"Doch Gott hat es gelitten, wer weiß, was er gewollt?"

Hanns Lilje

„Doch Gott hat es gelitten, wer weiß, was er gewollt?“

Predigt von Bischof i.R. Dr. Hanns Lilje am 20. Juli 1973 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Psalm 73, 16-17

„Ich dachte ihm nach, dass ich's begreifen möchte

aber es war mir zu schwer,

bis dass ich ging in das Heiligtum Gottes.“

Jahr für Jahr haben wir uns an dieser Stätte versammelt, um derer zu gedenken, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli das Opfer ihres Lebens gebracht haben. Mit diesem Opfer haben sie die Lauterkeit ihres Wollens besiegelt, und es ist uns, die wir diesen Männern verbunden waren, eine Selbstverständlichkeit, das Andenken an sie Jahr um Jahr zu erneuern. Es ist mit den Gesetzen des geistigen Lebens unmittelbar verbunden, dass der Schmerz über das, was ihnen widerfahren ist, nicht nachlässt. Er verwandelt sich, er wird gleichsam reifer mit den Jahren und darum auch tiefer, er wächst mit uns, und das gibt uns Recht und Pflicht, dieses Gedenken immer neu zu vertiefen und zu veredeln.

Aber so oft wir im Verlauf der Jahre uns den plötzlichen Tod dieser tapferen und edlen Männer deutlich zu machen versucht haben, ist es doch dabei geblieben, dass wir auch ihr hartes Schicksal uns nicht zu erklären vermochten. Die Fragen sind vielleicht nicht mit derselben Wucht, aber im Grunde doch mit derselben Intensität wach geblieben. Warum haben sie dieses tragische Schicksal erlitten, dass ihr Versuch fehl schlug, mit dem sie doch Deutschland aus einer immer unmöglicher gewordenen Situation befreien wollten? Warum waren diese Männer, die ihre Tapferkeit mehrfach schon vorher unter Beweis gestellt hatten, und von deren Mut und Begabung wir viel erwartet hatten für die Zeit des Wiederaufbaus, so früh von uns genommen und an ihrem letzten Einsatz gehindert worden?

Für uns, die Zurückgebliebenen, die wir ihnen nachblicken, gilt der Satz aus diesem Psalm wörtlich: „Ich dachte ihm nach, dass ich's begreifen möchte; aber es war mir zu schwer.“ Es hat keinen Sinn, sich der Tatsache zu verschließen, dass wir auf ihr Schicksal und die Fragen, die damit verbunden sind, keine Antwort wissen, die glatt rational aufgeht. Wir haben es schon damals nicht begreifen können, es war uns zu schwer. Das alles gilt von jener fluchbeladenen Zeit im Ganzen. Wir sind an einem Ort versammelt, der die Zeichen der Tyrannenherrschaft trägt: die Haken, die von der Decke hängen und an denen viele von den Opfern gehängt wurden.

Diese Umgebung ist ein Symbol dafür, dass wir überhaupt den Sinn in jener grauenvollen Tyrannenherrschaft auch nachträglich schlechterdings nicht begreifen können. Man könnte mit einem alten Lied aus der Zeit der Freiheitskämpfe sagen: „Doch Gott hat es gelitten, wer weiß, was er gewollt?“ Nur wer die Tiefe dieses dunklen Rätsels durchschritten hat, ist geeignet für die Peripetie, für die große Wendung in unserem Text: „Bis dass ich ging in das Heiligtum Gottes!“ Das heißt: Mit diesen ungelösten und unlösbar erscheinenden Fragen bin ich in das Heiligtum Gottes gegangen, sagt der Psalmist. Das Heiligtum – das war damals der Tempel. Wenn wir aber das Wort in seiner zeitlosen Gültigkeit betrachten, dann heißt es noch einfacher und noch majestätischer: „bis dass ich ging in die Nähe Gottes.“ Vor Gottes Angesicht kann klar und zugänglich werden, was sonst wie eine drückende, ungelöste Last vor unserm Auge stehen bleibt. Wir wissen keine Antwort; Gott weiß sie. Er weiß allein, warum er diese jungen, kräftigen, begabten und mutigen Männer vorzeitig aus dem Leben abgerufen hat. Wir wollen miteinander an diesem Tage nichts anderes tun, als den Schmerz, der noch immer virulent ist, zu Gottes Füßen niederlegen, damit wir zur Ruhe und zur Klarheit gelangen.

Es ist ein schöner, symbolkräftiger Tatbestand, dass wir an diesem Abend unsern Gottesdienst mit der Feier des Altarsakraments abschließen. Denn in der Gestalt Jesu Christi, des leidenden Herrn, der sein Leben für viele dahingegeben hat – so sagt er selbst – so ist auch in dem, der um Gottes willen leidet, der unser Leiden auf sich nimmt und aus dessen Leiden wir Vergebung und Frieden empfangen, die letztgültige Antwort auf unsere sonst ungelösten Fragen.

Wenn wir nun nachher zum Tisch des Herrn treten, Seinen Leib und Sein Blut zu empfangen, dann werden wir der Gabe seines Opfers teilhaftig. Indem uns die Gabe des Sakraments persönlich zugehandelt wird, werden wir seiner Barmherzigkeit gewiss gemacht und sein Friede wird in uns versiegelt. Und über allen tiefen Schmerz hinweg können wir in der Gewissheit dieses Friedens und Segens weiterleben für die Zeit, die uns noch zuteil wird.






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