hardenberg orientieren, sondern an der elementaren Stimmung eines neuen Aufbruchs des ganzen Volkes.
Wer heute ein Bild von Preußen gewinnen will, wird tiefer eindringen mit den Dramengestalten Kleists und den Romanhelden Fontanes als mit einer Geschichte der Könige und Kanzler.
Vergleichbares gilt auch für den 20. Juli 1944. Was fortwirkt, sind nicht historische Zusammenhänge oder politische Berechnungen bei den Verschworenen, sondern ihr Charakter, ihr Gewissen und ihre Tat.
Als das Attentat am 20. Juli 1944 ausgeführt wurde, war die politische und militärische Lage Deutschlands hoffnungslos. Wenige Wochen zuvor war der mittlere Abschnitt der deutschen Ostfront zusammengebrochen. Nur noch 100 Kilometer vom Hauptquartier Hitlers in Ostpreußen entfernt befanden sich die Spitzen der russischen Armee. In Frankreich war die Invasion der westlichen Alliierten schon so erfolgreich, dass Rommel fünf Tage vor dem Affentat Hitler nahezu ultimativ aufforderte, die Front bis in die Nähe der deutschen Grenze zurückzunehmen. Die Alliierten waren sich darüber einig, mit größter Materialüberlegenheit weiterzukämpfen bis zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs. Keine wie immer geartete deutsche Regierung sollte sich Hoffnungen machen dürfen, von außen unterstützt zu werden, oder auch nur mit erträglicheren Bedingungen den Krieg beenden zu können, als Hitler sie zu erwarten hatte.
In dieser Lage gedieh der einzige von mehreren konkreten Plänen und Versuchen des Widerstandes zum öffentlichen, nicht mehr unterdrückbaren und bis zum Kriegsende verfolgten handgreiflichen Attentat.
Claus Stauffenberg und seine Freunde kannten die vielen Bedenken. Es gab für den Staatsstreich keinen günstigen Zeitpunkt mehr. Es fehlten berechenbare Aussichten sowohl für den Erfolg des Anschlages selbst als auch für eine ausreichende Ordnung danach. Auch waren tiefere Zweifel empfunden worden. Musste sich das Böse nicht selbst widerlegen, anstatt gewaltsam beseitigt zu werden, damit danach ein neuer Anfang gemacht werden könne? Würde etwas anderes als die unbeschönigte totale Niederlage im Stande sein, uns alle aus der mehr oder minder bewussten Selbstbelügung moralisch zu befreien?
Das alles war bedacht worden. Und dennoch entschlossen sich die Verschwörer, den Wurf zu wagen. Wichtiger als alle Bedenken war es ihnen, unter Einsatz des Lebens ein Zeichen aufzurichten. Sie wollten nicht länger fatalistisch zusehen, auf dass das Unrecht und Unglück bis zur Neige ausgekostet werde. Sie wussten, dass jeder neue Tag immer mehr unschuldige Leben forderte. Es galt, der ständig fortschreitenden Zerstörung der menschlichen Substanz Einhalt zu gebieten. So setzten einige Menschen ihr Leben dafür ein, um das Böse zu bekämpfen, welches so vielen Mitmenschen unaufhörlich widerfuhr.
Schon 1942 hatte Dietrich Bonhoeffer in seinem Fragment über das verantwortliche Leben die Maßstäbe genannt, die nun die Attentäter kennzeichneten:
Sie ließen das Warten, Analysieren oder Träumen hinter sich und stellten sich nüchtern der Wirklichkeit.
In Freiheit entschieden sie sich: nicht zum bloßen Denken, zum klugen Wissen, warum das Verhängnis seinen ganzen Lauf nehmen müsse, sondern zum eigenen Handeln mit allen Folgen.
Sie handelten stellvertretend; sie traten ein für andere, deren Zuständigkeit es gewesen wäre, einzugreifen.
Sie nahmen damit Schuld auf sich, Schuld für alle Versäumnisse der Vergangenheit, in die man verflochten ist, und ohne den Versuch, sich für die eigene Tat selbst zu rechtfertigen.
Sie handelten in Verantwortung vor ihrem Gewissen, vor Gott.
Aus allen Landschaften waren sie zusammengekommen, aus allen Schichten der Bevölkerung, aus allen Traditionen. Es hatte tiefe politische Gräben unter ihnen gegeben. Aber sie hatten erkannt, wie unwichtig dies gegenüber ihren gemeinsamen und nun lebensgefährlich bedrohten Überzeugungen der Humanität geworden war.
Sie hatten die Kraft, zu sehen. Sie hatten den leidenden Menschen erkannt. Das gab ihnen den Willen zur Veränderung und die Kraft zum Handeln. Weil sie bereit waren, bewusst und verantwortlich zu leben, waren sie bereit, ihr Leben einzusetzen.
Wir leben heute in einer anderen Zeit. Die Herausforderungen, vor die sie uns stellt, sind weniger handgreiflich und extrem. Die Probleme und Aufgaben sind schwerer zu erkennen. Aber die Anforderungen an ein verantwortliches Leben gelten auch heute wie damals.
So viele Menschen fragen heute wieder nach dem Sinn und Ziel für ihr Leben. Kein anderes Beispiel deutscher Geschichte dieses Jahrhunderts wie der 20. Juli 1944 bietet uns dafür die Maßstäbe. Die Menschen, an die wir uns heute erinnern, sie können das uns mit ihren Gedanken und Zeugnissen, mit ihrem Leben und Tod helfen, uns selbst zu finden. Ihr Leben und ihre Liebe spricht über ihren Tod hinaus. „Jeden Tag zu nehmen, als wäre er der letzte, und doch im Glauben und der Verantwortung einer großen Zukunft“, wie Bonhoeffer sagt, das ist ihr Vorbild für uns Heutige, für die Alten und die Jungen.