"Im Kreuz Jesu ist Gott für uns"

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Carsten Bolz

„Im Kreuz Jesu ist Gott für uns“

Ansprache von Pfarrer Carsten Bolz am 20. Juli 2003 in der Kirche Maria Regina Martyrum, Berlin

Ansprache mit 1. Kor 1,18-25 in Erinnerung an Harald Poelchau

Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist's eine Gotteskraft. Denn es steht geschrieben (Jesaja 29,14): „Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.“

Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht?

Denn weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben. Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind, und die Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind.

Liebe Gemeinde,

am Abend dieses 20. Juli 2003 möchte ich einen in den Mittelpunkt meiner Gedanken stellen, einen, der ganz eng in diesen Zusammenhang gehört, einen, den wir vielleicht in den zurückliegenden Jahren hier ein wenig aus dem Blick verloren haben. In diesem Jahr würde er am 5. Oktober seinen 100sten Geburtstag feiern; Grund für mich, ihn uns heute schon einmal in unser Bewusstsein zu rufen: Ich rede – Sie wissen es – von Harald Poelchau, Gefängnispfarrer in Tegel und dann auch in Plötzensee, einer, der viele von denen, derer wir heute gedenken, in ihren letzten Stunden, auf ihrem letzten Weg zur Hinrichtung begleitet hat - gemeinsam mit seinem katholischen Kollegen, dem Pater Peter Buchholz, den wir bei diesem Anlass auch nicht vergessen wollen.

Ich will nun nicht den Lebenslauf von Harald Poelchau nachzeichnen – dazu ist hier nicht der Anlass und auch nicht die Zeit. Nur kurz: 1903 in Potsdam geboren, ist er dann im elterlichen Pfarrhaus in Brauchitschdorf in Schlesien aufgewachsen, hat später Theologie studiert – geprägt vor allem von seinem Lehrer Paul Tillich und später dann in Berlin von Carl Mennicke, bei denen er das Denken der Religiösen Sozialisten kennen gelernt hat.

Im Herbst 1932 bewarb er sich um eine Gefängnispfarrstelle in Berlin-Tegel. Poelchau wurde zum 1. April 1933 „auf Probe“ in diese Stelle berufen – Gefängnispfarrer waren Angestellte des Staates und nicht der Kirche! So wurde der religiöse Sozialist Poelchau, der am 1. Juli 1933 seine Festanstellung erhielt, der erste in der Amtszeit eines NS-Ministers berufene Strafanstaltspfarrer.

Harald Poelchau arbeitete in dieser Stelle bis 1945. In dieser Zeit arbeitete er auch aktiv im Kreisauer Kreis mit und engagierte sich – mit seiner Frau Dorothee - von der Weddinger Wohnung aus aktiv im Widerstand. Er ist dafür noch kurz vor seinem Tod in Yad Vashem als Gerechter der Völker geehrt worden.

Für viele Gefangene konnte er Nachrichten aus dem Gefängnis heraus und hinein bringen. Vieles, was uns an Dokumenten und Abschiedsbriefen der Männer und Frauen des 20. Juli bekannt ist, danken wir auch seinen „Botendiensten“.

Nach dem Krieg war Harald Poelchau der erste Sozialpfarrer der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und baute den „Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt“ mit auf. Harald Poelchau starb am 29.4.1972.

Das mag uns an biographischen Daten genügen. In der Vorbereitung auf diesen Abend haben mich vor allem zwei Fragen beschäftigt: Zum Ersten: Wie kann ein Mensch, auch wenn er Pfarrer ist, das ertragen, aushalten, mehr als 1000 Menschen zu ihrer Hinrichtung zu begleiten? Und zum Zweiten: Wie schätzte Harald Poelchau, der ja selber im Kreisauer Kreis mitgearbeitet hat, diesen misslungenen Attentatsversuch vom 20. Juli später ein? Ich will Antworten andeuten, auf die ich gestoßen bin.

Das erste: Wie kann man das ertragen, Menschen auf diesem letzten Weg zu begleiten? Wie kann man das ertragen und nicht irrewerden, wenn darunter sogar Menschen sind, die man gut kennt? Harald Poelchau selber antwortete 1970 Werner Maser in Interviews zu diesen und anderen Fragen. Ich zitiere daraus zwei Abschnitte:

Poelchau berichtet von seiner ersten Hinrichtung, zu der er als Dienstjüngster gerufen wurde. Er fand das nicht gerecht, erkennt aber bald. „Hier werde ich gefordert, wie nie zuvor. Es war im Grunde nicht entscheidend, ob es sich um einen politischen Gefangenen oder um einen Kriminellen handelte. Immer handelte es sich um einen armen Menschen an der Grenze des Lebens, an der Grenze des Todes, und man hatte für ihn mit allen Kräften der Seele da zu sein. Freilich, wenn man mir damals gesagt hätte, dass im Laufe von zehn Jahren noch mehr als 1000 folgen würden, wäre ich wahrscheinlich doch zurückgeschreckt. Ich hätte meinen Beruf gewechselt. Nachträglich gesehen muss ich sagen, dass das falsch gewesen wäre, denn ich wurde einfach gebraucht!“ (Werner Maser, Der Mann, der tausend Tode starb, Rastatt 1986, S. 60)

Und an anderer Stelle fährt er fort: „Ich kann nicht sagen, dass ich in Verzweiflung und Misstrauen gestürzt worden wäre. Ich habe immer gespürt, dass Gottes ‚Ja’ zu unserer Welt auch für die Ärmsten und Verfolgten galt, für die zum Tode Verurteilten. Und daraus habe ich selber Kraft geschöpft. Die Arbeit und die seelische Kraft, die man hineingab, bekam man dadurch wieder, nicht nur dass einen die Beamten stützten, sondern dass man aus den Augen der Gefangenen merkte, die man begleitete, dass man hier eine wirklich sinnvolle Arbeit geleistet hatte, vielleicht die sinnvollste im ganzen Leben. Wenn ich mit Menschen zusammen sein konnte, die keine Hoffnung mehr hatten, wenn ich mit ihnen das letzte Gebet sprach und mit ihnen die Kraft zum Durchhalten aus der Ewigkeit erbat, die Kraft, die ich selber so nötig brauchte. Heute, ein halbes Menschenleben später, danke ich Gott dafür, dass er mich jene Arbeit tun ließ und dass er mich durchhalten ließ!“ (a.a.O. S. 57f)

Als Zweites und Abschließendes meines heutigen Erinnerns an Harald Poelchau möchte ich uns einige Gedanken nahe bringen, die ihn in Bezug auf den 20. Juli 1944 beschäftigt haben. Er hat sie zum 10. Jahrestag dieses Attentats 1954 aufgeschrieben. Poelchau greift dabei auf die Tageslosung des 20. Juli 1944 aus dem Römerbrief zurück: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ lautete sie. Das misslungene Attentat – so berichtet er – ließ später in den vertrauten Gesprächen in den Zellen die Frage aufkommen, ob es etwa doch für jenen Führer gegolten haben sollte, der sich immer auf die Vorsehung berief.

„Zunächst einmal“ so Poelchau „ist dieses sicher: Gott hat den Plan der Männer vom 20. Juli nicht bestätigt. Gott hat sein ‚Nein’ dazu gesprochen. ... Gott hat den Plan der Gewalt nicht bestätigt.“ „Das zweite aber, das gesagt werden muss“ fährt er fort, „ist doch dieses: die Männer, die diesen Plan hatten, die Bewegung, die dahinter stand - ... – diese Männer waren für Gott, auch wenn Gott nicht für sie war, wie unser Text anzudeuten scheint.“ Die Männer des 20. Juli seien für Gott gewesen, weil sie klar sahen, „dass nun gehandelt werden musste um Gottes und um unseres Volkes willen.“

„Und trotzdem“ so Poelchau „Gott hat sie nicht bestätigt.“

Die Antwort auf die bedrängende Frage, wie die Losung des 20. Juli 1944 dann aber im Verhältnis zum misslungenen Attentat verstanden werden kann, findet Poelchau in der Bedeutung des Kreuzes Jesu: „Nicht unser ‚für Gott’ ist der Maßstab, nach dem sich Gott zu uns hält“ schreibt er. „Gott hat entschieden über uns, sehr viel früher als wir für ihn gekämpft haben. ... ‚Meinen Leib für euch gegeben, mein Blut für euch vergossen.’ So ist Gott ‚für uns’ vor allen unseren Entscheidungen, vor allen unseren Verdiensten. Das ‚für uns’ besteht und hat Bestand für die Männer des 20. Juli. Deshalb hat es sie auch getragen und getröstet.

Es ist gewiss, dass in unseren Gesprächen gefragt wurde, ob es richtig oder falsch war, ob dieses oder jenes anders hätte gemacht werden können. Aber im Angesicht des Abschieds war das ‚für euch’ Gottes wichtiger als die Diskussionen.“

So zitiert Poelchau am Ende seines Artikels als ein Beispiel Friedrich Justus Perels, der dieses „für euch“ besonders lebendig, tröstend und aufrichtend – auch in der Verlassenheit seiner Zelle empfand und schrieb: „Heute am Karfreitag, steht der ganze große Trost des Kreuzes Christi unmittelbar vor unsern Augen. Das ist eine starke und ewige Gewissheit, dass Er für unsere Sünden dahingegeben ist und dass wir durch Seine Wunden geheilt sind. Diese Gewissheit gibt Er uns und macht uns damit in der großen Trübsal fröhlich und reißt uns aus der Angst und Qual. Das erfahre ich hier in ganz reichem Maße. Und daran und an nichts anderes dürft und sollt Ihr Euch auch halten.“ (zitiert nach Harald Poelchau, Zum 20. Juli 1944, in „unterwegs“ 4/1954, S.206ff)

Und so fügen sich Poelchaus Gedanken zu unserer heutigen Lesung. Wir haben es ja gehört: Im Kreuz Jesu ist Gott für uns:

„Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist's eine Gotteskraft. ... Denn die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind, und die Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind.“ Amen.

© Pfarrer Carsten Bolz