Gestapohäftling in Berlin - Sippenhäftling in Buchenwald - Sonderhäftling in Dachau

Widerstand
Franz von Hammerstein:
Gestapohäftling in Berlin - Sippenhäftling in Buchenwald - Sonderhäftling in Dachau
Festvortrag von Dr. Franz Freiherr von Hammerstein am 19. Juli 1999 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Ich bin kein Historiker, sondern subjektiver Zeitzeuge. Ich stehe hier auch stellvertretend für meine Brüder Kunrat und Ludwig, die nach dem 20. Juli 1944 untertauchten, desertierten als Offiziere, die am Umsturz beteiligt waren, lieber versteckt überlebten als auch ermordet zu werden. Beide haben das noch in der Nacht oder am nächsten Tage mit der Familie besprochen und wir waren trotz eigener Gefährdung (Sippenhaft) einverstanden, haben sie ermutigt.
Wir nahmen die schnell - schon am 21. Juli - einsetzenden Verhöre und die späteren Verhaftungen der Mutter und dreier Kinder in Kauf, um sie zu retten, was mit Hilfe vieler Wunder auch gelang. Gott sei Dank wussten wir bald nicht mehr, wo sie sich versteckten. Ich wurde zuerst verhaftet in der Firma Krupp-Druckenmüller, wo ich damals arbeitete, weil man mich der Beteiligung am Widerstand verdächtigte und wohl hoffte, dass mit meiner Hilfe die Brüder am ehesten aufgespürt werden könnten. Ab August 1944 saß ich da in einer Einzelzelle des Gestapo-Gefängnisses Moabit ohne Bücher, Zeitungen, Radio, mit regelmäßigen Verhören durch die Gestapo, mit Wanzen, mit Ermutigungen durch einen kommunistischen Kalfaktor Theo Baensch, der Essen brachte, Kübel leerte und flüsterte, wer die Nachbarn sind, neueste Nachrichten, befreit von weiterem Schuldigwerden als Soldat oder in der Rüstungsindustrie, befreit von der Mitverantwortung für die schrecklichen Kriegsverbrechen.
Beim Spaziergang flüsterte mir Eberhard Bethge, den ich wohl aus Dahlem kannte, auch einige Nachrichten zu, obwohl das streng verboten war. Später (ab Dezember) durfte ich dann Bücher lesen über Theo Baensch aus der Gefängnisbibliothek und auch durch Schwager und Schwester (Helga Rossow) von draußen, was dann Kassiber hin und her ermöglichte.
Die Problematik der Verhöre
Eberhard Bethge wurde nach dem Krieg von einem amerikanischen Juden gefragt: „Warum haben Sie nicht jede Aussage verweigert?“ Bethge antwortet, und ich bin da vollkommen mit ihm einig: „Mich hat die Frage konsterniert. Ja, warum eigentlich nicht? Von allen Betroffenen in der Familie hat tatsächlich keiner einfach geschwiegen. Hatte der Fragende eine schlichte Vorstellung von heroischem Standhalten vor den Kommissaren? Konnte er sich nicht genug in die konspirativen Bedingungen hineinversetzen, unter denen Bonhoeffer und Dohnanyi seit April 1943 schon aussagten, um die weitergehende Verschwörung zu decken und gezielt von ihr abzulenken? Hatten wir nicht auch noch im Herbst 1944 unsere Zweifel daran, ob die Gestapo denn alles wüßte ...? So waren wir alle ... darauf eingestellt, daß man verschleiern und verharmlosen mußte ... Ein offenes Bekenntnis oder tapferes Schweigen hätte den Mitverschworenen bloß geschadet. In dieser Lage, in der es immer auch um andere ging, war nicht zu schweigen, sondern redend und lügend zu verschweigen.“
Ich habe in meinen Verhören viel Harmloses langatmig erzählt, aber natürlich zu den wesentlichen Fragen der Konspiration, vor allem nach meinen Brüdern, vieles verschwiegen und gelogen, offenbar erfolgreich. Leider habe ich die Protokolle meiner Aussagen bisher nicht gefunden, denn natürlich kann ich mich an die einzelnen Verhöre kaum noch erinnern.
Isa Vermehren berichtet aus Ravensbrück, wo sie schon Anfang 1944 inhaftiert war, bevor sie später zu unserer Gruppe in Buchenwald gebracht wurde, sie berichtet auch über die Problematik der Verhöre: „Es gehörte zum guten Ton in an sich verbotenen, aber oft geduldeten Unterhaltungen möglichst wenig über den eigenen Fall zu sagen, ... um sich nicht gegenseitig in Gefahr zu bringen“, denn wer konnte auf dem Hintergrund vieler belauschter Unterhaltungen spätere Kreuzverhöre ausschließen: das Belastungsmaterial zu vergrößern. Isa Vermehren war in Ravensbrück mit Häftlingen zusammen - noch vor dem 20. Juli -, die spannende Ereignisse berichteten. Da war schon „Sonderhäftling“ Helmuth von Moltke, ohne dass die Kreisauer Gruppe bekannt war, da war Irmgard Zarden, Hanna Kiep, Albrecht Graf Bernsdorff und andere, deren Aktivitäten heute bekannt sind. Aber als das Buch „Reise durch den letzten Akt“ entstand (1945/46) waren die Zusammenhänge nicht deutlich; die Verfasserin konnte nur das berichten, was sie aus den Gesprächen während der Haft wusste.
Fey von Hassel ist da in einer anderen Situation, weil sie ihr Buch erst in den achtziger Jahren geschrieben hat.
Es gab auch Lichtblicke, sowohl von innen als auch von außen; neben den vielen düsteren Stunden im Gefängnis. Innen hatten wir keine Ahnung von den Ausmaßen des Gefängnisses mit seinen vier großen Flügeln, von der Zahl der Gefangenen. Wir kannten nur unsere Zelle und einen Hof, wo wir während der seltenen Freiluftgänge einzelne Mitgefangene erkannten, ohne mit ihnen sprechen zu dürfen. Der Lichtblick waren Kalfaktoren, die Kübel leerten, Essen verteilten, wie eben der Kommunist Theo Baensch oder der Bonhoeffer Biograph Eberhard Bethge sowie Reinhard Goerdeler, die uns mit Nachrichten versorgten, den Kontakt mit Zellennachbarn herstellten und einfach durch freundliche Worte ermutigten. Ein Lichtblick oder Lichtton war auch, dass mit Hilfe sogar eines Gestapobeamten Rüdiger Schleicher (im April 1945 ermordet) eine Geige erhielt und sein Spiel besonders Weihnachten 1945 im ganzen Gefängnis zu hören war. Ein freundliches Wort, ein Blick, ein Kopfnicken zwischen Freunden während des Hofganges waren ermutigende Lichtblicke, die wohl jeder der Häftlinge dankbar empfand. - Paul Graf Yorck von Wartenburg, auch ein Mithäftling (Bruder des am 8. August 1944 hingerichteten/ermordeten Peter Graf Yorck von Wartenburg), schrieb mir 1992:
„Zunächst zum Geiger. Herrn Schleichers Zelle lag der meinen gegenüber. Er hatte mehrere Selbstmordversuche gemacht trotz Schlägen und Fesselung an das Bett. Auch dann noch hatte er versucht, sich das Genick an der Stahlkante der Bettstelle zu brechen. Es geschah das Wunder einer psychologischen Erleuchtung eines Gestapisten: man brachte ihm seine Geige, die er häufig spielte - und aus war es mit seinen Versuchen, sich das Leben zu nehmen.
Nun aber zur Weihnacht: vierzehn Tage vor dem Feste bat ich den einzig sympathischen der vier, SS-Obersturmbannführer Knuth, am Heiligen Abend kommunizieren zu können. Seine Antwort war: ‚Herr Graf, das wird wohl nicht gehen.’ Ich saß also in meiner Zelle, ohne des geöffneten Paketes zu achten, das mir als erstes vergönnt war. Den Text des Lukas Evangeliums kannte ich auswendig. Plötzlich ging der Schlüssel und herein trat Knuth in Paradeuniform: schwarz mit wenig Silber und Kürassierstiefeln, deren Vorderteil über die Knie reicht - natürlich Lack. Hinter ihm ein mir Unbekannter bekümmert aussehender Gefangener, der wohl auf ein Verhör gefasst war. Knuth: ‚Die Herren kennen sich wohl?’ ‚Nein’ war die Antwort. ‚Also, das ist der Pfarrer Lilje und dies Graf Yorck.’ ‚Also, Herr Pfarrer, der Graf Yorck will kommunizieren.’
Lilje war sichtlich erleichtert. Er kannte meinen Bruder. Dann ging Knuth heraus, was ich dazu benutzte, mein Paket zu inspizieren, das wohl Wein wie Brot enthielt.
Knuth kam mit Schleicher samt Geige zurück. Er sagte: ‚Meine Herren, was ich hier tue, geschieht auf eigene Verantwortung ... Ich darf Sie nicht allein lassen, aber lassen sie sich nicht stören. Ich bin auch ein evangelischer Christ, wenn ich deshalb auch nicht mehr befördert werde. Und nun, Herr Schleicher, spielen Sie uns Weihnachtslieder.’
Es wurde die herrlichste Kommunionsfeier meines Lebens. In Liljes Autobiographie wird Knuth als der typische SS-Schurke geschildert. So wenig kommen selbst Menschen wie er aus Klischee-Vorstellungen heraus.“
Reinhard Goerdeler hat über seine Zeit in der Prinz Albrechtstraße (8.8.1944-13.8.1944) und Lehrter Straße (13.8.1944-1.3.1945) berichtet:
„Besonders eindrucksvoll waren die Begegnungen mit den Professoren Gerhard Ritter und Constantin von Dietze sowie dem späteren Bischof Hans Lilje - diese Männer hatten die Kraft, noch in der Zelle zu arbeiten. Manchmal ist mir so, als ob die Gestalten der ‚Moabiter Sonette’ an mir vorüberziehen, zusammen mit den noblen Zeugen Jehovas, die uns vielfache Dienste erwiesen haben.“
Ich bin Reinhard in der Lehrter Straße nicht begegnet, weil meine Zelle in einem ganz anderem Stockwerk lag und ich auch bei Bombenangriffen nicht in den Keller durfte wie er als Hilfskalfaktor. Aber in Buchenwald haben wir uns gut kennen gelernt.
Erst nach der Befreiung, nach dem Krieg lernten wir die Sonette Albrecht Haushofers kennen, die er im Gefängnis Lehrter Straße verfasst hat und die nach seiner Ermordung im April 1945 bei ihm gefunden wurde.
„Gefährten
Als ich in dumpfes Träumen heut versank,
sah ich die ganze Schar vorüberziehn,
die Yorck und Moltke, Schulenburg, Schwerin
die Hassel, Popitz, Helfferich und Planck
Nicht einer, der des eigenen Vorteils dachte,
nicht einer, der gefühlter Pflichten bar,
in Macht und Glanz, in tödlicher Gefahr
nicht um des Volkes Leben sorgend wachte!“
Ein von den Nazis ebenfalls ermordeter russisch-tatarischer Häftling, der Dichter Musa Dshalil, schrieb auch über tägliche Belästigungen nicht nur durch Bomben, Verhöre, Hunger, sondern auch durch Wanzen:
„Ein finstres Loch. Die Mäuse spielen Fangen,
die Wanzen feiern Hochzeit, wie man sagt.
Voll Wut und Trauer gehe ich den langen
den endlos langen Tag auf Wanzenjagd.
Und denk dabei, man müsste dieses ganze
Gefängnis schleifen, dass nur Trümmer bleiben,
und den Gefängnisherrn wie eine Wanze
darin zerquetschen und zu nichts zerreiben.“
Aber Musa Dshalil schreibt auch wie Haushofer über seine Schuld, seine Hoffnungen, seine Liebe zur Heimat. Es ist ein Wunder, dass uns diese Zeugnisse aus dem Gefängnis, Zeugnisse von Ermordeten überliefert wurden, ähnlich wie auch die Gedichte und Schriften Dietrich Bonhoeffers oder Helmuth von Moltkes, die Harald Poelchau aus dem Gefängnis schmuggelte. Dies waren lebensgefährliche Taten.
Lichtblicke von außen waren die Pakete, später auch Bücher, Kassiber meist von Verwandten mit Mühen und Gefahren - wegen der Bomben - gebracht.
Im Frauengefängnis Kantstraße, aus dem meine Mutter und Schwester vollkommen überraschend zu uns stießen, war übrigens eine der Kalfaktorinnen die zu einer Zuchthausstrafe verurteilte Helene Jacobs, die in der Dahlemer Bekenntnisgemeinde Juden geholfen hatte. Auch sie hat - mit Wissen der Gefängnisoberin - unendlich viel für ihre Mitgefangenen tun können.
Fertigmachen zum Transport - zum Abtransport bereithalten:
Dies war ein unheimlicher Befehl, wovon ich als einer der Jüngsten im Gefängnis noch wenig ahnte, aber mit diesem Befehl wurden die Gefangenen auch zur Ermordung, zur Hinrichtung durch den Strang abgeholt. Ich erwähne nur zwei:
Am 20. Oktober 1944 wurde in Plötzensee Adolf Reichwein ermordet; am 5. März 1945 wurde Ernst von Harnack (kurz nach unserem Abtransport ) ermordet, dessen Seelsorger nicht Harald Poelchau war (er durfte nicht in unser Gefängnis), sondern erstaunlicherweise der zu einer Zuchthausstrafe verurteilte kommunistische Kalfaktor Theo Baensch, der wie fast alle Kalfaktoren - die meisten waren „Ernste Bibelforscher“ (Zeugen Jehovas), die den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigerten - uns Gefangenen zu helfen versuchte, gut informiert war über die Situation drinnen und draußen. Theo Baensch hat überlebt und besonders über Harnack einen hochinteressanten Bericht geschrieben.
März 1945: Fertigmachen zum Transport: Richtung Weimar/Buchenwald.
Einer der Mithäftlinge in meinem Alter war Reinhard Goerdeler, der auch am 1. März überraschend mit meiner Mutter und Schwester in der grünen Minna (Gefängniswagen) war, der uns zum Anhalter Bahnhof brachte, von wo wir nach Buchenwald gebracht wurden mit der Eisenbahn. Was nun? Wohin? Warum? Eisenbahn Richtung Weimar/Buchenwald: Nacht, Bombenangriff, Angst und Hoffnung.
Dort standen wir am Tor „Arbeit macht frei“ oder „Jedem das Seine“, zitternd, was da kommen würde. Aber wir wurden nicht durch das Tor ins Lager betrieben, sondern landeten außerhalb des Lagers in einer Baracke mit einer Mauer rund herum, so dass wir isoliert in einer erstaunlichen Gesellschaft uns wiederfanden: Amelie und Fritz Thyssen, mit dem ich dann Schach spielte, mehrere Stauffenbergs, älter und jünger, Hofackers, Gertrud Halder, Kaisers, Fey von Hassel, Anneliese Gisevius, Familie Goerdeler und weitere Erwachsene und Kinder, jede Familie in einem kleinen Zimmer mit Doppelstockbetten; einige kannten sich persönlich oder wenigstens dem Namen nach, aber andere waren einander fremd und niemand wagte, viel zu erzählen, weil wir vielleicht beobachtet und abgehört wurden, weil Verhöre kommen konnten, Vorsicht war angeraten. Nachher erst wurde mir deutlich, dass da nicht nur Angehörige des „20. Juli“ versammelt wurden, sondern auch Angehörige („Sippenmitglieder“) des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ in der Sowjetunion (Familie Schröder), Angehörige von Deserteuren und vielfältigem anderen Widerstand. Alle hatten schon Verhaftung, Gefängnis, verschiedene Konzentrationslager wie Stutthof oder Ravensbrück sowie die Hindenburgbaude nahe Bad Reinerz hinter sich.
Von „Sippenhaft“ wusste ich noch nichts, obgleich es sie wohl schon gab. Aber wie wichtig die Familie und der Freundeskreis war und blieb, das ist mir im Laufe der Jahrzehnte immer deutlicher geworden. Mein Vater verweigerte sich Hitler schon 1933, war und blieb ein Freund von Russen, Engländern, Franzosen oder Amerikanern und auch Juden. Wir sieben Kinder wurden an seinen Überlegungen beteiligt, nicht ausgeschlossen, die älteren Schwestern durften sich kommunistisch oder pazifistisch engagieren, auch Juden helfen. Ein Bruder - Kunrat - war noch 1937 für ein Jahr Gast des früheren amerikanischen Militärattachés Colonel Wuest in den USA. Eine Schwester Marie-Therese - verließ Deutschland mit ihrem halb- oder vierteljüdischen Mann, weil sie in diesem Verbrecherstaat nicht bleiben wollte und vor allem auch keine Kinder zur Welt bringen wollte. Meine Mutter - katholisch - ermutigte uns zum Konfirmandenunterricht bei Martin Niemöller und Helmut Gollwitzer. Niemöller konfirmierte mich im Juni 1937 drei Wochen vor seiner Verhaftung. Erst 1945 wurde er gemeinsam mit vielen Sippen- und Sonderhäftlingen in der „Alpenfestung“ befreit, gemeinsam mit meiner Mutter und der jüngsten Schwester. Wir wurden als freie Demokraten erzogen, ohne Zwang, auch übrigens von einigen Reichswehrsoldaten, die als Burschen oder Chauffeure bei uns Dienst machten. Etwa Bernhard Seidel mit seiner Frau: verbunden mit uns seit der Zeit in der Hardenbergstraße Ende der Zwanziger Jahre als Chauffeur. Er versteckte dann als Leiter der Fahrbereitschaft im Luftfahrtministerium geheime Papiere von Kunrat. Wir blieben Freunde bis zum Tod der beiden Seidels.
Ich habe vor allem auch aus den Biographien der Kreisauer gelernt, wie ungeheuer wichtig die Familien als prägende Kraft, als Quelle der Ermutigung waren. Die Witwen - Rosemarie Reichwein, Claritta von Trott -, Kinder und Enkel, sowie viele andere aus dem großen Kreis des Widerstandes, der dann in Buchenwald und vor allem in Dachau vertreten war, zeugen hiervon. Doch nicht germanische Sippenlehre war die prägende Kraft, sondern viel eher christliche Familientradition. In Buchenwald und Dachau war es eine europäische Widerstandsfamilie, die Gott sei Dank nicht gemeinsam ermordet wurde, sondern mit der Ausnahme Bonhoeffers und einiger anderer Oster/Canaris befreit wurde. Der englische Major Sigismund Payne-Best - ein in Holland in Gefangenschaft geratener Geheimagent - spielte eine hilfreiche Rolle.
Was Sippenhaft eigentlich bei den Nazis bedeutete, welchen Umfang sie hatte, habe ich erst nach dem Krieg durch die „Rede Himmlers vor den Gauleitern am 3. August 1944“, durch ein Kapitel aus dem Buch von Franz Fühmann „Das Judenauto“ und andere Quellen erfahren.
Wenn ein Feldmarschall oder Ritterkreuzträger ausgezeichnet werde mit Orden, Geld oder Besitztum, so komme dies seiner ganzen Familie, auch seinen Nachkommen zugute, betonte Himmler im August 1944 und ergänzte diesen Gedankengang: „Wenn wir das nach der positiven Seite hin tun, sind wir ... absolut verpflichtet, es ebenso nach der negativen Seite hin zu tun. Es soll uns ja niemand kommen und sagen: Das ist bolschewistisch ... Nein, das ist gar nicht bolschewistisch, sondern sehr alt und bei unseren Vorfahren gebräuchlich gewesen. Sie brauchen bloß die germanischen Sagas nachzulesen. Wenn sie eine Familie in die Acht taten und für vogelfrei erklärten ... dann war man maßlos konsequent: dieser Mann hat Verrat geübt, das Blut ist schlecht, da ist Verräterblut drin, das wird ausgerottet, ... bis zum letzten Glied in der ganzen Sippe. Die Familie Graf Stauffenberg wird ausgelöscht werden bis ins letzte Glied.“ Eigentum, Grundbesitz, Güter von Verrätern sollen eingezogen werden, um Treue und Loyalität zu erzwingen. „Die letzte Tante Frieda in irgendeinem Geschlecht wird jetzt ihren Neffen oder ihren Sohn vornehmen und sagen: „Daß Du Deinen Eid hältst, Du bringst sonst die ganze Familie in Gefahr.“ Diese Drohung Himmlers hatte Wirkung.
Franz Fühmann beschreibt in einem Kapitel seines Buches „Das Judenauto“ wie er als Funker in Athen Treuegelöbnisse ans Führerhauptquartier funken musste und wie er gleichzeitig die Edda studierte. Zur selben Zeit besuchte er einen Lehrgang über die „germanische Weltanschauung“ mit erstaunlichen Themen und Aussagen: sogar die Bereitschaft zum Untergang - Völuspa, der Seherin Gesicht vom Weltende. Fühmann berichtet aus dem Lehrgang: „Der Führer solle, ..., den Angehörigen der Verschwörer des 20. Juli gestattet haben, selbst das Gericht an den Verbrechern zu vollstrecken und sie mit eigener Hand an den Galgen zu knüpfen, um so ihre Schuld, der Sippe eines derart Verruchten anzugehören, zu sühnen.“ Am Ende des Kapitels aber steht für Fühmann eins unerschütterlich und ehern fest: „Großdeutschlands Sieg in diesem Krieg.“
Wir wussten in Buchenwald und Dachau nicht, ob und wie viele andere Gruppen von Sippen- oder Sonderhäftlingen es gab, was mit Verwandten oder Freunden des Widerstandes inzwischen geschehen war. Johann-Dietrich von Hassel - der Bruder von Fey, die in unserer Gruppe war - hat mir einen Bericht geschickt über seine Verhaftung, Verhöre in Italien, in der Gestapo-Zentrale Prinz-Albrecht-Straße (heute die „Topographie des Terrors“), seine Verhaftung im September 1944 - nachdem am 9. September sein Vater zusammen mit Goerdeler, Leuschner und anderen durch den Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden war. Johann-Dietrich von Hassel ist dann mit einer Gruppe von überwiegend aus dem Militär stammenden Häftlingen, die verwandt waren mit Widerständlern oder des Widerstandes selber verdächtig waren, über ein Wehrmachtsgefängnis in Germersheim/Hessen, Küstrin/Oder, Wittenberg, Kloster Obersteinfeld bei Ludwigsburg und zuletzt nach Kloster Hersberg bei Immenstadt am Bodensee unter Gestapo-Bewachung verschleppt worden. Er berichtet über die Flucht vor den Russen aus der Festung Küstrin: „Dieser gerade noch rechtzeitigen Flucht vor der Roten Armee lag ein in der Diktatur unfaßlich selbständiger Entschluß des Festungskommandanten zugrunde: Major Leussing hatte in der Stunde höchster Bedrängnis mit dem System gebrochen und setzte künftig alles daran, das Leben der Häftlinge zu erhalten. Nach außen hin blieb es jedoch bei „Häftlingen“ und „Bewachern“ (Posten mit Gewehr)... Um diese Zeit - Mitte April 1945 - wurde Himmlers Befehl bekannt, daß politische Häftlinge nicht lebend in Feindeshand fallen dürften. Um so kritischer war es, daß einer unserer ehemaligen Bewacher (Soldaten und SS/Gestapo), die schon untergetaucht waren, noch die SS in Friedrichshafen über die Häftlingsgruppe informiert hatte. Die SS marschierte sofort nach Hersberg, umzingelte das Kloster, stellte die Häftlinge an die Wand und forderte vom Kommandanten Aufschluß über seinen Auftrag. Major Leussing, der mit dem System gebrochen hatte, gelang es, eine Köpenickiade zu inszenieren; unter Vorspiegelung seiner direkten Verbindung zur Prinz-Albrecht-Straße konnte er die SS verunsichern und vorübergehend zum Abzug veranlassen.“ Sie wurden dann - fast ähnlich wie unsere Gruppe in den Alpen - mit Hilfe der Bevölkerung gerettet bis französische Befreier kamen.
Leider gelang längst nicht allen, nicht überall so eine Befreiung. Aus dem Gestapo-Gefängnis in der Lehrter Straße, wo ich sechs Monate verbracht hatte, wurden am 22. und 23. April noch fast 20 Häftlinge hinterrücks ermordet, nachdem man ihnen eine Entlassung in Aussicht gestellt hatte.
Unsere Wachen in Buchenwald wechselten alle 24 Stunden: strenge deutsche SS und volksdeutsche ungarische SS, die uns manchmal Radio hören ließen und gesprächig waren. Die Hoffnung auf amerikanische Befreier wuchs. Als es dann wenige Tage vor der Befreiung von Buchenwald - 11. April - doch noch hieß: Fertigmachen zum Transport – „Warum? Wohin?“, flüsterten die ungarndeutschen SS-Leute: „Das ist das Ende für euch.“ Es war eine Fahrt ins Ungewisse Richtung Süden. Fast gleichzeitig fuhr ein Güterzug mit jüdischen Häftlingen Richtung Dachau, von denen wenige diesen Transport überlebten. Etwas später wurden Häftlinge, wie dann Ende April auch im KZ Dachau, noch zu Fuß evakuiert, weil sie nicht in die Hände des Feindes fallen sollten (Todesmärsche). Gott sei Dank war das Chaos so groß und viele SS-Leute mit dem eigenen Überleben beschäftigt, dass ein Teil der Häftlinge überlebte, insgesamt von allen Häftlingen aber nur wenige. Kontakt zum Hauptlager in Buchenwald: Häftlinge, die uns Essen bringen, Haare schneiden: vorsichtige Fragen und Antworten, aber der Widerstand im Lager war über uns informiert.
Am 3./4. April „Fertigmachen zum Transport“: von Buchenwald über Regensburg-Schönberg nach Dachau
Enttäuschung: die Amerikaner sind doch so nahe; man hört den Kanonendonner ... Angst: Wohin nun noch?“ Ein Omnibus fährt los Richtung Süden durch die herrliche deutsche Frühlingslandschaft. Wohin? Am nächsten Tag Halt vor einem Gefängnis, das sich offenbar in Regensburg befindet. Freundliches Gefängnispersonal, offene Zellen, neue Gesichter, englische, französische (Leon Blum mit Frau) und russische Häftlinge, Dietrich Bonhoeffer, von dem ich noch nichts gelesen hatte, dessen Name und Predigten mir aber aus der Dahlemer Heimatgemeinde wohlbekannt waren. Gespräche, Erfahrungs-, Informationsaustausch. Frau Lindemann erfährt durch Bonhoeffer von der Hinrichtung ihres Mannes. Weiterfahrt gen Nordosten Richtung Bayerischer Wald, in Schönberg Verteilung auf zwei Schulhäuser. Die SS-Bewacher geben uns als SS-Familien aus. Aber es gelingt, uns der Bevölkerung als unschuldige Gefangene erkennen zu geben. Hilfreiche, mutige Menschen versorgen uns des Nachts mit Lebensmitteln, die mit Hilfe eines Korbes zu uns hochgezogen werden. Fluchtpläne werden flüsternd erörtert. Aber, wenn Einzelne fliehen, was geschieht mit den anderen? Repressalien? Mord? Bonhoeffer wird aus dem anderem Schulhaus abtransportiert. Wohin? Keiner weiß es (wie wir viel später erfahren, zur Ermordung ins nahe gelegene KZ Flossenbürg). Herrliches warmes Frühlingswetter, friedliche Landschaft, unwirklich.
Warum plötzlich dieser Abstecher nach Norden (Schönberg)? Ein tschechischer Pfarrer erklärt mir 1995 anlässlich eines ökumenischen Gottesdienstes - nach 50 Jahren - in Schönberg: „Ihr solltet wahrscheinlich nach Prag zur Armee Schörner, der Europa zurückerobern sollte.“ Ende April war dann die „Alpenfestung“ das Ziel, wo wir Geiseln bei der Rückeroberung oder selbstmörderischen Verteidigung à la Masada (oder Stalingrad) sein sollten. Wer weiß? Hoffnung auf Wunderwaffen, Verzweifelung, Hilflosigkeit umgaben uns.
Ich will noch aus den Berichten von Isa Vermehren und von Fey von Hassel zitieren, um die Erfahrungen lebendiger zu machen.
Isa Vermehren wurde schon im Februar 1944 mit ihren Eltern und einem Bruder verhaftet, weil ein anderer Bruder zu den Alliierten desertiert war, eine frühe Sippenhaft, die die Familie als Sippensühne empfand, mit Recht. Erst Anfang Februar 1945 wird sie von Ravensbrück wieder über Potsdam nach Buchenwald gebracht, wo sie am 26. März auf unsere Gruppe trifft. Gemeinsam sind wir dann auch vom 6. bis 16. April in Schönberg.
Isa Vermehren schreibt über die Tage in Schönberg: „Auf unseren natürlich bewachten Spaziergängen wurden die beglückenden Eindrücke des blühenden Frühlings weitgehend aufgehoben durch die bedrückenden Bilder des zu Ende gehenden Krieges: verdreckte fliehende Soldaten, Reste einer geschlagenen, sich auflösenden Armee - dagegen das Ewigkeitsbewusstsein seiner Macht bei unserem SS-Transportführer ... Ich habe 1995 dem Ort Schönberg gedankt, über Dietrich Bonhoeffer berichtet, der von Schönberg nach Flossenbürg geholt und dort am 9. April ermordet wurde. Eine Schule in Schönberg trägt seit 1995 seinen Namen.“
Fey von Hassel berichtet über ein aufregendes Ereignis in Buchenwald: „Am 16. März kreiste ein Fieseler Storch über unsere Baracke. Wir stürzten ins Freie und winkten mit Taschentüchern und Bettlaken. Es war Lita Stauffenberg, die Frau von Alex, eines Mithäftlings, die ihren Mann besuchen kam, wie sie es schon einmal im KZ Stutthof bei Danzig getan hatte. Mit großer Mühe hatte sie uns gefunden und trotz Behinderungen diesen Flug gewagt. Bei einem ähnlichen Wagnis in Richtung Schönberg Mitte April ist sie dann leider abgeschossen worden.“
16. April 1945: Wieder Transport, Packen, Unsicherheit, Richtung Süden zum KZ Dachau. Omnibusfahrt in der Nacht - feindliche Flieger - unsere Retter mit Bomben, die uns vorerst noch gefährden. Fey von Hassel denkt an Flucht: Ebenhausen, ihre Heimat mit der Mutter nur 20 km entfernt. Aber es fehlt der Mut; und was wird aus den anderen Gefangenen, den Freunden? Unsere SS-Bewacher Sturmführer Bader und Stiller gebärden sich immer noch als Sieger, wissen aber schon, dass sie besiegt sind, hoffen auf ein Wunder. Auf jeden Fall können sie noch morden, Mordbefehle geben, ausführen. Zehn Tage Dachau: das Lager ist voll, noch. Wir warten stundenlang im heißen Bus und landen endlich in einer Baracke des SS-Krankenhauses inmitten vieler SS-Familien, eine gefährliche, unangenehme Situation, wenn die Befreier plötzlich da sein sollten. Jede Nacht Fliegeralarm und Angriffe auf München. Auch die Männer unserer Gruppe zwischen 16 und 60 sollen zum Volkssturm, was sich Gott sei Dank als Irrtum herausstellt (Verräter, Geiseln, Schutzhäftlinge können das „Vaterland“ nicht verteidigen). Wachsende Spannung, Geschützdonner.
26. April in Dachau: „Fertigmachen zum Transport“ - zur Ermordung, zur Befreiung, wohin? Woher kommen die Befreier? Von Westen oder Süden? Für fünf von uns Sippenhäftlingen war kein Platz mehr im überfüllten Bus. Wir blieben erst einmal zurück. Werden wir uns je wiedersehen? Wir hofften schon seit Monaten auf Kapitulation und Niederlage, die SS/Gestapo hoffte auf die Wunderwaffe, irgendeine Art Atombombe, die dann später, im Sommer 1945, nicht von den Deutschen gezündet wurde, sondern von den Amerikanern in Japan ... Die „Alpenfestung“ von der wir kaum eine Vorstellung hatten, wurde zur Alpenbefreiung.
Die Befreiung in den Alpen habe ich nicht miterlebt. Sie war so aufregend und kompliziert, dass ein besonderer Vortrag nötig wäre. Sie ist aber auch gut dokumentiert. Ich will deshalb nur noch kurz einige Beobachtungen berichten, bevor ich meinen eigenen Weg aus der Gefangenschaft in die Freiheit, in das wiedergewonnene Leben kurz schildere, der natürlich für jeden von uns anders aussah.
Jeder/jede der Häftlinge (Sonderhäftlinge, Geiseln, Sippenhäftlinge usw.) hat diese aufregende Woche ein wenig anders erlebt: die Todesmaschinerie beim Aufbruch von Dachau, die Todesgefahr bis zur Befreiung durch die Amerikaner, die verschiedenen Initiativen, die Bewacher und möglichen Mörder loszuwerden, die Wochen auf Capri und die verschlungenen Wege der Heimkehr via Paris und Frankfurt.
Fey von Hassel hört zwei SS-Männer flüstern: „Was machen wir mit denen, die erledigt werden sollten?“ Mutigen Häftlingen, Offizieren der Wehrmacht, italienischen Partisanen gelingt es die inzwischen verängstigten Bewacher vom Morden abzuhalten, bis die amerikanischen Befreier erscheinen.
Ein SS-Mann fragt Josef Müller schon in Flossenbürg: „Sind wir rettungslos verloren?“ Er hat plötzlich Angst um sich und seine Familie. Wofür in dieser Situation noch sterben, ermordet werden. Josef Müller antwortet: „Ich sterbe für den Frieden. Ich sterbe dafür, dass mein Vaterland und Europa christlich bleiben“.
Ein ökumenischer Gottesdienst vereinte Anfang Mai in Niederdorf Katholiken, Protestanten und auch Orthodoxe, um für die Befreiung zu danken. Konfessionelle Grenzen waren in dieser Situation nicht wichtig. Leutnant Wasilij Kokorin, der Neffe von Molotow, ist leider dann nicht mit der übrigen Gruppe befreit worden, sondern aus Pflichtbewusstsein zu den Partisanen gewechselt, wo er wegen Erfrierungen starb. Mit Bonhoeffer hat auch er noch in Schönberg kurz vor dessen Ermordung eine Andacht gefeiert.
Fey von Hassel konnte sich über die Befreiung nur begrenzt freuen, weil ihre beiden Kinder Corradino und Robertino verschollen blieben und ähnlich wie eine ganze Reihe von Kindern der Sippenhäftlinge erst in den nächsten Monaten wiedergefunden wurden.
Wie schon berichtet wurden fünf von uns Sippenhäftlingen von Dachau aus zu Fuß mit besonderer Bewachung auf den Weg geschickt, weil wir keinen Platz mehr hatten in dem Transportbus: Reinhard Goerdeler, Peter Jehle, Major Schatz, Markwart Stauffenberg und ich. Wir waren kein offizieller Teil der Evakuierungsmärsche, „Todesmärsche“ (weil jeder Häftling, der aus Schwäche, Hunger oder Krankheit zurückblieb, von der SS erschossen wurde), sondern hatten einen Pferdewagen für unser Gepäck und übernachteten bei Bauern oder in Scheunen. Die Route war ähnlich: an München vorbei Richtung Starnberg, Berg, Wolfratshausen, wo wir an einer Brücke über die Isar von der Wehrmacht aufgehalten wurden, aber die SS setzte sich durch. Am 30. April wurden wir auf einem einsamen Bauerngehöft in den Keller gesperrt. Als wir am 1. Mai nach oben kamen, war die SS verschwunden, die Bauern gaben uns Frühstück, draußen führen die Amis und nahmen uns nach München mit ...
Am Starnberger See fand ich Zuflucht bei Frau Niemöller und ihrer Tochter Hertha (Bruder Jochen Niemöller, mein Freund war noch „gefallen“). Wir waren einige Tage im Ungewissen über das Schicksal der Alpengruppe einschließlich Vater Martin Niemöller und meiner Familie, aber Gott sei Dank kam durchs Radio bald die Nachricht von der Befreiung, vom Überleben. Aber für viele von uns war die Ermordung naher Angehöriger und die noch Wochen oder sogar Monate währende Ungewissheit über Angehörige in Deutschland, in der Kriegsgefangenschaft eine riesige Belastung. Hatten meine Brüder versteckt irgendwo in Deutschland - wir wussten nicht, dass es Berlin und Köln war -, als Deserteure seit dem 20. Juli gesucht, überlebt? So oder so ähnlich ging es vielen von uns ...
Mit einem geschenkten Fahrrad fuhr ich Ende Mai Verwandte besuchen gen Norden, unterwegs wegen illegalen Zonenübertritts verhaftet, in Buchenwald von dem internationalen Lagerkomitee einen wertvollen Ausweis erhaltend, aus Angst vor den Russen nicht gleich nach Berlin, sondern nach Steinhorst in die Lüneburger Heide, wo kurz vor dem Dorf ein Landstreicher aus dem Straßengraben kam - ich hatte Angst um mein Fahrrad, das mir schon einmal entwendet worden war -, der mein Bruder Kunrat war, Pilze suchend.
Wenn ich mir heute vergegenwärtige, was während unserer Haftzeit im letzten Jahr des Krieges draußen alles geschah, um uns herum, so graust mir:
- In den Konzentrationslagern Ravensbrück, Buchenwald oder Dachau fanden täglich diese mörderischen Appelle statt, wurden Menschen zu Tode geprügelt, hungerten und verhungerten, während wir davon wenig wussten und überraschend gut behandelt wurden (von der fast vollkommenen Nachrichtensperre abgesehen);
- es tobte der Krieg weiter - Bombenkrieg, Dresden, die Schlacht an der Oder und später in Berlin, Freunde - ein Sohn von Martin Niemöller, der mit uns in den Alpen befreit wurde, kam als Soldat noch um, fiel, starb den Heldentod, wie lügnerisch, propagandistisch gesagt wurde. Rochus Lynar, dessen Vater schon ermordet war, starb als Soldat noch in Italien, das schon kapituliert hatte;
- mehr als 100.000 Babies von Zwangsarbeiterinnen wurden ermordet, damit diese Frauen ungestört, unbelästigt von ihren Babies in der Rüstungsindustrie arbeiteten, grausame Mordaktionen;
- während wir bewacht und beschützt - Sonderhäftlinge, Schutzhäftlinge, Ehren-, Sippen-, Zeugenhaft, Geiseln Himmlers oder Hitlers - einigermaßen bequem von Buchenwald nach Dachau transportiert werden, rollte gleichzeitig ein mit jüdischen Häftlingen überladener Güterzug auf dem Umweg über die Tschechoslowakei ebenfalls von Buchenwald nach Dachau - wochenlang unterwegs -, wo diese Häftlinge verhungert und vielfach tot ankamen, ein grausames Bild für die, die diesen Transport in Dachau überlebten;
- die Todesmärsche aus fast allen vor der Befreiung stehenden Konzentrationslagern, die wir in Dachau noch beobachten konnten, ergänzen dieses Bild des mörderischen Geschehens, von dem wir nur wenig - merkwürdigerweise - erfuhren. Wir waren Sonderhäftlinge und in einer besonders bedrohten aber auch isolierten Situation;
- Ganz besonders schrecklich und tröstlich ist auch der Gedanke, dass Harald Poelchau, den einige von uns aus Berliner Gefängnissen kannten, als Gefängnispfarrer in Plötzensee Hunderte von Menschen - darunter auch Verwandte unserer Gruppe - zum Galgen begleitete, letzten Trost spendete.
Eberhard Bethge hat über die mörderischen letzten Tage in der Lehrter Straße, dem Gefängnis dort, wo einige überlebten, aber zu viele Männer des Widerstandes in den letzten Tagen des Krieges noch umgebracht wurden berichtet. Es ist ein Wunder, dass wir verschont blieben, gerettet wurden.
Wie ging das Leben weiter? Welche Einsichten haben wir gewonnen? Welche Folgerungen haben wir aus Gestapohaft, Sippenhaft, aus 12 Jahren NS-Leben, Erleben, gezogen. Ich kann und will nur ein wenig von meinen eigenen Folgerungen berichten:
Nicht zuletzt wegen der Erfahrungen in der Dahlemer Bekenntnis-Gemeinde aber auch aufgrund der Haftzeit beschloss ich, Theologie zu studieren, und das in Bethel, weil es dort eine Tradition des Widerstandes, des Eintretens für sogenanntes „lebensunwertes Leben“ gegeben hatte, mit Friedrich von Bodelschwingh als Leiter.
Nach Studien- und Lehrjahren in Göttingen, Chicago, Washington DC (an einer schwarzen Universität mit einem Rabbiner aus Breslau als Professor), nach intensiver Beschäftigung und Begegnung mit Martin Buber gründete ich als der Jüngste gemeinsam mit Lothar Kreyssig, Harald Poelchau, Martin Niemöller, Ernst Wilm die Aktion Sühnezeichen. Wir kannten die Verbrechen des NS-Regimes und auch die eigenen Versäumnisse, die eigene Freiheit, das Schuldigwerden. Deshalb unterschrieben wir den von Lothar Kreyssig - der selber mutig das Euthanasie-Morden bekämpft hatte - verfassten Aufruf: „Wir Deutsche haben den zweiten Weltkrieg begonnen und schon deshalb mehr als andere unmessbares Leiden der Menschheit verschuldet; Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen von Juden umgebracht. Wer von uns Überlebenden das nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern.“
Wir wurden daraufhin als Landesverräter und Nestbeschmutzer beschimpft, aber wir haben im Laufe der Jahre und Jahrzehnte gemeinsam mit jüdischen Freunden, mit der Kommunität von Taizé, mit der Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry, mit den Friedenskirchen (Quäker, Brethren, Mennoniten, dem Ökumenischen Rat der Kirchen u.a.), mit überlebenden Häftlingen aus vielen Ländern - auch Polen und Russland - ein Netz von Versöhnung, von am Frieden engagierten Menschen geschaffen, das bis heute viele junge Menschen begeistert.
Aktion Sühnezeichen Friedensdienste besteht noch und braucht dringend Förderung, weil immer noch viele Menschen misstrauisch sind gegenüber ihren Zielen.
Eberhard Bethge hat sich sein Leben lang mit Dietrich Bonhoeffer beschäftigt, ihn uns zugänglich gemacht, und in seinem Geist junge Pfarrer ausgebildet.
Eberhard Bethge hat seiner eigenen Biographie den Titel „In Zitz gab es keine Juden“ gegeben. Warum diese Überschrift? Er beschreibt ein Defizit in seiner Jugend, seiner Erziehung, seiner theologischen Ausbildung. Juden kommen kaum vor. Erst als er Dietrich Bonhoeffer im Predigerseminar Finkenwalde begegnete, tauchten jüdische Menschen auf.
Im Gestapo-Gefängnis Lehrter Straße gab es kaum Juden. Selbst noch in Dachau in der Gruppe „The Purple International“, wie die Prominenten-Häftlingsgruppe von Anthony Cave Brown im Vorwort zu Fey von Hassels Buch genannt wird, gab es nur Leon Blum und seine Frau als Juden. Aber sie waren dort als prominente Politiker, nicht als Juden.
Ich hatte in der Schule noch jüdische Mitschüler, in der Familie verkehrten Juden, meine älteren Schwestern haben Juden zur Flucht verholfen, aber vom Judentum, von jüdischer Geschichte, vom Leben in der Synagoge hatte auch ich keine Ahnung; nur von der Minderwertigkeit der jüdischen Rasse wurde ich in der Schule unterrichtet.
Trotz oder wegen dieser Defizite, wegen der unendlich vielen Juden, die in Konzentrationslagern gequält und umgebracht wurden, habe ich mich nach der Befreiung 1945 im Theologiestudium wachsend intensiver mit dem Judentum beschäftigt, mit Martin Buber und Leo Baeck, ihrem Leben und ihren Werken. Beiden bin ich noch in der Evangelischen Akademie und in Jerusalem begegnet. Der christliche Glaube ist tief im Judentum verwurzelt. Die christlich-jüdische Zusammenarbeit, an deren Gründung in Berlin 1949 - vor 50 Jahren - Bethge und ich beteiligt waren, war ein wichtiger Schritt zu gemeinsamer jüdisch-christlicher Arbeit.
Begegnungen von ehemaligen Häftlingen, Verfolgten, Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen vor allem auch Widerstandsgruppen aus verschiedenen Ländern Europas einschließlich der GUS Länder und natürlich der USA/Canada sind wichtig.
Ich bin verschiedene Male besonders in Buchenwald, aber auch in Dachau und Sachsenhausen ehemaligen Häftlingen aus Ost- und West-Europa - zuletzt 1999 in Buchenwald auch Befreiern und Häftlingen aus den USA - zu Gesprächen untereinander aber auch mit Gruppen von Schülern begegnet. Diese Begegnungen haben das Wissen um die Verbrechen der Nazis gefördert, aber auch vor ähnlichen gegenwärtigen Tendenzen gewarnt. Vor allem haben sie auch die Europäische Zusammenarbeit aus der Perspektive der Verfolgten, des Widerstandes in Europa gefördert. Wir müssen auch gerade im Hinblick auf den Widerstand europäisch denken und handeln, das heißt den Widerstand anderer Länder in unsere Treffen, unsere Arbeit einbeziehen. Wir wurden im Mai 1945 gemeinsam mit Menschen, Häftlingen aus vielen Ländern, verschiedener Nationalitäten, auch verschiedener Ideologien und Religionen befreit. Das hat ein Zusammengehörigkeitsgefühl bewirkt oder verstärkt. Wir waren eine europäische Familie.
Die ökumenische Gemeinschaft von Christen verschiedener Konfessionen war in den Lagern - auch in unserer Gruppe - vielfach selbstverständlich. Mit Juden war das schon schwieriger, weil sie streng getrennt überlebten, wenn überhaupt, und weil sie uns wohl auch fremder waren und noch sind. Wir haben als Gruppe - 20. Juli - bei unseren jährlichen Treffen diese Gemeinschaft weiter gepflegt.
In Weimar wurden 1995 von einer Evangelischen Gemeinde jüdische Überlebende des Konzentrationslagers aus Israel mit Kindern und Enkeln eingeladen, Buchenwald zu besuchen und natürlich Weimar kennen zu lernen. Diese gemeinsame Erinnerung von Juden und Christen, Christen mit Juden, war bewegend. Mehr solche zeichenhafte Begegnungen sind wichtig. Das gilt heute besonders für die Begegnung mit Juden, die aus Russland gekommen sind. Unsere damalige Haft sollte uns zu solchen Begegnungen ermutigen - Christlich-Jüdische Begegnungen und Begegnungen ehemaliger KZ-Häftlinge.
Unser Mithäftling Paul Graf York machte Anfang der 60er Jahre als Generalkonsul in Lyon einen erstaunlichen Vorschlag zur christlich-jüdischen Zusammenarbeit: Er lernte in Lyon eine Gruppe von Juden kennen, die versteckt in Frankreich überlebt hatten, versteckt meist von Christen. York machte im Einverständnis mit diesen Juden, die dringend wieder eine Synagoge brauchten (in Villeurbanne, einem Vorort von Lyon) der Aktion Sühnezeichen den Vorschlag, eine Synagoge zu bauen. Versöhnung mit Juden, mit Israel war ein wichtiger Schwerpunkt von Sühnezeichen, aber der Bau einer Synagoge für Juden war doch erstmalig und einmalig. Wir sagten zu und wurden innerhalb der Kirche heftig angegriffen, so wie auch York im Außenministerium kritisiert wurde. Solche Hilfe für Juden geht zu weit. Gott sei Dank fanden wir doch Gemeinden und Landeskirchen (Pfalz, Präses Stempel) wie auch Städte besonders in Hessen, die das Projekt unterstützten. So bauten junge Christen aus Deutschland eine Synagoge und diese Nachricht beeindruckte viele Juden in Europa, Amerika und Israel.
Eine enge Zusammenarbeit gab es auch mit einem anderen ehemaligen Häftling, Heinrich Grüber, der ins KZ gekommen war, weil er versuchte, Juden zur Auswanderung zu verhelfen. Er merkte, wie unendlich schwer das wegen der Hindernisse in der „freien“ Welt war. Fast überall in der Welt wurden Juden abgewiesen, wenn sie keine Beziehungen hatten oder nicht viel zahlen konnten. Von England wurden jüdische Kinder aufgenommen, während man Eltern und Großeltern ihrem Schicksal - Selbstmord oder Vergasung - überließ. Der Krieg der Alliierten war ein Kampf gegen die Weltmachtgelüste Hitlers, seines Dritten Reiches. Der Holocaust, die im Gang befindliche Shoa, spielte nur ganz am Rande eine Rolle. Die Konzentrationslager wurden im Rahmen der Kampfhandlungen befreit, aber vorher spielten sie keine Rolle. Es gab kaum Versuche, den Häftlingen zu helfen.
Juden zu helfen, ist das Arbeitsfeld von Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen bis heute.
Ich will schließen mit Versen eines Gedichtes von Dietrich Bonhoeffer, der leider unter den vielen Freunden war, den vielen Menschen des Widerstandes in ganz Europa, die nicht befreit, sondern ermordet wurden. Bonhoeffer dichtet zu Neujahr 1944/45 im Gefängnis:
Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Ach, Herr, gib unseren aufgescheuchten Seelen
das Heil, das Du für uns bereitet hast.
Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wollen wir des Vergangenen gedenken
und dann gehört Dir unser Leben ganz.
Diese Verse und andere aus dem Zyklus „Auf dem Wege zu Freiheit“ wie „Nächtlichen Stimmen“ und „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“ kommen aus dem Herzen nicht nur Bonhoeffers, sondern eines jeden Häftlings und bezeugen eine Freiheit, die den Tod einbezieht:
„Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
dass wir endlich erblicken, war hier uns zu sehen missgönnt ist.
Bonhoeffer hat das Leben geliebt und genossen, aber auch der Tod, selbst der Tod am Galgen bedeutete für ihn Befreiung.
Die „Stationen ...“ hat Bonhoeffer am 21. Juli 1944 im Hausgefängnis der Gestapo, Prinz-Albrecht-Straße geschrieben und sie rufen die Menschen damals und auch uns heute zur Tat auf:
Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche und tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.
Nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.


Kunrat hat seine Flucht ausführlich beschrieben. Vgl. Kunrat von Hammerstein: Spähtrupp, Stuttgart 1963, S. 219 ff; Ders.: Flucht, Olten 1966. Er hat auch meinem Bruder Ludwig ein sicheres Versteck finden helfen.
Eberhard Bethge: In Zitz gab es keine Juden. Erinnerungen aus meinen vierzig Jahren, München 1989, S. 158 f.
Rüdiger Schleicher war mit Ursula Bonhoeffer, der Schwester Dietrich Bonhoeffers, verheiratet. Sein Schwiegersohn war Eberhard Bethge.
Hanns Lilje: Im Finstern Tal, S. 73
Zur „europäischen Familie“ gehörten vor allem auch das Ehepaar Leon Blum, acht Ungarn, die letzte ordentliche ungarische Regierung, Kurt von Schuschnigg mit Familie, Wassily Kokorin, ein Neffe von Molotow und andere. In Dachau war die Zusammensetzung der Häftlinge eher noch europäischer.
Franz Fühmann: Das Judenauto, Zürich 1968.
Ebenda, S. 141 ff.
Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt, Hamburg 1946.
Fey von Hassel: Niemals sich beugen, Erinnerungen einer Sondergefangenen der SS, München 1990.
Siehe auch L. F. Mogensen: Die große Geiselnahme. Letzter Akt 1945, Kopenhagen 1997, S. 75 ff. mit einem Verzeichnis der „Internationalen Geiselgruppe“ (etwa 100 Personen) und der „Angehörigen von Deutschen im Widerstand“ (etwa 45 Personen) „Sippenhäftlinge“ oder lt. Isa Vermehren (wie Anmerkung 8): „Ehren-, Sonder-, Sippen- und sonstige Häftlinge“. Siehe auch Fey von Hassel (wie Anmerkung 9), S. 187: „Die Gruppe von Himmlers Sonderhäftlingen - vielmehr seine Geiseln -zählte nun 120 Menschen aus 16 verschiedenen Nationen“. Vgl. „Handstreich im Pustertal“, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 5./6.9.1964: „160 Prominente wurden gerettet“.
Eine Liste aller Häftlinge ist zu finden in Josef Müller: Bis zur letzten Konsequenz. Ein Leben für Frieden und Freiheit, München 1975, S. 364 ff sowie S. 269 (136 Personen, 17 Nationen). Die europäische Geiselgruppe sollte das Überleben wichtiger Nazis sichern oder nach dem Endsieg und der Rückeroberung Europas einen großen Schauprozess ermöglichen.
Fey von Hassel (wie Anmerkung 9), S. 189.
Josef Müller (wie Anmerkung 11), S. 253.
Mein Bruder Ludwig wurde in Berlin befreit. Fast wäre er noch in Sibirien gelandet, wenn Freunde nicht geholfen hätten.
Daniel Goldhagen bejaht, ermutigt den Krieg gegen Serbien, gegen Milosevic, mit Berufung auf die Shoa, den Holocaust. Aber wollte das alliierte Militär im 2. Weltkrieg wirklich den Juden helfen oder vor allem Hitler wegen seiner Eroberungen, seiner Weltmachtgelüste besiegen. Selbst nach dem Kriege wurden viele Befreite als Displaced Persons eher vernachlässigt als gefördert. - Paul Oestreicher hat das kürzlich in einem Artikel der FAZ bestätigt. Menschenrechte und Rettung der Juden spielten bei den Alliierten im zweiten Weltkrieg kaum eine Rolle (P.Ö. war Leiter des Versöhnungszentrums an der Kathedrale von Coventry).