Ein Licht in dunkelster Nacht

Wolfgang Thierse

Ein Licht in dunkelster Nacht

Gedenkrede des Präsidenten des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse am 20. Juli 2000 im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin

Wir gedenken heute der Männer und Frauen des 20. Juli wie aller Frauen und Männer des Widerstandes gegen die menschenverachtende Diktatur des Nationalsozialismus. Seit 1952 wird diese Gedenkveranstaltung begangen - fast 40 Jahre lang nur in der alten Bundesrepublik Deutschland, erst seit 1990 gemeinsam in den westlichen und den östlichen Bundesländern.

10 Jahre nach der Vollendung der deutschen Einheit stehen wir vor der Frage, was wir Deutschen in Ost und West vom 20. Juli mitnehmen in das neue Jahrhundert. Was gilt es zu bewahren und in eigenes Handeln umzusetzen? Was können wir folgern aus jenen gegensätzlichen Deutungstraditionen, die der Widerstand gegen Hitler in den Jahrzehnten der Teilung erfahren hat?

Gustav Heinemann hat vor Jahrzehnten zum 20. Juli an ein Wort des französischen Philosophen Jean Jaures erinnert: „Tradition bedeutet nicht, Asche zu verwahren, sondern eine Flamme am brennen zu erhalten.“

Die Asche der ermordeten Männer und Frauen des 20. Juli wurde von den hasserfüllten Nationalsozialisten in alle Winde verstreut. Wie aber gelingt es, im neuen Jahrhundert jene Flamme am brennen zu erhalten, von der Gustav Heinemann gesprochen hat?

Nun, zunächst dadurch, dass wir uns der Tat des 20. Juli erinnern und ihre Motive - und daran, wofür sie von den einen wie den anderen in Ost und West in Anspruch genommen oder ignoriert worden ist. Ideologisch motivierte Vereinnahmungsversuche hat es - als Ausdruck des deutsch-deutschen Systemkonflikts - schließlich auf beiden Seiten gegeben.

Allerdings wurde in den ersten Jahren nach 1945 auch im Osten Deutschlands der 20. Juli 1944 ganz selbstverständlich zum antifaschistischen Widerstand gerechnet. Dies änderte sich nach Gründung der DDR. Von nun an galt ausschließlich der von der Arbeiterschaft getragene kommunistische Widerstand als Kampf gegen die Hitler-Diktatur. Wenn vom 20. Juli die Rede war, dann meist von den sog. „Junkern, Militaristen und Reaktionären“, die das Attentat durchführten, weil sie als unverbesserliche Kapitalisten und Imperialisten um eigene Pfründe bangten.

Diese Umdeutung der geschichtlichen Fakten spiegelt jene Erfahrung, die nicht wenige ältere Ostdeutsche gemacht haben: aus dem ursprünglich ehrlichen, ernst gemeinten Antifaschismus wurde eine ideologisches Herrschaftsinstrument zur Machtsicherung der SED. Die DDR als Staat gewordene Fortführung des Kampfes gegen den Faschismus und als Siegerin der Geschichte - trotz einiger Korrekturen zur Wertung des 20. Juli in der DDR-Geschichtsschreibung der achtziger Jahre war dies die offizielle Haltung, so lange es die DDR gab.

Diese einseitige Sicht kann man, muss man kritisieren - ohne dabei allerdings im Westen allzu sehr in Selbstgerechtigkeit zu verfallen. Hier haben die Vertreter konservativer Geschichtsschreibung und Politik den 20. Juli lange Zeit ebenfalls recht einseitig interpretiert. Graf Schenk von Stauffenberg und seine Verbündeten wurden - ausdrücklich und ausschließlich - zu Repräsentanten des anderen, besseren Deutschlands erklärt. Sie - und nur sie - hätten gegen den größenwahnsinnigen Diktatur Hitler die Ideale von Rechtsstaat, Freiheit und Menschenwürde verteidigen wollen. Diese Auffassung ist in zweifacher Hinsicht zu undifferenziert.

Zum einen wurde geflissentlich übersehen, dass die politischen Vorstellungen verschiedener Mitglieder des 20. Juli mit unserem Verständnis von Rechtsstaat oder parlamentarischer Demokratie wenig zu tun haben. Wie sich z.B. manche - nicht alle - die Lösung der so bezeichneten „Judenfrage“ vorstellten - ich denke nur an Überlegungen zur Ausbürgerung der deutschen Juden und ihre Ansiedlung in einem Judenstaat in Kanada oder Südamerika - kann und sollte nicht ausgeblendet werden. Die Verdienste der Männer und Frauen des 20. Juli bedürfen, keines Verschweigens solch fragwürdiger Aspekte. Ebenso wenig darf freilich die Tatsache erwähnt bleiben, dass viele von ihnen sich nachweislich für die Rettung bedrohter Juden eingesetzt haben. Eine umfassende Würdigung des 20. Juli kann durch Ehrlichkeit gegenüber allen geschichtlichen Fakten nur gewinnen.

Zum anderen war im Westen Deutschlands lange Zeit eine Fixierung des Widerstandsbegriffs auf den 20. Juli 1944 zu registrieren. Der Widerstand gegen Hitler begann jedoch, wie Willy Brandt es formuliert hat, keineswegs erst mit dem 20. Juli 1944. Deshalb gilt es, uns die Gesamtheit und Kontinuität dieses Widerstandes vor Augen zu führen. Widerstand gegen Hitler - das waren Offiziere und Adelige ebenso wie Vertreter der Kirchen und der Gewerkschaften, das waren Sozialdemokraten, Liberale, Konservative und Kommunisten - und diese Aufzählung kann keinesfalls Vollständigkeit beanspruchen. Die einzig mögliche Soziologie der Frauen und Männer des deutschen Widerstands gegen Hitler hat Roman Herzog formuliert:

„Sie kamen aus allen Schichten unseres Volkes, aus allen politischen Lagern und aus allen weltanschaulichen Gruppierungen, aus allen Altersschichten und so sind sie, so gering sie der Zahl nach waren, doch wenigstens ihrer Herkunft nach für ihr Volk repräsentativ gewesen.“

Widerstand gegen Hitler leistete der „Kreisauer Kreis“ ebenso wie die „Weiße Rose“, das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ und der „Bund Deutscher Offiziere“, der einsame Attentäter Georg Elser wie der Kardinal von Galen und Dietrich Bonhoeffer, Julius Leber wie Fritz Jacob wie auch die Mitglieder der „Roten Kapelle“. Widerstand gegen Hitler - das war der Aufstand im Warschauer Ghetto ebenso wie der Kampf gegen den Diktator durch jene, die sich ausländischen Widerstandsbewegungen angeschlossen haben. In jüngster Zeit ist endlich auch die Bedeutung des Exils stärker in den Blick gerückt.

Widerstand - so hat uns die neuere Alltags-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte deutlich gemacht - umfasst eine große Spannweite menschlichen Handelns. Er beginnt nicht erst mit Bombenattentaten gegen inhumane Diktatoren, sondern setzt bereits mit kleinen Gesten der Verweigerung ein. Ein heimlich zugestecktes Stück Brot für eine Zwangsarbeiterin, die Nichtbeachtung propagandistischer Anordnungen im Schulunterricht, der Widerspruch von Nachbarn, der den Abtransport eines geistig Behinderten durch die SS vereitelt - das alles gehört in den Zusammenhang des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Natürlich darf der Unterschied zwischen passivem Verweigern und aktivem Widersetzen bis hin zum Versuch eines Staatsstreichs nicht aus dem Blick geraten. Wenn jedoch nur der 20. Juli gewürdigt und andere Widerstandsformen ignoriert werden, verschwimmt die Bedeutung, die dem alltäglichen Widerstand - übrigens auch dem gegen aktuelle Gefährdungen unserer Demokratie - zukommt.

Ein umfassender Begriff von Widerstand ist eine wichtige Konsequenz aus dem Rückblick auf mehr als ein halbes Jahrhundert Gedenken an den 20. Juli 1944. Um nicht nur Asche zu verwahren, sondern die Flamme am Leben zu erhalten, gilt es jedoch vor allem, die richtigen Lehren zu ziehen - und sie in unser Handeln umzusetzen. Dazu reicht bloßes Erinnern nicht aus. Erinnerung kann historisches Geschehen ins Gedächtnis rufen. Erst Gedenken lässt Empathie entstehen.

Einfühlung in die Situation der handelnden Menschen ist der Schlüssel für ein umfassenden, gegenwartsbezogenes Gedenken. Gerade weil immer weniger unter uns sind, die aus jener Zeit authentisch berichten können, brauchen wir neue Formen der Vermittlung, um insbesondere die jüngeren Generationen zu erreichen. Ob es die Beschäftigung mit Filmen oder Theaterstücken über den deutschen Widerstand ist, die Auseinandersetzung mit Tagebüchern und Biographien, Projektarbeit oder Gedenkstättenbesuche - hier eröffnet sich für Schule, Universität, politische Bildungsarbeit und übrigens auch für gemeinsame Lektüre und Diskussion in der Familie ein weites und immer wichtigeres Feld.

Gedenken darf vor allem nicht abstrakt bleiben. Es muss konkretisiert, individualisiert, mit Einfühlung und Erfahrung erfüllt werden. Hierfür ist die Beschäftigung mit dem Handeln wie den Motiven der einzelnen Männer und Frauen des Widerstandes unverzichtbar. Nur wenn wir uns ihr Leben und Handeln in der konkreten Bedrohungssituation des NS-Staates vor Augen führen, können wir ermessen, wie viel sie riskiert und wofür sie ihr Leben geopfert haben. Und nur diese, durch Empathie vermittelte Einsicht befähigt dazu, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Ich greife nur Beispiel, einen Menschen heraus. Kurz vor dem Kriegsende, am 23.4.1945, wurden hier in Berlin aus dem Gefängnis in der Lehrter Straße 14 Mitglieder des Widerstandes von der SS aus den Zellen geholt. Man erklärte ihnen, dass sie verlegt werden sollten. Die Gefangenen wurden aus dem Gefängnis ins Freie geführt. Sie hörten schon den Gefechtslärm um Berlin, als sie alle durch Genickschuss getötet wurden.

Unter den Ermordeten war Albrecht Haushofer - ein Berliner Professor für politische Geographie. In seinen Händen hielt der Ermordete ein Bündel Papiere - Gedichte, wie sich herausstellte. Unter den „Moabiter Sonetten“, die Albrecht Haushofer während seiner Haft verfasst hatte, findet sich das Gedicht Schuld. In ihm tritt das Vermächtnis des Widerstandes gegen Hitler für unsere Zeit besonders eindrucksvoll hervor:

„(...) schuldig bin ich anders als ihr denkt,

ich musste früher meine Pflicht erkennen,

ich musste schärfer Unheil nennen -

mein Urteil habe ich zu lang gelenkt.“

Albrecht Haushofer, der den Widerstand gegen Hitler mit seinem Leben bezahlt hat, spricht hier jene Aufforderung aus, die für jeden, der des 20. Juli 1944 ernsthaft und wahrhaftig gedenkt, zum Leitgedanken wird:

Erkenne früher deine Pflicht!

Nenne Unheil schärfer beim Namen!

Lass dein Urteil nicht wider besseres Wissen lenken!

Und vor allem:

Wehre den Anfängen!

Totalitäre Systeme entstehen nicht über Nacht. Wenn sie die Macht erst einmal in Händen halten und Konzentrationslager bauen, sind sie nur noch schwer zu besiegen. Diktatoren muss man, wenn irgend möglich, schon Widerstand leisten, bevor sie die Macht an sich gerissen haben. Die Männer und Frauen des 20. Juli sind in bewundernswerter Entschlossenheit einer fast allmächtigen Diktatur entgegengetreten. Extremistischen Tendenzen - seien sie linker oder rechter Provenienz - zu widersprechen und zu widerstehen, erfordert auch in der Demokratie Zivilcourage. Gleichwohl ist bürgerschaftliches Engagement heute ungleich einfacher als in der allgegenwärtigen NS-Diktatur. Wer dort Widerstand leistete - in welcher Form auch immer - riskierte Gefängnis, KZ und Tod - und zudem noch Sippenhaft für Frau, Kinder, Verwandte.

In der freiheitlichen Demokratie ist das - zum Glück - anders. Dennoch ist Wachsamkeit gegenüber neuen Gefahren keineswegs überflüssig geworden. Im Gegenteil darf zum Rückblick auf den 20. Juli niemals vergessen werden, dass falsche Sicherheit, Fehleinschätzung der Gefahren, Verharmlosung einer bereits erahnten Bedrohung Hitlers Machtergreifung erst ermöglicht hat. Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ ist ein eindrucksvolles Lehrstück über die Folgen des Selbstbetrugs eines Bürgertums, das die Bedrohung durch den Faschismus einfach nicht wahr haben will und den Brandstifter schließlich auch noch die Streichhölzer zur Verfügung stellt.

Gefordert ist also Mut zum Widerspruch, die Bereitschaft, schon den Anfängen neuer extremistischer Tendenzen entgegenzutreten. Sie zeigen sich derzeit vor allem im rechtsradikalen Milieu. Wenn in unserem Land Menschen zu Tode gehetzt werden, weil sie eine andere Hautfarbe haben oder aus anderen Teilen der Welt stammen, dann ist allerhöchste Wachsamkeit und entschiedenes Handeln gefordert. Noch gefährlicher als die rechtsextremistischen Gewalttäter sind allerdings jene rechtspopulistischen Rattenfänger, die solche dumpfen Vorurteile für ihre Zwecke zu nutzen wissen. Um diesen Bedrohungen unserer Demokratie frühzeitig entgegen zu wirken, bedarf es des Einsatzes möglichst vieler Mitglieder der Zivilgesellschaft.

Hierfür gilt es, insbesondere der jungen Generation jene Zeichen zu verdeutliche, an denen menschenverachtendes Denken und Handeln bereits im Ansatz zu erkennen sind: Das subtile Schüren von Hass und Vorurteilen, die unterschwellige Verächtlichmachung von einzelnen Menschen, Fremden zumeist oder Gruppen, die Schändung von Synagogen und Gräbern, die Ausgrenzung Andersdenkender oder -glaubender, die Brutalisierung der Sprache und schließlich des Handelns, das Verbot von Büchern und Theateraufführungen, die Einschränkungen von freier Rede und Presse, von abweichendem Handeln und Denken überhaupt.

Ich wies eingangs darauf hin, dass manche politische Vorstellungen der Männer und Frauen des 20. Juli nicht mit unserem Verständnis von parlamentarischer Demokratie vereinbar sind. Und dennoch waren sie, sind sie Helden! Es wäre deshalb grundfalsch, aus den Augen zu verlieren, was uns heute und morgen untrennbar mit dem 20. Juli verbindet, die radikale Ablehnung von Totalitarismus und Unrecht. Hier liegt das Vermächtnis der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 für unsere Zeit - ein Vermächtnis, das wir unter veränderten Bedingungen stets neu bestimmen müssen. Helmut Schmidt hat dies vor zwei Jahrzehnten zum 20. Juli so ausgedrückt:

„Uns muss (an diesem Tag) bewusst bleiben, dass Menschenwürde und Freiheit und Recht der einzelnen Person Werte sind, auf die man sich immer wieder aufs neue zurückbesinnen muss, für die man immer aufs neue einzustehen hat. Werte, mit denen wir selbst uns innerlich identifizieren.“

Aus dieser Einsicht erwächst die Verpflichtung, niemals wieder Handlungen zuzulassen, von denen uns unser Gewissen sagt, dass hier gegen elementare Menschenrechte, gegen die Menschenwürde verstoßen wird. Es darf nie wieder dazu kommen, dass sich eine schweigende Mehrheit nicht zuständig fühlt für das, was in unserem Land passiert. Es genügt nicht, Unrecht schweigend zu missbilligen. Innere Vorbehalte, stiller Protest ändern gar nichts. Die Demokratie braucht vor allem Demokraten, die sich aktiv für sie einsetzen. Und nichts schadet ihr mehr als Indifferenz und Passivität.

Bereits den Anfängen von Unfreiheit, Rechtsbruch und Menschenverachtung entschieden entgegenzutreten - das sie die Aufgabe, die uns die Tradition dieses Gedenktages mitgibt in ein neues - und hoffentlich friedlicheres, humaneres - Jahrhundert. Diese Einsicht umzusetzen in tagtägliches Handeln - kann jene Flamme heller leuchten lassen, die die Männer und Frauen des 20. Juli in dunkelster Zeit angezündet haben.