"Gewartet wird auf Dich ..."

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Albrecht Goes

„Gewartet wird auf Dich ...“

Gedenkrede des Schriftstellers Albrecht Goes am 19. Juli 1957 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Unter den Dokumenten, die in dem Zusammenhang mit dem 20. Juli von uns gewonnen sind, die uns den Schlaf stören und zu Recht den Schlaf stören, sind Aufzeichnungen der Söhne und Töchter jener Angeklagten, Erschossenen und Erhängten von damals, die nachher beschrieben wurden, in jener Zeit, die dann in Sicherheit zugebracht wurde, in einem Heim, wie es hieß, einem Haus ohne Heimat. Es ist berichtet, dass die Schergen auf eines Wert legten, nämlich darauf, dass sie ihren Namen verloren. Und dann ist berichtet, dass nun ausdrücklich gerade auf diesen Namen sie alle, diese Söhne, Töchter und Enkel, mit der ganzen Leidenschaft Wert legten und dass sie ungeachtet der Aufseher zur Rechten und Linken dann plötzlich rufen konnten – ein kleiner Wunsch –, ich heiße und dann kam ein Vorname und dann Goerdeler. Und des Abends, wenn die SS-Aufseher gegangen waren, sagten auch die anderen, ich heiße und dann folgten eben die Namen, an die wir jetzt in dieser Stunde denken und die mit dem Bewusstsein der Nation in Verbindung bleiben müssen; ebenso wie wir in aller Strenge und Wahrheit auch die anderen Namen nicht vergessen und vergessen dürfen, die Namen der Mörder und der Mordhelfer und der Denunzianten, die in dieser Stunde nicht genannt werden können, weil wir ihnen dieses Kennen nicht antun dürfen, genannt zu werden in einem Atem mit den anderen.

Aber auch die anderen Namen können wir nicht nennen, es sind ihrer zu viele. Und noch weniger können wir jetzt von Zahlen sprechen, von den Hunderttausenden aus dem europäischen Widerstand, von den Millionen umgebrachter Juden, an die im Besonderen auch der Stein, diese Urne da drüben erinnert, die neu aufgestellt ist, aus der Asche der Konzentrationslager. Wir können die Namen nicht nennen und wenn wir einige nun nennen, wenn wir also nun sagen: Stauffenberg und Tresckow, Otto Hirsch und Julius Leber, Johanna Kirchner, Edith Stein, den Pater Delp, Dietrich Bonhoeffer, Moltke, Yorck und Harnack, dann soll das nur eben heißen, dass die Stände, aus denen sie kamen, wir sagen also: das Militär oder der Adel oder die Bekennende Kirche oder die Ordensgeistlichkeit oder die Sozialisten und die Kommunisten oder Israel, sie alle, dass keiner von den Ständen vorher auserwählt war, das Rechte zu tun und dass es in jedem Stande Auserwählte gab. Und hinter jedem Namen, den wir kannten, stehen viele Namen, die wir nicht kennen können.

Wir sprechen, meine verehrten Hörer, nicht von Helden und Heiligen, obwohl das, was ein Stück des Helden ist, gerade in ihnen allen gewesen ist, dies nämlich: „Gehe aus deinem Vaterland und aus deiner Freundschaft“, dies, dass sie immer wieder gerade das verlassen mussten, was ihr Teil war, immer jeweils ihre Herkunft, ihren Verband, ihren Zusammenhang – verlassen mussten etwa ihr Temperament, das vielleicht bei dem einen draufgängerisch, bei dem einen aber ganz ausdrücklich zögernd und behutsam gewesen ist – verlassen mussten das Bewusstsein ihrer Herkünfte und der Überlieferungen und alles dessen, was in der Überlieferung für die etwa, um nur eines zu nennen, der Eid bedeutet hat –, verlassen mussten die Ruhe der Natur und das ruhige und einfältige Gewissen eines Menschen, der es halbwegs auch noch unter der Tyrannei ein wenig ruhig und anpassungsfähig und halbwegs bequem haben möchte und könnte. Das alles war zurückzulassen, denn hier war nicht nach dem gefragt, was einer war und nach dem, was einer ist, sondern nach dem, was aus ihm und was aus dem anvertrauten Leben, welches das Leben des Vaterlandes heißt, werden soll.

Und von Heiligen, ja nun also doch eben dies wenigstens, dieses eine Stück, das von jener in die Welt der Heiligkeit weist, und dass wir mit dem Wort von der Heiterkeit am ehesten bezeichnen mögen, jene Heiterkeit, die etwa in Moltkes letztem Brief spürbar ist, spürbar als die Vorstellung von dem Pfeil, wie weit also etwa Menschentum in dieser Welt fliegen kann, wie weit es nun sich aus allem dem, was Netz und Wirrnis der Welt ist, lösen kann, so dass wir noch jetzt, wenn wir die Dokumente, wenn wir Annedore Lebers Buch: „Das Gewissen steht auf“ aufschlagen, immer wieder her- und hinzucken, zucken bis zu den Worten der Kleopatra aus Shakespeare: „Oh, unbegrenzter Mut, kommst du so lächelnd und frei vom großen Netz der Welt“.

Meine verehrten Hörer, wir möchten niemanden kränken, der in all diesen Jahren nach 1945 Last und Verantwortung, die Führung auf sich genommen hat. Aber wir können doch das Buch „Das Gewissen steht auf“, in dem ausnahmsweise wirklich zu Recht Wort und Bild beisammen sind, nicht durchblättern. Wir können nun einfach wieder sagen, ich kenne einen Namen oder zwei Namen, wo ich viele Namen sagen könnte. Wir können nun einfach Joseph Wirmers oder Reichweins Gesicht nicht ansehen, ohne mit dem einfältigen Seufzen umzugehen, dass das, was uns in diesem Buch vor Augen gestellt ist, die verlorene Elite der Nation ist.

Und doch, also nicht Helden und Heilige und nicht Vollendungsglanz, sondern Fragment. Das Fragmentarische aller dieser Versuche, das Ungewisse aller der Wege, auch das Undeutliche, selbst noch der Ziele sichtbar macht, der die Luftlöcher wohl spürt, die da und dort in dem allen geblieben sind und doch ist mitten in dem allen spürbar auch das, was Anfang 1945 ein dänischer Matrose gesagt hat: „Ich bin auf einem Weg gegangen, den ich nicht bereue und ich glaube, dass ich nun einen Zusammenhang sehen kann.“ Fragmentarisch, meine verehrten Freunde, d.h. das Unvollendete will Vollender. Lassen wir Vollender, hüten wir uns vor großen Worten. Niemand vollendet. Sagen wir: das Unvollendete will mehr als Bewahrer, mehr als Erinnerer, es will Aufnehmende, es will Gehorsame, es will Fortsetzer.

Die große Arbeit, die zu leisten war, die alte und immer neue Arbeit – Freiheit und Recht in beruhigten Zeiten einer Nation zum unveräußerlichen Lebensbesitz zu machen, damit es in unberuhigten Zeiten nicht mehr neu gelockert werden muss, wo vergleichen nicht gelernt werden kann. Diese Aufgabe will das Wagnis. Das Wagnis heißt, dass es ein Ende nehmen muss mit der Wassersuppe des „Sowohl-als-auch“, dass es ein Ende nehmen muss, „Ich möchte, jawohl grundsätzlich schon, aber leider bis jetzt“, dass es ein Ende nehmen muss mit allem dem, was uns nur bis an einen Punkt führt, wo wir die Dinge scheinbar bewegen und sie im Grunde nicht bewegen. Sie bleiben auf der gleichen Stelle. Wir sprechen, wenn wir das Wort Wagnis sagen, nicht der Starrköpfigkeit das Wort. Aber ist es unter uns allen ganz gleich, wie wir über die Dinge gestern und heute denken. Eine gemeinsame Überzeugung erwacht, dass es sehr wichtig ist, wenn jemand plötzlich es wagt, er selbst zu sein und das heißt nicht nur ja, sondern auch ein nein zu sagen. Es ist recht und gut getan, dass uns etwas wie die 18 Göttinger noch beschäftigt hat. Es ist recht und gut, dass uns Minister und Publizisten, die ihre Ämter verlassen, beschäftigen, ganz gleich, wie wir im Einzelnen zu ihnen stehen. Einfach dies uns beschäftigen, dass es recht getan sein kann, ja und recht getan sein kann, nein zu sagen.

Die Welt ist nicht so beschaffen, dass man in ihr jetzt zur Stunde es allen und alle Zeit recht machen kann, darf und soll. Die Welt ist vielmehr je und je so beschaffen, dass der Platz zwischen den Stühlen oder – sagen wir es offen – geradewegs der Platz in den Nesseln, zwar kein angenehmer, aber nun eben in dieser Stunde je dann der gebotene Platz sein kann.

Nun sind sie in das Schweigen des Todes entrückt und haben das Unvollendete uns überlassen. Das Wagnis und die Bereitschaft, welche Bereitschaft darf ich sagen: die Bereitschaft, niemals außer Hörweite mehr zu kommen zwischen denen, die sich im Widerstand in der Welt zusammenfanden von so vielen Seiten her. Wir werden gerade auch den Widerstand des Auslands nicht vergessen und das Wort eines Tischlers aus Italien in dieser Stunde sehr wohl mithören, der davon spricht in seinem letzten Brief, dass es immer beides gibt, Akteure und Zuschauer, und dass er einen Platz am liebsten doch bei den Akteuren gehabt habe, und dann hinzufügt als letzten Satz: Nicht umsonst zimmern wir die Betten, in denen die anderen schlafen.

Nicht außer Hörweite, d.h. zwischen denen, die sich auf ein gemeinsames Ziel zusammenfanden, waren Spannungen großer Weite. Sie waren in Herkünften, in den Ahnenhallen, aus denen sie kamen, weit voneinander entfernt und haben das nicht verleugnet und durften das nicht verleugnen, aber sie haben sich nun in Hörweite zueinander begeben können. Und es will mir scheinen, dass das die Aufgabe einer solchen Stunde ist, dass man dieses Nicht-mehr-außer-Hörweite-Kommen über sehr viele Grenzen und Vorhänge hin nun lehren und praktizieren muss. Ich spreche, verehrte Hörer, keiner Traumliebe das Wort. – Und nichts, was etwa heißen sollte, dass man Klugheit und Wachsamkeit in der Garderobe ablegen dürfe wie einen Hut, soll hier gesagt werden, aber ich spreche davon, dass das Nicht-außer-Hörweite-Kommen heißt: nicht nur mit dem Menschen von gestern rechnen, den man zu kennen glaubt, sondern zu rechnen mit dem Menschen, der heute und morgen ein ganz anderer sein könnte, und mit dem man heute nun wieder in großer Überraschung und großem Erstaunen und nie ermüdender Geduld und Bereitschaft neu sprechen und neu zusammenzukommen versuchen müsste.

Und ich spreche von dem, was mit dem Wort Opfer gesagt ist. Über den Widerstand fällt einem immer wieder jene alte biblische Geschichte von Samson ein, von dem, der diese Säulen umklammerte und unter den Säulen zusammenstürzte. Es war wohl sichtbar, dass diese eine Sache zu groß und zu schwer für einen Einzelnen war und die, die da einzeln waren, haben es ruhig und streng, einfältig und ganz ohne Pathos ausgesprochen, wie Julius Leber es tat: „Für eine so gute und gerechte Sache ist das Opfer des eigenen Lebens der gerechte Preis“. Von diesem Opfer ist zu sagen, dass es für uns immer wieder nicht nur ein Opfer unserer Bequemlichkeit, nicht nur ein Opfer unserer überkommenden Anschauungen, nicht nur ein Opfer von viel Ruhe und Sicherheit ist, sondern wirklich auch jenes Gewissensopfer. Es muss für einen Mann wie Dietrich Bonhoeffer keine leichte Sache gewesen sein, sich zwischen Ja und Nein zum Tyrannenmord doch zu dem Ja durchzufinden und dabei wohl zu wissen, dass das nicht anders sein kann, denn dass man auch unter die Opfer, unter das, was in der Welt einzuschmelzen ist, auch daran gibt die freundliche Friedlichkeit eines wohlruhenden und bequem schlafenden Gewissens.

Aber es führt von hier aus ein weiter Weg und auch kein leichter sondern ein guter Weg bis in die alte Rabbinerweisheit hinaus. Es gibt kein ganzeres Ding als ein zerbrochenes Herz. Ein polnisches Mädchen hat, als es eines von den Opfern des 20. Juli bis zuletzt begleitet hat, in einem einfältigen Brieflein hier aus Plötzensee heraus geschrieben: „Ich habe nun so viele gute Menschen sterben sehen, dass ich gar nicht mehr weiß, ob noch welche übriggeblieben sind.“ Das ist an uns gefragt und darin sind wir beauftragt. Wie wir beauftragt sind, meine verehrten Hörer, das lassen sie mich zuletzt in einem Gleichnis, in einem kleinen Bericht sagen, den wir Martin Buber verdanken. Martin Buber erzählt, er habe als Kind eine alte jüdische Sage gelesen, die er nicht verstanden habe. Sie bestand aus einem einzigen Satz: „Vor den Toren der Stadt Rom sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias. Daraufhin sei der Knabe zu einem alten Mann gegangen und habe ihn gefragt, worauf wartet er. Da sagte der alte Mann eine Antwort, die ich damals nicht verstanden habe und die ich ein Leben lang verstehen lernen musste. Er sagte: Auf Dich“.

Mein verehrter Hörer, das Reich, an das wir denken, jenes Reich, in dem wir persönlich atmend, d.h. in Freiheit miteinander, d.h. in Frieden leben können, ist, wir vermischen die Sphäre nicht, nicht das Reich Gottes, etwas wie Vorklang und Abglanz davon. Und wenn Trauer nun wirklich nicht das ist, was es nicht ist, nämlich ein Gefühl rückwärtsgewandt, sondern das, was es ist, nämlich eine verbindende Kraft, dann ist es in uns in dieser Stunde, auf diese Weise, die wir mit den Worten von Wagnis, Bereitschaft und Opfer erkannten, gegenwärtig. Dann ist unsere Sorge nicht die Sorge um die, an die wir denken. Um sie ist nicht zu sorgen. Über ihren Weg ist wohl gesagt: „Und sinkt mein Kahn, sinkt er zu neuen Meeren.“ Zu sorgen ist nur um uns, zu sorgen ist nur darum, dass wir mit der gesammelten Kraft unseres Herzens hören, worauf denn? „Gewartet wird auf Dich!“






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19.07.1957
 Franz Amrehn
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