In den Fängen des NS-Staates - Schicksale meiner Familie in der Nazi-Zeit

Dr. Tilman Pünder am 01.12.2021 in der Bucerius Law School

Dr. Tilman Pünder


Studium Generale-Veranstaltung in der Bucerius-Law-School, Hamburg am 1. Dezember 2021


Lassen Sie mich zu Beginn etwas zu meiner „Provenienz“ sagen. Ich bin ein spätes Kind der Weimarer Republik; in deren allerletzter Phase wurde ich geboren – am 27. Dezember 1932. Gut ein Monat später „ergriff“ Adolf Hitler „die Macht“. Ich wurde also in den werdenden NS-Staat hineingeboren. Aufstieg und Fall des Regimes habe ich in meiner Familie als Kind und Jugendlicher erlebt. Darüber möchte ich Ihnen heute, sozusagen als Zeitzeuge, einiges vortragen.


I.


Schon dass mein Geburtsort die Stadt Münster war, hatte etwas mit den politischen Zeitumständen zu tun. Neun Monate zuvor lebten nämlich meine Eltern mit ihren damals drei Kindern in Berlin, der Reichshauptstadt. Wohnsitz war eine Dienstwohnung in der Reichskanzlei. Mein Vater Hermann Pünder war deren Chef. Er bekleidete im Range eines Staatssekretärs eine Schlüsselposition im damaligen Reich, an der Schnittstelle zwischen Reichsverwaltung und Politik. Die Reichskanzler wechselten häufig. Hermann Pünder aber blieb stets im Amt; innerhalb der Reichsregierung war er der ruhende Pol.


Als aber im Mai 1932 Reichspräsident von Hindenburg dem Reichskanzler Heinrich Brüning das Vertrauen entzog, und eine so unzuverlässige Persönlichkeit wie Franz von Papen zum Nachfolger berief, gab es für meinen Vater in der obersten Schaltzentrale des Reiches kein Bleiben mehr. Er hatte, wie er selbst es damals bekundete, den „richtigen Riecher“. Ihm schwante Böses. In einer Ära Papen sah er erklärtermaßen eine Vorstufe zu dem von den Nazis propagierten „Dritten Reich“. Dem wollte er durch ein Verbleiben im Amt keinen Vorschub leisten.


Gleichwohl fiel mein Vater mit seinem Ausscheiden aus der Reichskanzlei nicht ins politisch Bodenlose. Er wurde im westfälischen Münster zum Regierungspräsidenten berufen. Und hier wurde ich geboren.


Nur acht Monate blieb mein Vater im Amt. Dann hatte ihn die „Nationale Revolution“ eingeholt. Wenn er damals – wie viele Zeitgenossen – der sich unaufhaltsam zur Staatspartei entwickelnden NSDAP beigetreten wäre, hätte er Regierungspräsident bleiben können. Entsprechende Avancen des Gauleiters lehnte mein Vater aber ab. Im Mai 1933 enthob ihn daher der (kommissarische) preußische Innenminister Hermann Göring seines Amtes. Mein Vater war einerseits erleichtert, dem neuen Regime mit seinen immer deutlicher hervortretenden totalitären Merkmalen nicht dienen zu müssen, andererseits – gerade erst einmal 45 Jahre alt – empört, als Berufsbeamter, der dem Staat in Krieg und Frieden treu gedient hatte, von den neuen Machthabern unter Berufung auf das ominöse Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen worden zu sein.


In der Anfangsphase gelang dem Nationalsozialismus manches, was auch die Republik von Weimar beharrlich angestrebt hatte, vor allem der Abbau der Riesenarbeitslosigkeit. Dieses „Rettungswerk des Führers“ stieß auf viel Zustimmung. In dieser Zeit erfasste die „Gleichschaltung“ innerhalb von nur wenigen Monaten fast alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Aller öffentlichen Funktionen ledig, brauchte mein Vater gegenüber dem Regime keine Kompromisse einzugehen. Als einstmals hoher Reichsbeamter bezog er eine auskömmliche Pension. Damit befand er sich in einer besseren Lage als viele anderen Funktionsträger des alten Systems, die sich nun in einem beruflichen Vakuum befanden.


In einer Randlage Münsters erwarb mein Vater ein kleines landwirtschaftliches Anwesen, das er nach und nach zu einem Nebenerwerbsbetrieb zu entwickeln trachtete. Als dann im September 1939 der Krieg ausbrach, wurde er als Reserveoffizier des Ersten Weltkrieges wie alle mittleren Altersjahrgänge zum Militärdienst einberufen. Als Hauptmann, später Major war er in einer nachgeordneten Funktion in einer Stabsstelle des deutschen Ersatzheeres in Münster beschäftigt.


In dem beachtlich großen Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern war kaum einer “begeistert“, wie man diejenigen bezeichnete, die aus welchen Gründen auch immer dem nationalsozialistischen Zeitgeist anhingen. Gleichwohl ließen meine Eltern in der externen Kommunikation Vorsicht walten. Wir Kinder taten desgleichen. „Klartext“ über die politischen Verhältnisse sprachen wir eigentlich nur innerhalb der Familie. In einem relativen Freiraum schwebte das Weitererzählen politischer, sogenannter „Flüsterwitze“. Das Hören des Britischen Rundfunks, der BBC, war im Krieg strikt verboten. Gleichwohl tat man es.


Wir Kinder waren alle in der „Hitler-Jugend“ erfasst. Die ursprüngliche Zugehörigkeit meines Bruders Hermann (Jahrgang 1924) im Bund der katholische0n Gymnasiasten „Neudeutschland“ (ND) rückte nach dem radikalen Umbruch rasch in den Hintergrund. Für meine Eltern war die Zugehörigkeit ihrer Kinder zur nationalsozialistischen Staatsjugend eine Realität, die sie als gegeben akzeptierten. Die Hitler-Jugend übernahm in geschickter Weise vieles aus der bündischen Jugendbewegung: Liedgut, Kluft und Fahrten-Romantik. Und der Slogan „Jugend muss durch Jugend geführt werden“ leuchtete ein.


Sparsam bestückt war das von meinen Eltern vorgehaltene nazistische Accessoire. Ein „Führer-Bild“ gehörte in jeden Haushalt. Bei uns wurde es aber nur in Ausnahmefällen aufgestellt, z.B. einmal, als der Ortsgruppenleiter der NSDAP erschien, um meiner Mutter, die fünf Kinder zur Welt gebracht hatte, das Mutterkreuz in Bronze zu überreichen – was sie übrigens trotz des unverkennbar ideologischen Hintergrundes der Auszeichnung sehr erfreute, ohne den Orden allerdings je zu tragen. Wir besaßen auch eine Hakenkreuzfahne, die aber nur an Tagen der „Bewegung“ gehisst wurde. Solches zu unterlassen, hätte gefährlich werden können.


II.


Wie existentiell gefährlich ein Abweichen von dem im NS-Staat geforderten Normverhalten werden konnte, musste unsere Familie gleich mehrfach schmerzlich erfahren. Diese Fälle haben unsere Einstellung zum Nationalsozialismus frühzeitig und nachhaltig geprägt. Gegen die Verführung, sich dem Regime anzupassen, waren wir für immer immun. Dies war – sozusagen – unsere Familienräson.


1.


Zu den ersten Opfern des nationalsozialistischen Staatsterrors gehörte mein Onkel Dr. Erich Klausener, ein Vetter meiner Mutter. (Meine Großmutter und Klauseners Mutter waren Schwestern).


Der Düsseldorfer Jurist hatte nach dem Weltkrieg eine steile Karriere durchlaufen. Schon mit jungen Jahren wurde er Landrat - zunächst (1917) im kleinsten, später (1920) im größten Landkreis Preußens (Adenau, Recklinghausen).


In Recklinghausen galt der Zentrumspolitiker als der „rote Landrat“, weil er eine betont soziale Kommunalpolitik betrieb und vor einer Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten und Kommunisten nicht zurückschreckte. 1925 wurde er als Ministerialdirektor in die Ministerialverwaltung Preußens berufen, zunächst im Wohlfahrts-, später im Innenministerium. Als „Chef der preußischen Polizei“ oblag ihm der Schutz der Republik gegen deren Feinde von rechts und von links. In dieser Aufgabe machte er sich die Nazis zu erbitterten Feinden. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 wurde er deshalb seines Postens enthoben und auf eine eher unpolitische Position im Reichsverkehrsministerium abgeschoben.


Im deutschen Laien-Katholizismus bekleidete mein Onkel ein wichtiges Amt: Er war Leiter der „Katholischen Aktion“ in der Reichshauptstadt. Als charismatischer Führer einer in der Öffentlichkeit selbstbewusst auftretenden katholischen Laienbewegung bemühte er sich in den aufwühlenden Wochen der „nationalen Erhebung“ arglos um ein Miteinander von Staat, nationalsozialistischer Bewegung und Kirche, scheute gleichwohl vor klaren Abgrenzungen zu den totalitären Anmaßungen des Regimes nicht zurück. Der Austragungsort dieses Aufbegehrens gegen die „Gleichschaltung“ waren von Zehntausenden Katholiken Berlins besuchte Großkundgebungen in Stadien und Hallen.


Als sich Hitler am 30. Juni 1934 in Bayern in brutaler Weise seiner innerparteilichen Gegner in der SA entledigte und dabei auch seinen Duz-Freund und Reichsminister Ernst Röhm erschießen ließ, nutzte Hermann Göring in Berlin die Gunst der Stunde, um einige notorische Gegner der Bewegung kaltblutig liquidieren zu lassen. Zu den Opfern gehörte auch mein Onkel.


Chef der Gestapo war damals Reinhard Heydrich. Er war es, der am 30. Juni 1934 im Auftrag Hermann Görings einem SS-Hauptsturmführer den Auftrag erteilte, den Ministerialdirektor. Dr. Erich Klausner im Reichsverkehrsministerium aufzusuchen und ihn persönlich zu liquidieren. Klausener sei ein bekannter und gefährlicher Katholikenführer, der gemeinsam mit der SA-gegen den Führer konspiriere.


An der Spitze eines 18-köpfigen SS-Begleitkommandos begab sich der Täter in Klauseners Büro und eröffnete diesem, dass er wegen staatsfeindlichen Verhaltens verhaftet sei. Beim Verlassen des Raumes schoss er Klausener aus 1 ½ m Entfernung mit seiner privaten Pistole in die rechte hintere Schädelseite. Klausener stürzt sofort tot zu Boden. Alsdann griff der Täter zum Telefon und erstattet seinem Auftraggeber Vollzugsmeldung. Heydrich wies ihn an, die Pistole neben Klauseners Arm zu legen und dadurch einen Selbstmord vorzutäuschen.


Die offizielle Version des Selbstmordes stieß bei allen, die Klauseners gläubige Gesinnung kannten, auf Ablehnung. Aber nur wenige äußerten sich in diesem Sinne klar und deutlich. Die Haltung der Kirche war zwiespältig. Zwar wurde Klausener in Anwesenheit des Bischofs kirchlich bestattet, was der kirchenamtlichen Erklärung gleichkam, dass der behauptete Selbstmord nicht zutreffe, doch wurde allen Pfarrgemeinden im Bistum empfohlen, gegenüber den Ereignissen der letzten Woche die gebotene Zurückhaltung zu beobachten , das Gesamtwohl der Kirche nicht aus dem Auge zu lassen und sich weiterer Nekrologe zu enthalten.


Die Reaktion des NS-Staates auf die Mordaktionen vom 30.Juni 1934 offenbarte in erschreckender Weise den Wegfall der Gewaltenteilung: Hitler verkörperte in seiner Person die gesamte Macht. Wenige Tage nach dem Massaker, dem etwa 250 Personen zum Opfer fielen, erließ die auf Grund des Ermächtigungsgesetzes als Gesetzgeber fungierende Reichsregierung ein Gesetz, wonach die von Hitler selbst veranlassten Geschehnisse am 30. Juni „zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe als Staatsnotwehr rechtens“ gewesen seien. Hitler bekundete im Reichstag, dass er als oberster Gerichtsherr gehandelt habe. Und die Staatsrechtslehre gab dazu eilbeflissen den dogmatischen Flankenschutz:“ Der Führer schützt das Recht“.


2.


Trotz dieser formalen Legalisierung der Morde blieben für den oft noch nach den überkommenen Normen agierenden Verwaltungsapparat des Regimes viele Detailfragen offen. Zur Klärung der Ansprüche der Hinterbliebenen der Mordopfer wurde deshalb im Dezember 1934 ein Sondergesetz geschaffen, das die Entscheidung darüber dem Reichsinnenministerium übertrug. Die Ansprüche unterlagen einer sehr kurzen Verjährungsfrist.


 


Der Bruder meines Vaters, Dr. Werner Pünder, nahm sich als Anwalt der Rechte von Witwe und Sohn des Ermordeten an. Witwengeld, Kindergeld und Lebensversicherung standen wegen des behaupteten Selbstmordes zur Disposition. Die Verhandlungen mit dem Ministerium schleppten sich wochenlang hin. Die Ansprüche drohten zu verjähren. Um die Verjährung zu unterbrechen, bedurfte es nach den Regeln des BGB der Klageerhebung. Und dazu entschloss sich Werner Pünder Ende März 1935. Die Klage zielte auf Schadensersatz und war gegen das Deutsche Reich und den Freistaat Preußen gerichtet und diese wurden durch den Reichskanzler Adolf Hitler und den Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring vertreten. In vorsichtigen, aber klaren Formulierungen legte der Anwalt dar, dass dem Ehemann und Vater des Toten nichts zur Last falle, was eine Festnahme oder gar Tötung gerechtfertigt hätte. Einer Staatsnotwehr habe es nicht bedurft, da nach den amtlichen Verlautbarungen davon auszugehen sei, dass die Handlungen gegen den Verstorbenen auf Maßnahmen von Dienststellen von Reich und Preußen beruhten, seien diese zum Schadensersatz verpflichtet.


Der Schritt meines Onkels war ungeheuer mutig. Die Reaktion der Gestapo folgte denn auch prompt. Werner Pünder wurde verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, den Fall Klausener in aller Öffentlichkeit aufzurollen und dem deutschen Staat dadurch im In- und Ausland Schaden zuzufügen. Hinter der Klage stehe das Interesse der Kirche, des Papstes und seines Nuntius´ in Deutschland sowie des deutschen Episkopats; die treibende Kraft aber sei Werner Pünder.


Während der scharfen Verhöre im Hauptquartier der Gestapo wurde meinem Onkel mehrfach die Liquidierung angedroht. Der Zwirnsfaden, an dem sein Leben im „Hausgefängnis“ der Gestapo in der berüchtigten Berliner Prinz-Albrecht-Straße hing, war dünn. Wenn er nach wochenlanger Haft Ende Mai 1935 doch noch entlassen wurde, so verdankte er dies einer Intervention der Schwedischen Gesandtschaft, deren Rechtsberater die Pünder-Kanzlei war.


Mit seiner Klage gegen Hitler und Göring, die übrigens später zu einem Vergleich führte, stand Werner Pünder damals allein. Er war der Einzige, der es in dem Unrechtsstaat gewagt hatte, „dasjenige zu tun, was nach Recht und Gesetz zu geschehen hatte.“


3.


Der dritte Fall ereignete sich 1943, mitten in der Kriegszeit, nach der Katastrophe von Stalingrad. Die deutschen Städte waren bereits stark zerstört. Der normale Schulbetrieb hatte aufgehört. In der Bevölkerung wurden unterschwellig erste Zweifel am Endsieg gehegt. Umso radikaler ging der NS-Staat gegen Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung vor. Der Terror wütete. Leo Statz, der Bruder meiner Mutter, Lieblingsonkel von uns Kindern und waschechter Düsseldorfer, fiel ihm zum Opfer.


Leo Statz gehörte der Weltkriegsgeneration an. 1898 geboren, meldet er sich als Primaner „zu den Fahnen“, gelangt noch an die Front, wird verwundet und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Als Leutnant kehrt er 1918 auf die Schulbank zurück und holt das Abitur nach. Das Militärisch-Nationale lässt ihn zunächst nicht los. Als Angehöriger von Freikorps kämpft er an der deutschen Ostgrenze und im Bürgerkrieg gegen die Spartakisten in Rheinland und Westfalen.


Doch dann drängt es ihn in einen bürgerlichen Beruf, was für Kriegsheimkehrer in dem vom Umbruch gekennzeichneten Nachkriegsdeutschland nicht leicht ist. Doch er hat Erfolg. Er wird Vorstand eines Tochterbetriebes des renommierten Düsseldorfer Familienunternehmens „Gerresheimer Glashütte“, der die Gerresheimer Flaschen mit aus einem Brunnen in der Eifel geförderten Mineralwasser, dem „Birresborner“, befüllen soll. Firmensitz ist Düsseldorf. Hier wird Leo Statz zu einem vielseitig vernetzten Mitglied eines liberaldenkenden Bürgertums im aufblühenden Düsseldorf der Zwanziger und Dreißiger Jahre. Mein Onkel ist, so wie wir ihn kennen, lebenslustig, sprüht von Geist und ist aktiv in vielen Gesellschaften, vor allem zur Pflege des Heimatgedankens und des Karnevals. Seine zur närrischen Jahreszeit verfassten Lieder sind in aller Munde.


Die Machtergreifung des Nationalsozialismus im Reich und in den Städten und Regionen empfindet Leo Statz als Zäsur. Gleichschalterische Tendenzen sind ihm zuwider. Mit Erfolg gelingt es ihm, in Düsseldorf den Karneval davon freizuhalten. Auch im privaten Umgang fühlt er sich als freier Mann. Den Mund will er sich nicht verbieten lassen. Er will weiter das sagen, was er denkt und fühlt, auch wenn es um politische und – im Krieg – um militärische Fragen geht. Diese Eigenschaft wird ihm zum Verhängnis.


Ort des Geschehens ist im Juli 1943 eine Wehrmachtkaserne in Trier. Mit dem Kantinenwirt stimmt Leo Statz, begleitet von seinem Prokuristen, das Lieferprogramm für die nächsten Wochen ab. Es fließt Alkohol. Ein Wort gibt das andere. Das Gespräch berührt die aktuellen Probleme in den rheinischen Städten, die Trümmerwüsten überall, das Leid der Zivilbevölkerung und die miesen Aussichten auf einen militärischen Sieg. Zu den Mitzechern zählen einige Wehrmachtsangehörige. Die Kantinenwirtin versucht zu beschwichtigen. Sie hat wenig Erfolg.


Die Folgen dieses kleinen Gelages sind fatal. Zu den in der Kantine Zuhörenden gehören zwei Spitzel der Trierer Gestapo. Der Prokurist, ein von Statz nicht durchschauter Nazi, hatte in teuflischer Weise der Geheimpolizei vorher einen Tipp gegeben. Sein Chef werde „loslegen“.


Wochen später, am 1. September 1943, wurde Leo Statz unverfänglich in die Trierer Leitstelle der Gestapo gebeten, verhört und dann gleich dabehalten. Kurze Zeit darauf wird er nach Berlin in das Gerichtsgefängnis Moabit geschafft und wenig später vor dem Volksgerichtshof angeklagt. Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung sind die Anklagepunkte.


Die dreistündige Hauptverhandlung am 27.Septber 1943 wurde nach Ablauf und Atmosphäre in abstoßender Weise durch den Gerichtspräsidenten, Roland Freisler, bestimmt, das Zerrbild einer richterlichen Persönlichkeit. Aus ihm sprach ungezügelter Vernichtungswille. Die für den Angeklagten sprechenden Tatbestände bagatellisierte er mit Bedacht, stellte sie entweder als unglaubwürdig oder staatsfeindlich hin. Die Funktionen meines Onkels als Leiter des Düsseldorfer Karnevals qualifizierte er als „Fastnachtskönig“ und als mein Onkel nach rheinischer Üblichkeit bei seinem Schulabschluss von „Abitür“ sprach, höhnte er dies als Zeichen undeutscher Gesinnung. Ein Zeitzeuge berichtet: „Freisler sprach fast ununterbrochen. Mal ruhig. Sachlich, plötzlich aufbrausende, tobend, ausfallend, alle Maße für Sitte und Würde verachtend, sich überschlagend, den Angeklagten beleidigend, jede unliebsame Gegenäußerung blitzschnell verdrehend, die für den Angeklagten positive Worte ins Gegenteil wendend, einschüchternd, bedrohend und alles mit großer schauspielerischer Geste unterstreichend“.


Mein Onkel mochte in diesen Augenblicken an seinen Vater Richard Statz (1858-1936) gedacht haben, der als langjähriger Vorsitzender des Düsseldorfer Schwurgerichts und Mitgründer des Deutschen Richtervereins das Ideal einer Richterpersönlichkeit verkörpert hatte.


Durch Freislers aggressive Prozessführung gedemütigt und erniedrigt, nahm mein Onkel am Schluss, seelisch und körperlich zerbrochen, den Spruch des Gerichts entgegen: Der Angeklagte „ist für immer ehrlos. Er wird mit dem Tode bestraft“.


Leo Statz verbrachte die letzten fünf Wochen seines Lebens im Zuchthaus Brandenburg-Goergen. Die Wartezeit wurde ihm zu Einkehrzeit. In einer der Todeszellen der Haftanstalt bereitete er sich, an den Händen Tag und Nacht gefesselt, auf sein nahes Ende vor. „Was ist das doch für eine Gnadenzeit, sich nur mit Gott und sich selbst beschäftigen zu dürfen!“, schrieb er uns am letzten Tag seines Lebens, am 1. November 1943. Seine Briefe, Gedichte, Aufzeichnungen und Gebete sind eine tiefbewegende Hinterlassenschaft. Sein letzter Hinweis an uns, die Familie seiner Schwester Magda, lautete mahnend: „Was tut ihr täglich fürs Seelenheil?“ Der Nachlass ist von großer spiritueller Tiefe, und zwar derart, dass Leo Statz in der Erzdiözese Köln zu den christlichen Märtyrern des 20. Jahrhundert gezählt wird.


4.


Gerade einmal neun Monate nach der Hinrichtung meines Onkels Leo Statz, im Juli 1944, im fünften Kriegsjahr, während in der Normandie die Alliierten zum Durchbruch an der Westfront ansetzen, geriet abermals ein Mitglied unserer Familie in die Fänge des NS-Staates. Diesmal ist mein Vater Hermann Pünder der Betroffene.


Ausgangspunkt ist der 20. Juli 1944. Eine seit längerem bestehenden militärisch-zivile Widerstandsgruppe unternimmt den Versuch, Adolf Hitler im ostpreußischen Führerhauptquartier zu töten und das nationalsozialistische Regime gewaltsam zu beseitigen. Das Attentat missglückt vollständig. Hitler, der bei der Explosion des Sprengstoffes nur leicht verletzt wurde, kündigt an, die verbrecherischen Elemente „unbarmherzig auszurotten.“


In den frühen Morgenstunden des 21. Juli wurde mein Vater von der Gestapo abgeholt und in deren Münsteraner Leitstelle eingehend verhört. Dieser Zugriff war Teil der „Aktion Gewitter“, die im gesamten Reich viele Angehörige des „verruchten Systems“ von Weimar erfasste. Das Attentat war nur äußerer Anlass dieser Maßnahme. Hitler ging ja davon aus, dass der Kreis der Attentäter nur klein und unbedeutend gewesen sei. Zweck der Aktion war es, die alten Eliten zu verunsichern und gründlich durchzuschütteln. Schon am Abend des 21. Juli wurde mein Vater wieder entlassen.


Doch kurze Zeit später schlug die Gestapo nochmals zu. Ohne Haftbefehl wurde mein Vater erneut abgeholt, wenig später nach Berlin abtransportiert und dort in das Gerichtsgefängnis „Lehrter Straße“ eingeliefert, (das sich dort befand, wo sich heute der Berliner Hauptbahnhof erhebt). Für meinen Vater, meine Mutter und uns Kinder war die Situation hochdramatisch. Sollte sich das Schicksal meines Onkels Leo Statz wiederholen?


Nach und nach stellten sich die Hintergründe der Verhaftung heraus. Dr. Carl Goerdeler, der zivile Führer der Widerstandgruppe, war nach dem Missglücken des Attentats zunächst in den Untergrund abgetaucht, dann aber auf Grund einer Denunziation gefasst worden. Er wurde dem Volksgerichtshof überstellt und unter Roland Freisler zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung erfolgte erst Monate später, am 2. Februar 1945. Die Gestapo nutzt diesen Zeitraum, um sich durch Verhöre die Hintergründe des Komplotts erläutern, vor allem die Namen aller Beteiligten nennen zu lassen. Und damit hatten die Vernehmer Erfolg! Goerdeler gab die Namen all jener Personen preis, mit denen er im zeitlichen Vorfeld des Attentats Kontakt gepflegt hatte – und Goerdeler hatte eine große Reisetätigkeit ausgeübt! Er nannte die abgeforderten Namen nicht etwa unter Folter. Ihm lag daran, dem Regime durch Nennung von Namen nahezubringen, dass die Verschwörung entgegen den Behauptungen Hitlers nicht lediglich von einer kleinen Clique dummer und ehrgeiziger Offiziere getragen werde, sondern von einem Großteil der Elite Deutschlands.


Zu den Kontaktpersonen, die von Goerdeler benannt wurden, gehörte auch mein Vater. In der Tat hatte der frühere Leipziger Oberbürgermeister und einstmaliger Reichssparkommissar – beide kannten sich aus den Zeiten der Weimarer Republik - im November 1942 meinen Vater in Münster besucht und ihn über seine defaitistischen Pläne und Vorstellungen informiert. Solche Informationen zu empfangen, aber nicht anzuzeigen, stand unter Strafe (§ 139 StGB), die bis zur Todesstrafe reichen konnte. Mein Vater befand sich also in akuter Gefahr.


Die Gestapo gab die Sache an die Reichsanwaltschaft ab und diese erhob Anklage vor dem Volksgerichtshof. Ehe es zur Hauptverhandlung kam, erhielt mein Vater die ihn niederschmetternde Nachricht, dass er wegen seiner „Beteiligung an den Vorgängen des 20. Juli 1944 (…) aus dem Verhältnis eines Ruhestandsbeamten“ ausgestoßen sei. „Damit sind alle Rechte aus Ihrem früheren Amt verwirkt“. Unterschrieben hatte diesen rechtsstaatswidrigen Erlass der Nach-Nachfolger meines Vaters als Chef der Reichskanzlei, der Reichsminister Lammers.


Für die Verteidigung kam es darauf an, glaubhaft darzulegen, dass das besagte Gespräch „Pünder-Goerdeler“ entgegen den Aussagen Goerdelers vor der Gestapo einen unverfänglichen, jedenfalls nicht zu einer Anzeige verpflichtenden Inhalt gehabt habe. Keinesfalls durfte offenbar werden, dass es bei uns zu Haus stattgefunden hatte, und Goerdeler sogar unser Schlafgast gewesen sei. Ich habe den Besuch noch in Erinnerung. Uns Kindern wurde damals eingeschärft, nach draußen darüber nichts zu erzählen. Irgendwie war uns der konspirative Charakter des Besuchs bewusst.


Die Hauptverhandlung fand am 21. Dezember 1944 statt. Verhandelt wurde zugleich gegen den einstigen württembergischen Staatspräsidenten Dr. Eugen Bolz, der ebenfalls mit Goerdeler in Kontakt gestanden hatte.


Bolz wurde zum Tode verurteilt, Hermann Pünder freigesprochen.


Roland Freisler zeigte in diesem Prozess zwei unterschiedliche Gesichter. Bolz fertigte er in der bei ihm gewohnten ruppig-höhnischen Art ab, während er sich in der Causa Pünder konziliant und abgewogen zeigte. Wir kennen ziemlich genau die Hintergründe dieses auffallend unterschiedlichen Verhaltens: Der in Berlin lebenden Schwester meines Vaters war es auf Grund ihres beziehungsreichen Verhaftetseins im „Katholischen Milieus“ der Reichshauptstadt gelungen, einen prominenten Fürsprecher für ihren forensisch hochgefährdeten Bruder bei Freisler zu gewinnen, keinen geringeren als den Generalintendanten der Preußischen Staatstheater und Wagnerregisseur Heinz Tietjen. Dieser war mit Freisler, wahrscheinlich über die gemeinsame Mitgliedschaft im Preußischen Staatsrat, befreundet und bereit, sich in Sympathie zu Marianne Pünder für deren ihm aus Weimarer Zeiten bekannten Bruder, den ehemaligen Staatssekretär Pünder, einzusetzen. Und dies tat er dann auch, wahrscheinlich sogar noch kurz vor Beginn der Hauptverhandlung am 21. Dezember.


Das Gericht stützte den Freispruch im Wesentlichen lapidar auf die Unglaubwürdigkeit des bereits zum Tode verurteilten Hochverräters Goerdeler und den bislang tadelfreien Lebensweg des Angeklagten Pünder. Der von Pünder vermittelten Version des Gesprächsinhalts sei eher zu glauben als der Goerdelerschen Version.


Im Rahmen der 20.Juli-Vorgänge ist das Regime gegen vier ehemalige Chefs der Reichskanzlei vorgegangen. Drei von ihnen fanden den Tod: Eduard Hamm, Franz Kempner und Erwin Planck – der Sohn des Nobelpreisträgers. Einzig Hermann Pünder kam mit dem Leben davon.


Doch der Freispruch führte nicht zur Freilassung. Der Haftbefehl wurde zwar durch das Gericht aufgehoben, mutierte dann aber zur „Schutzhaft“. Man werde das Verfahren wieder aufrollen, kündigte der zuständige Gestapo-Beamte meiner Mutter drohend an, als sie in meiner Begleitung im Reichssicherheitshauptamt Rücksprache hielt, um sich nach dem Termin der Freilassung zu erkundigen. Es waren gespenstische Umstände: Das Gebäude in der Prinz-Albrecht-Straße 8 war wegen Bombenschäden schon eine Ruine. Auf dem Schreibtisch unseres Gegenübers bemerkte ich eine Pistole, gleichsam genutzt als Art Briefbeschwerer.


Viermal hatten wir Gelegenheit, mit Sprecherlaubnis meinen Vater in der Haft zu besuchen - zweimal in der „Lehrter Straße“, einmal in einer Außenstelle des Konzentrationslagers Ravensbrück in Fürstenberg-Drögen, zuletzt am 2. Februar 1945 in einem Gestapo-Gefängnis in Potsdam. Ich war der stete Begleiter meiner Mutter, gelegentlich auch als Unterstützer, denn meine Mutter war schwerhörig.


Nach dem letzten Besuch in Potsdam brach jede Verbindung ab. Mein Vater schien verschollen zu sein. Erst nach seiner Rückkehr im Juli 1945 erfuhren wir Näheres über seine letzten Monate in den „Fängen des NS-Staats“.


Zwei Monate musste mein Vater im Konzentrationslager Buchenwald schmachten. Zusammen mit etwa 15 anderen Sonderhäftlingen war ein feuchter Keller in einer SS-Kaserne ohne Tageslicht sein grausiger Aufenthaltsort. Sein Zellennachbar war Dietrich Bonhoeffer. Ganz in der Nähe waren Sippenhäftlinge untergebracht, Familienangehörige der Hauptverschwörer beim Attentat vom 20. Juli, also der Familien Goerdeler und Stauffenberg.


Als Anfang April die amerikanischen Streitkräfte in die Nähe von Weimar vorstießen, wurden die Sonder- und die Sippenhäftlinge mit dem Ziel Süddeutschland abtransportiert.


Bei einem Zwischenaufenthalt im Bayerischen Wald wurden einige Häftlinge aus dem Konvoi herausgeholt und in das nahe Konzentrationslager Flossenbürg überstellt. Hier fanden sie den Tod. Darunter war Pastor Dietrich Bonhoeffer, der noch kurz zuvor seinen Mithäftlingen – auf Wunsch meines Vaters – im engsten Kreis eine ökumenische Andacht gehalten hatte. Es war der „Weiße Sonntag“. Die nächste Station war das Konzentrationslager Dachau. Hier traf der Konvoi mit vielen anderen, aus diversen KZs und Gefängnissen kommenden Sonderhäftlingen zusammen – Heerführer, die bei Hitler in Ungnade gefallen waren, aus politischen Gründen abgehalterte ehemalige Nazigrößen und ehemalige Politiker aus den von den Nazis besetztem Ausland, insgesamt etwa 140 Personen. Welches Schicksal war ihnen in diesen letzten Wochen des NS-Staats bestimmt? Die SS-Wachmannschaften hüllten sich in Schweigen,, Die Häftlinge vermuteten, dass sie nach dem Willen von Himmler und Kaltenbrunner als Geisel dienen sollten, wenn es, wie von diesen angestrebt, mit den Westalliierten zur Vermeidung eines verlustreichen letzten Kampfes in der „Alpenfestung“ zu Verhandlungen über ein einvernehmliches Ende des Krieges kommen sollte. Und es gebe von höchster Stelle einen Befehl, die Häftlinge als Geiseln nicht lebend in die Hand des Feindes gelangen zu lassen.


Als sich die Amerikaner Dachau näherten, wurde das Lager evakuiert. Die normalen KZ-Häftlinge wurden, soweit gehfähig, auf einen Elendsmarsch gen Süden geschickt. Zehntausende gingen hierbei zugrunde. Parallel dazu wurden die Sonder- und die Sippenhäftlinge in Bussen zunächst nach Innsbruck und dann über den Brenner nach Südtirol transportiert Hier in Niederdorf, im noch winterlichen Oberen Pustertal vollzog sich in den letzten Kriegstagen das dramatische Ende der Geiselnahme. Einer der Häftlinge, ein bei Hitler wegen Befehlsverweigerung seiner Funktionen entkleideter Oberst, hatte den Schneid, unter Umgehung der schwerbewaffneten Wachmannschaft der SS das Oberkommando Süd der deutschen Wehrmacht in Bozen zu benachrichtigen und um kameradschaftliche Hilfe zu bitten. Der Coup gelang. Die Generalität in Bozen entsandte ein mit Maschinengewehren bewaffnete Kompanie, die durch ihr besonnenes Auftraten die SS einschüchterte. Mit Billigung des obersten Generals der Waffen-SS in Italien, SS-Obergruppenführer Wolff, wurden die Häftlinge unter den Schutz der Wehrmacht gestellt. Es war der 30.April 1945, der Tag, an dem im fernen Berlin Adolf Hitler im Führerbunker der Reichskanzlei seinem Leben ein Ende setzte.


Die endgültige Freiheit erlangten die Gefangenen am 4. Mai 1945, nachdem die deutschen Truppen in Italien kapituliert hatte und die US-Army in das Pustertal einrückte. Jeder der Gefangenen konnte ein neues Leben beginnen.


5.


Lassen Sie mich abschließend von zwei Frauen aus Berlin erzählen, die auf besondere Weise dem nationalsozialistischen System widerstanden, indem sie unter dem Naziterror in Not geratenen Mitmenschen zur Seite gestanden haben. Es handelt sich um die um zehn Jahre jüngere Schwester meines Vaters Dr. Marianne Pünder und ihre Freundin Marianne Hapig.


Die „beiden Mariannen“, wie sie genannt wurden, haben nicht nur mit großer Raffinesse die Verteidigung meines Vaters vor dem Volksgerichthof gesteuert, sondern standen in ähnlicher Weise auch anderen Angeklagten oder von Anklage bedrohten Widerstandskämpfern oder deren Angehörigen bei. Durch Rat und Tat, durch trotz karger eigener Ernährungslage Überbringung von Lebensmittelpäckchen, meist unter gleichzeitiger Ein- und Herausschleusung von Kassibern und regelmäßig auch durch spirituelle Stärkung in Gestalt konsekrierter Hostien. Haupteinsatzstätte ihrer fürsorgerischen Hilfen war die Gefängnispforte der „Lehrter Straße“, wo die „beiden Mariannen“ auf dort wartende Frauen der einsitzenden Untersuchungsgefangenen trafen und Gelegenheit fanden, diesen Hinweise und Empfehlungen zur Gestaltung des Alltags in gefahrvoller Zeit zu geben. Immer wieder wurde auch der Kontakt zu dem oft biederen und gutmütigen Gefängnispersonal gesucht, die bei geschickter Ansprache durchaus die Möglichkeit hatten, die akute Situation der Gefangenen zu erleichtern. Marianne Hapig betreute auf diese Weise über viele Monate hin den im Gerichtsgefängnis Moabit eingekerkerten Jesuitenpater Alfred Delp. Ihr ist es zu danken, dass die bedeutenden, in der Haft verfassten theologischen Schriften Pater Delps den Weg aus der Gefängniszelle nach draußen fanden. Die Nachricht von seiner Hinrichtung am 2. Februar 1945 hat uns damals alle sehr erschüttert.


III.


Das Ende des Nationalsozialismus ist von den Angehörigen unserer großen Familie herbeigesehnt worden. Mir war schon als (bei Kriegsende) 12-Jähriger bewusst, dass Deutschland durch die Niederlage in die wohl schlimmste Phase seiner Geschichte geraten war. Es überwog aber die Erleichterung. Ich hatte ein Gefühl der Befreiung. Wir waren befreit von den entsetzlichen Bombenangriffen und wir waren befreit von einem inhumanen totalitären Regime, das zwei Mitgliedern unserer Familie den gewaltsamen Tod und zwei Weiteren in größte Todesgefahr gebracht hatte.


Jene Ereignisse sind auch in der Öffentlichkeit nicht in Vergessenheit geraten.



  • Viele Einrichtungen der Polizei tragen heute den Namen des von den Nazis ermordeten einstigen Chefs der preußischen Polizei. Im Bundesverkehrsministerium in Berlin ist der große Sitzungssaal nach Erich Klausener benannt, der im Zeitpunkt seiner Ermordung Leiter der Schifffahrtsabteilung gewesen war.

  • Alljährlich vergibt die Frankfurter Universität für wissenschaftliche Arbeiten, die der Stärkung des demokratischen Rechtstaats dienen, den „Werner-Pünder-Preis“; das Preisgeld stammt von jener großen Anwaltskanzlei, an deren Gründung mein Onkel in den 1950er Jahren in Frankfurt beteiligt war.

  • Die liebenswerte Persönlichkeit meines Onkels Leo Statz ist in seiner Heimatstadt unvergessen. Das größte Berufskolleg Düsseldorfs trägt seinen Namen, und der Düsseldorfer Karneval verleiht für Verdienste um das heimische Fest die „Leo-Statz-Plakette“.

  • An die „beiden Mariannen“ erinnert in Berlin-Lichterfelde eine der für die Erinnerungskultur Berlins charakteristischen „Berliner Gedenktafeln“.


Für meinen Vater war die 1944/45 erlittene Haft ein tiefer Einschnitt. Schon wenige Wochen nach seiner Rückkehr übernahm er wieder Verantwortung für Staat und Gesellschaft. In Münster gründete er mit der (späteren) CDU eine Partei neuen Typs, deren christliche und demokratische Grundlagen durch den Nationalsozialismus mit Füßen getreten worden waren. Aus dieser Zeit schöpfte er Impulse für den Aufbau eines neuen Deutschlands.