Jeder hat mit seinem eigenen Gewissen auch für sein Land einzustehen!

Eugen Gerstenmaier

Jeder hat mit seinem eigenen Gewissen auch für sein Land einzustehen!

Gedenkrede des Präsidenten des Deutschen Bundestages D. Dr. Eugen Gerstenmaier am 20. Juli 1964 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin

„Deutschland“ – war der letzte Ruf, der in diesem Hof erschallte, ehe hier in der Nacht vom 20. zum 21. Juli 1944 die tödliche Salve fiel. Sie streckte den Obersten im Generalstab Graf Claus von Stauffenberg nieder, zusammen mit anderen führenden Männern des Aufstandes: General Olbricht, Oberst Mertz von Quirnheim und den jungen Oberleutnant Werner von Haeften. Als die standrechtlich Erschossenen auf einen Lastwagen verladen wurden, um eilig-heimlich beigesetzt zu werden, wurde noch die Leiche des Generalobersten Ludwig Beck herbeigetragen.

Von seiner Hand stammten jene drei Denkschriften gegen den Krieg, in denen er im Sommer 1938 seinem obersten Befehlshaber bündig auseinander gesetzt hatte, dass und warum ein „endgültiger deutscher Sieg eine Unmöglichkeit“ sei. Nun eröffnete der ehemalige Chef des deutschen Generalstabes mit seinen Getreuen den langen Zug derer, die mit Leib und Leben, mit Kerker und Folter dafür einzustehen hatten, dass sie mit einem letzten äußersten Mittel Deutschland zu retten und weitere Hunderttausende vor der Vergasung, vor Bomben und Vernichtungsschlachten zu bewahren versuchten.

„Deutschland“: Es war das einzige Wort, das ich verstehen konnte, als es mit Stauffenbergs Ruf empordrang zu jenen Fenstern, hinter denen wir anderen, ein kleines Häuflein, das gleiche Schicksal gewärtigten. Durch Ohrenzeugen ist verbürgt, dass Claus von Stauffenberg von diesem Leben Abschied nahm mit dem Ruf: „Es lebe das heilige Deutschland!“ In den inzwischen dahingegangenen zwanzig Jahren war davon wenig die Rede. Wie mir scheint, aus mehreren Gründen. Die wichtigsten davon sind Unsicherheit und Scham. War und ist der deutsche Name nicht in Grund und Boden verunehrt? Stehen wir Deutsche auch heute – nach zwanzig Jahren – nicht mit jedem neuen Auschwitzprozess oder ähnlichem immer von neuem am Pranger? Leiden wir nicht insgeheim noch immer daran, dass wir jene Mordgesellen mit ihrem Dritten Reich haben aufkommen lassen und dass wir danach nicht selbst mit ihnen fertig geworden sind? Und ist in dieser ganzen riesigen Schuttmühle unserer jüngeren Geschichte nicht – vernünftigerweise – jede Lust und Neigung zu großen Worten abhanden gekommen? Das alles ist wahr. Wenn wir dennoch heute zusammen mit dem Staatsoberhaupt der Deutschen hierher gekommen sind, so aus Liebe und Dankbarkeit zu den Männern, Vätern, Söhnen, Freunden und Gefährten, die gegen den Tyrannen standen, und um Echo zu geben auf Claus von Stauffenbergs letzten Ruf.

An dieser Stelle und in diesem Kreis bedarf es keines Wortes, dass der Anschlag vom 20. Juli 1944 vor allem der Rettung Deutschlands galt. Wir wurden zwar als Verräter verdammt und verurteilt, und ein Nachhall davon ist – gestehen wir es uns ruhig – in Deutschland noch immer lebendig. Noch ist in diesem Land nicht jeder willens oder fähig, zu erkennen oder zuzugeben, dass es Patrioten waren, die es unternahmen, die Herrschaft der Hakenkreuzler in Deutschland zu vernichten. Noch immer muss auf jede Gemeinheit gefasst sein, wer es unternimmt, den allzu Dreisten die Stirne zu bieten; noch immer müssen Staatsanwälte bemüht werden, um die Namen teurer Toter vor Unbill zu schützen. Dennoch bedarf es keines weiteren Beweises, dass der deutsche Widerstand im Ganzen und der Angriff auf Hitler und seine Leute am 20. Juli 1944 im Besonderen nicht gemacht wurden, um Deutschlands Kriegsgegnern siegen zu helfen, sondern um in Deutschland und von Deutschland aus zu retten, was überhaupt noch zu retten war.

Das hat Geltung, auch wenn es Leute gibt, die uns vorhalten, dass wir den Gegnern Deutschlands in die Hand gearbeitet hätten, und zwar schon deshalb, weil ein hochverräterisches Unternehmen im Krieg ohnehin zum Landesverrat werde. So stand es auf unseren Haftbefehlen, vom Volksgerichtshof erlassen, und so kolportierten es seine Nachbeter bis auf den heutigen Tag. Es ist müßig, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Sie müssen verachtet oder angegriffen werden. Heute kann jeder Deutsche wissen – ich sage wissen und nicht bloß annehmen – , dass im Sommer 1944 der Krieg für Deutschland längst endgültig verloren war. Damals ging es nur noch um die Steuerung der Niederlage, um die Verhinderung so sinnlos riesiger Blutverluste, wie sie dann ähnlich wie in Stalingrad in den Kesselschlachten des Ostens auf Führerbefehl hin erbracht wurden. Es ging nur noch darum, vielen deutschen Städten ein Schicksal zu ersparen, dass einige Monate danach allein in Dresden 135.000 Tote gefordert hat. Und es ging darum, der rassenwahngepeitschten Ausrottungsaktion gegen völlig unschuldige Menschen auf jeden Fall und auf jedes Risiko hin ein Ende zu bereiten. In diesen Grenzen des damals noch für erreichbar Gehaltenen galt der 20. Juli 1944 Deutschland, seiner Zukunft und seiner Ehre.

Gewichtiger als der gegen ihn gerichtete Vorwurf des Verrats ist jedoch der andere, aus dem Ausland zu uns dringende, dass es in Deutschland erst dann Widerstand gegeben habe, als der Krieg verloren war und es uns selbst ans Leder ging. In diesem Licht erscheint der 20. Juli 1944 als eine Verzweiflungstat deutscher Nationalisten, wenn nicht bloßer Konjunkturritter. Ich will nicht sagen, dass es auf der verworrenen Bühne, die dieses Haus öfters und auch am Abend des 20. Juli darbot, keine Konjunkturritter gegeben habe. Auch heute – nach fast zwanzig Jahren – kann und darf man nicht darüber hinwegsehen, dass eben nicht nur Himmlers Leute gegen deutsche Offiziere standen, sondern dass schon zuvor – als sich die Waage zu senken begann – Offiziere der Armee ihre Kameraden schimpflich hinterrücks anfielen. Deshalb wirft auch dieser Tag nicht nur ein strahlendes Licht, sondern auch bittere Schatten auf die Geschichte der deutschen Armee.

Ein profunder Irrtum ist es jedoch, den Beginn des deutschen Widerstandes im Wesentlichen von den militärischen Niederlagen an zu datieren. Die Wahrheit über den deutschen Widerstand beginnt mit der Erkenntnis, dass es dem Nationalsozialismus niemals gelungen ist, das ganze deutsche Volk sich auch innerlich gefügig zu machen, es auch geistig und seelisch gleichzuschalten. Vom Anfang bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft gab es in Deutschland innere Bastionen, die der Nationalsozialismus niemals zu erobern vermochte. Schließlich wurden die ersten nationalsozialistischen Konzentrationslager für Deutsche gebaut. Den eigentlichen Beginn des äußeren Widerstandes datiere ich auf den 23. März 1933, den Tag, an dem der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Reichstag, Otto Wels, seine Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes begründete. Die Verwerfung der Hitlerschen Kriegspläne durch den Chef des deutschen Generalstabes, Ludwig Beck, im Jahre 1938 erfolgte mit zwingenden militärischen Gründen. Aber sie erfolgte deshalb, weil der gewissenlose Volkstribun an der Spitze des Reiches hier auf die Kraft eines überlegenen Gewissens stieß.

Es ist wahr, dass sich die christlichen Kirchen manchem viel zu eingehend darum bemühten, auch dieser Obrigkeit loyal zu begegnen. Aber es ist ebenso wahr, dass sie schließlich nicht nur mit ihrer Botschaft, sondern auch mit ihrer inneren und äußeren Hilfsbereitschaft für Unzählige zu Stätten der Zuflucht und zu Mittlern einer neuen Orientierung wurden. Es ist auch wahr, dass die Bombe in der Wolfsschanze verzweifelt spät gezündet wurde, aber man kennt noch nicht einmal die halbe Wahrheit, wenn man nicht weiß, was man längst aus erhärteten Berichten wissen kann, dass es in Deutschland spätestens seit 1938 weder an sorgfältigen Plänen noch an ersten Versuchen zur Beseitigung der nationalsozialistischen Herrschaft fehlte. Sie war jedoch tatsächlich „wie vom Teufel behütet“. Dennoch wird man diese Auskunft nicht als eine hinreichende Freistellung des deutschen Widerstandes von aller Kritik betrachten dürfen. Dafür gab es damals schon Stoff und Anlass genug. Ich war Zeuge vieler bitterer Selbstkritik im deutschen Widerstand. Sie wird übrigens die legitimste in dieser Sache sein. Denn jene, die nur darauf warteten, was andere auch für sie taten, ohne selber das kleinste Risiko einzugehen, haben ohnehin kein Recht dazu. Nach mancher bitteren Enttäuschung mussten wir uns oft selber eingestehen, dass sich nicht alles als goldene Tatkraft erwies, was zeitweilig als Widerstand glänzte. Rückblickend begreife ich dennoch auch heute, nach zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren, nicht völlig, warum und wieso der Staatsstreich nicht lange vor dem 20. Juli 1944 zustande kam. Ich weiß, dass es fast für jeden einzelnen Anschlag nüchterne Erklärungen gibt, warum er scheiterte oder gar nicht zustande kam. Aber am Ende bin ich damit auch heute in der gleichen inneren Situation, in der wir uns im Angesicht des Todes hier am späten Abend des 20. Juli 1944 befanden, als alles vorbei war: stumme Beugung. Nicht vor der Gestapo, die nach uns griff. Nein, vor dem Gott, der es uns nicht hatte gelingen lassen.

In diese Stille fiel Stauffenbergs letzter Ruf: „Es lebe unser heiliges Deutschland!“ Man kann gerechterweise nicht in Abrede stellen, dass dieses letzte Wort dem Missverständnis und der Missdeutung ausgesetzt ist. Es könnte zum Beispiel der Behauptung dienen, dass es eben doch nur verzweifelte deutsche Nationalisten gewesen seien, die am 20. Juli 1944 kämpften und starben. Sie waren jedoch keine Nationalisten. Wenn sie es je gewesen waren, so waren sie es jetzt jedenfalls nicht mehr. Aber sie waren Patrioten wie die, die von der anderen Seite kamen und als Sozialisten einst „vaterlandslose Gesellen“ geschimpft wurden. Wie ein roter Faden läuft durch die Lebens- und Leidensgeschichte, durch die Briefe und Selbstzeugnisse der Männer vom 20. Juli – gleichgültig, welcher Gruppe oder Richtung sie angehörten – das Bekenntnis zum Vaterland in dem Sinne, dass sie sich eben nicht nur für sein äußeres Schicksal verantwortlich fühlten, sondern auch für sein inneres.

In den Dokumenten des deutschen Widerstandes findet sich oft in heute schon gar nicht mehr selbstverständlichen Wendungen die tiefe Scham und Erschütterung über das, was im Namen Deutschlands bei uns und unter unseren Nachbarvölkern an Gräueln verübt wurde. Man hatte einfach keine Ahnung vom wirklichen Wesen und Niveau des deutschen Widerstandes, wenn man nicht weiß oder wahrhaben will, dass viele, als Deutschland noch lange auf der Höhe der Macht war, zu uns stießen, weil sie den Satanismus plötzlich erkannt hatten und ihm auf Gedeih und Verderb in den Arm fallen wollten. Soldaten zum Beispiel, die an Deutschlands Sieg glaubten, die aber unversehens in eine Judenliquidation im Osten geraten oder Zeuge anderer Gräuel geworden waren. Man lese zum Beispiel die Briefe des Generalleutnants Helmuth Stieff. Er und viele andere verbanden sich ohne lange Worte mit den Leidgeprüften oder seit langem Wissenden, mit den aus den Konzentrationslagern Zurückgekehrten, wie Julius Leber und Carlo Mierendorff, mit den beständig aktiven, redlich denkenden Carl Goerdeler oder Jakob Kaiser, mit Helmuth von Moltke und den Kreisauern oder anderen. So gegensätzlich sie zuweilen waren, so verschieden ihr Weg und ihre Herkunft, sie waren in einem gleich: Sie wollten Deutschland um keinen Preis den Mordbuben und Wahnsinnigen, den Frevlern und Volksbetrügern überlassen. Und sie wollten – koste es, was es wolle – , dass nicht mehr länger im Namen Deutschlands gemordet und geraubt, geschunden und gefoltert werde. Sie waren keine Klerikalen. Aber sie wollten schließlich doch das, was Claus von Stauffenberg im Angesicht des Todes das „heilige Deutschland“ nannte. Heilig ist kein bürgerlicher Moral- und auch kein nationaler Qualitätsbegriff. Heilig meint in allen großen Religionen und Kulturen das, was Gott zugehört, was ihm eignet, was ihm geweiht und darum unantastbar sein soll.

Wenn wir in dieser Stunde Claus von Stauffenbergs letzten Ruf von jener Mauer aus noch einmal hören, so vernehmen wir ihn nur dann richtig, wenn er uns nicht als Ausdruck nationaler Verstiegenheit erscheint, sondern wenn wir ihn verstehen als den letzten Wunsch eines Mannes, der sich für Deutschland opferte, damit wir mit unserem Land, unserer Geschichte, unserem Wollen und unseren Sünden wieder zur Gottesfurcht zurückfinden möchten. Damit auch in Deutschland wieder gelte, was sich als wahrhaft groß, als wahrhaft lebensspendend und heilbringend in der Welt erwiesen hat. „Es lebe unser heiliges Deutschland“ – das kann wie eine nationalistische Phrase klingen! Ich glaube, dass in dem musischen Obersten das Dichterwort aus seiner schwäbischen Heimat immer lebendig war, Hölderlins „O heilig Herz der Völker, o Vaterland!“ Sicher ist mir, dass sich in Stauffenbergs Ruf am Abend des 20. Juli 1944 die Gebete und letzten heißen Wünsche der Männer zusammenfassten, die sich zum Sterben schickten und die ihre Sache und ihr Land nur noch Gott anheim stellen konnten.

Nationalismus? Nein! In Wirklichkeit war der deutsche Widerstand mit dem 20. Juli 1944 der Ausdruck oder das Ergebnis einer in nicht ausgelotete Tiefen gehenden Wandlung des deutschen Nationalbewusstseins. Schon Jahrzehnte vor Hitler galt es in Deutschland nicht nur als erlaubt, sondern als geboten, unser etwas altväterlich ehrenhaft moralisches Staatsbewusstsein modern aufzubügeln und es anderen Leuten in der Welt gleichzutun in der smarten Praktizierung des Rezepts „Right or wrong, my country!“ So simpelten wir Deutsche in einen Nationalismus hinein, der uns in die Hände des Tyrannen fallen ließ und uns halb um den Verstand, ganz um unseren guten Namen, um Millionen lebensfreudiger Söhne, Väter und Töchter, um die Einheit des Reiches und um die Hälfte unseres Volksbodens brachte. Der Gegenschlag der Geschichte hat uns zwar ernüchtert, ja, er hat uns sogar in der Breite und in der Tiefe unseres Volkes wieder eine Ahnung davon vermittelt, was es bedeutet, ob in Deutschland die Gottesfurcht oder der Zynismus den Ton angibt. Aber ein bedenklich großes Vakuum in der inneren Orientierung Deutschlands ist noch nicht bezwungen.

Kann uns der 20. Juli dazu helfen? Ich antworte darauf, indem ich zusammenfassend sage:

1. Der 20. Juli kann uns gar nichts helfen, wenn er nur zur Verherrlichung des Widerstandes an sich herhalten soll. Ich bin im deutschen Widerstand nicht einem begegnet, dem es um den Widerstand an sich zu tun gewesen wäre. Wo es um den äußersten und höchst persönlichen Einsatz geht, da verstummt gemeinhin der bloße Subjektivismus. Unter denen, die vor und nach dem 20. Juli 1944 an den Galgen und vor den Hinrichtungskommandos starben, waren wahrscheinlich gar nicht wenige, die Hitler einmal vertrauten, die einmal glaubten, er könne für Deutschland einen neuen, besseren Tag heraufführen. Es ist nicht wahr, dass sie sich erst gegen ihn gewandt hätten, als es um Deutschland geschehen war. Auch sie traten zum größten Teil schon gegen ihn an, als seine Macht der Höhe zustrebte und in der ganzen Welt Bewunderer fand. Sie taten es nicht, weil sie persönlich zu kurz gekommen waren. Nein, sie taten es unter dem Eindruck des Unrechts und der geheim gehaltenen Gräuel. Auch sie handelten damit nicht aus subjektiver Besserwisserei, sondern aus Gehorsam gegen Rechtsbewusstsein und Gewissen. Gewiss gab es zwischen Hitler und seinen Gegnern auch durchdringende und völlig unüberbrückbare politische und militärische Meinungsverschiedenheiten. Sie mussten sich wie in jeder Diktatur auch einmal irgendwie entladen, und sie haben auch für den deutschen Widerstand eine Rolle gespielt. Die tiefste Quelle des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus war und blieb dennoch der Gewissens- und Charakterprotest gegen eine sittliche Verwahrlosung, gegen seine Entwicklung zum Verbrecherregime überhaupt. Ein klassisches Beispiel dafür ist mein Freund Fritz von der Schulenburg. Er kam aus der Gefolgschaft Hitlers. Aber als er sah, wer dieser Mann war und was er tat, da wurde er schon lange vor dem Krieg zum höchsten aktiven Feinde Hitlers. Fritz von der Schulenburg steht damit für viele. Sie wussten eben, dass man schon im Zweifelsfall Gott und dem Recht Gehorsam schuldet und nicht dem Tyrannen.

2. Damit könnte auch die bis heute umstrittene Frage des Eides erledigt sein. Wahrscheinlich bedeutete die Berufung auf den dem Führer geschworenen Eid nicht wenigen einfach eine willkommene Freistellung von höchst riskanten Gewissensverpflichtungen. Viele andere betrachteten aber – und betrachten noch immer – den Eid als die vorbehaltlose, absolute Bindung an den Mann, dem sie ihn schworen. Ihnen muss auch von dieser Stelle aus klar gesagt werden, dass sie damit einer verhängnisvollen Missdeutung des Eides und aller menschlichen Gehorsamspflicht erlegen sind. Denn der bei Gott geschworene Eid verpflichtet zum Gehorsam nur im Rahmen der Loyalität, die der Mann an der Spitze seinem Land, seinem Volk, seinen Untergebenen und vor allem dem Rechte schuldig ist. Wird diese Loyalität nicht etwa gelegentlich verletzt, sondern permanent gebrochen, dann ist der Eid hinfällig, und wäre er zehnmal auf unbedingten Gehorsam gestellt. Es bedarf keines Beweises mehr, dass Hitler diese Loyalität, die er seinem Volk und dem von ihm selbst beschworenen Recht schuldig war, selber fortgesetzt verbrecherisch gebrochen hat. Gerade daraus wurde der deutsche Widerstand im Großen geboren. Er war deshalb von Anfang an mehr als ein Protest gegen Hitler. Er war ein deutsches Bekenntnis, ja ein deutsches Martyrium für den Gehorsam gegen das gerechte Recht und die Gebote der Freiheit. Diesen Gehorsam wollen wir allezeit in Deutschland in Kraft und Geltung sehen. Das ist der andere Grund, warum wir heute hier sind. Und damit geben wir in dieser Stunde Antwort und Echo auf Claus von Stauffenbergs letzten Ruf. Es ist der Wunsch der neuen deutschen Armee, der Bundeswehr, in diesem Geist mit uns zusammen zugleich Antwort zu geben auf das, was groß und verpflichtend ist und bleibt, auch im deutschen Soldatentum. Diesem Willen hat die Bundeswehr Ausdruck gegeben, indem sie ihren Kranz neben dem des deutschen Staatsoberhauptes an dieser Stätte niedergelegt hat.

3. Die Männer, die vor zwei Jahrzehnten hier gestorben sind, haben sich in einer letzten Einsamkeit zu einer äußersten Tat durchgerungen. In ihrem Verhalten und in ihrer Entscheidung waren jedoch die Elemente einer großen Tradition wirksam. Halbvergessenes, oft mehr unbewusst als bewusst Geglaubtes trat in der Anfechtung in nie zuvor erfasster Klarheit in das eigene Wissen und Gewissen. Dass Gott nicht eine zweckmäßige Theorie, sondern Wirklichkeit sei, dass Herrschen Dienen heiße, dass man seinem Land nicht ehrgeizige Machtträume, sondern Liebe und den persönlichen Gehorsam gegen das geheiligte Recht schulde, das alles stand wieder vor und unter uns auf, als wir die Frevler am Werke sahen.

Sicher, es gab auch für uns Augenblicke, in denen dieses oder jenes Ereignis, dieser oder jener Sieg uns mitzureißen drohten. Denn dies war ja das Teuflische, dass es der Herrschaft des Unmenschen gelungen war, sich mit Deutschland und seiner Zukunft im Bewusstsein Ungezählter zu identifizieren. Darum konnte er sich auch Kräfte des Herzens und der Hingabe dienstbar machen, die ganz gewiss nicht dem Unrecht, ganz gewiss nicht dem Nationalsozialismus und seinem Führer, sondern dem Vaterland allein gegolten haben.

Es gab großen, respektgebietenden Widerstand gegen die Herrschaft Hitlers auch außerhalb der deutschen Grenzen, insbesondere in den besetzten Ländern. Dass seine Vertreter aus vielen Ländern unter der Führung von General Gérard (Belgien) heute hier unter uns sind, um ihre deutschen Kameraden zu ehren, würdigen wir dankbar als einen Ausdruck hoher Ritterlichkeit. Darüber hinaus aber wird uns in ihrer Anwesenheit auch in dieser Stunde das große, kostbare Geschenk gegenwärtig, das Deutschland in diesen Jahren widerfahren ist – die Gnade der Versöhnung mit vielen.

Der Widerstand im Ausland hatte es in manchem schwerer als der deutsche Widerstand. Aber er war frei von der schweren Bürde, zwischen Hoch- und Landesverrat gewissenhaft unterscheiden zu müssen. Die Männer jedoch, die in diesem Bendlerblock gegen Hitler arbeiteten, mussten in jedem Augenblick zu unterscheiden wissen, was sie ihrer Regierung an Widerstand und ihrem Land und seinen kämpfenden Armeen an Treue und Bewahrung schuldig waren. Denn der deutsche Widerstand hat Deutschland niemals an Hitler abgetreten.

So seltsam es war: In der Identifizierung von Deutschland und Nationalsozialismus waren die NS-Führer und ihre ausländischen Widersacher oft genug ein Herz und eine Seele. Dass dies eine verhängnisvolle Ursache für die immer neue Verzögerung des Staatsstreichs wurde, scheint mir inzwischen erwiesen zu sein. Man kann vielleicht verstehen, dass die Westmächte nach allem, was sie mit der nationalsozialistischen Reichsregierung erfahren hatten, zu ihrer Kriegszielformel von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands kamen. Aber das ändert nichts daran, dass diese Formel schon deshalb falsch war, weil sie den Aufstand der Deutschen selbst gegen die nationalsozialistische Herrschaft nicht förderte, sondern schwer hemmte. Man braucht dazu nur den Bericht zu lesen, den der Lordbischof von Chichester, George Bell, über seine Begegnung mit Hans Schönfeld und Dietrich Bonhoeffer in Schweden im Mai 1942 verfasst hat.

„Very encouraging“, schrieb Churchill unter ein gewissenhaft gearbeitetes Memorandum, das ihm aus dem deutschen Widerstand über ausländische Mittelsleute – wenn ich mich recht erinnere – noch vor dem Angriff auf Russland zugestellt worden war. Jenes Dokument sollte die Westmächte zu produktiven Kriegszielformulierungen und zu der erklärten Bereitschaft veranlassen, mit einer antinationalsozialistischen deutschen Regierung über Waffenstillstand und Friedensbedingungen zu verhandeln. London gab keine Antwort. Churchills „very encouraging“ galt dem bloßen Indiz, dass es deutschen Widerstand gegen Hitler gebe. Mit diesem Widerstand zu kooperieren, und wäre es auch nur, um weitere Juden- und KZ-Morde zu verhindern und dem Krieg ein Ende zu bereiten, fiel keinem ein. Ich sage das ohne Anklage. Es gibt jedoch Zeugen dafür, dass diese Unterlassung eine ernste Erschwerung eines aussichtsreichen deutschen Schlages gegen Hitler war und blieb.

4. Aber kehren wir dahin zurück, wohin der deutsche Widerstand gegen Hitler immer wieder zurückkehren musste, nämlich allein zu sich selber. Und fragen wir uns, was davon blieb und bleiben soll. Geblieben sind vor allem die Lücken. Auch der grenzenlose Missbrauch darf uns nicht von der Einsicht abbringen, dass ein Volk, auch in der Verfassung des freiheitlichen Rechtsstaates, auf Führung angewiesen ist. Die Männer, die im Widerstand fielen, fehlten und fehlen nicht nur ihren Familien, fehlten nicht nur ihren heranwachsenden Kindern, sondern sie fehlten vor allem dem wiedergeborenen deutschen Rechtsstaat, sie fehlten und fehlen den politischen Parteien, sie fehlen dem Parlament und der Regierung und sie fehlen der neuen deutschen Armee. Ich wage nicht zu sagen, wie es um Deutschland heute innerlich bestellt wäre, wie seine Verfassung aussähe und was es mit der Teilung Deutschlands auf sich hätte, wenn es uns wenigstens gegeben gewesen wäre, die Niederlage zu steuern und uns durch sie hindurch jene großherzige Brüderlichkeit und die tapfere, in die Zukunft greifende Verantwortungskraft führender Köpfe zu erhalten, die große Teile des deutschen Widerstandes über alle politischen Meinungsverschiedenheiten hinweg gesinnungsmäßig miteinander verband. Mir scheint, dass weniger Rückgriff auf vergangene politische Organisationsformen, mehr Großzügigkeit und mehr große Gesinnung diese zwanzig Jahre bestimmt hätten. Sicher aber bin ich mir, dass die Grundmotive und großen Leitbilder der deutschen Politik dieser zwanzig Jahre dieselben gewesen wären. Die Entscheidung zur Freiheit war für den deutschen Widerstand eine ebenso selbstverständliche Sache wie die Absage an den alten Wertekatalog der nationalstaatlichen Macht- und Souveränitätspolitik. In den Aufzeichnungen des Bischofs von Chichester vom Frühjahr 1942 über die ihm von Hans Schönfeld vermittelten Grundzüge der politischen Orientierung des deutschen Widerstands taucht zum Beispiel das klare Bild der europäischen Förderation auf, um die wir uns in den vergangenen fünfzehn Jahren so sehr bemühten. Es kehrt wieder in einer der Denkschriften von Carl Goerdeler vom Herbst 1943 und in anderen Dokumenten. Keinen kenne ich jedoch, der bereit gewesen wäre, die Teilung des Reiches und die Zerstückelung unserer nationalen Einheit auf die Dauer hinzunehmen.

Geblieben sind aber nicht nur die Lücken, sondern auch die Vorbilder und ihr Vermächtnis. Es ist – um noch einmal an Claus von Stauffenbergs letzten Ruf zu erinnern – ein heiliges Vermächtnis. Das will sagen, dass es uns nicht nur vor Volk und Land und Geschichte, sondern auch im eigenen Gewissen vor Gott in Pflicht nimmt. Der 20. Juli 1944 widersteht, ähnlich wie der 17. Juni 1953, auf das Nachdrücklichste dem faden Geschwätz unserer Zeit von den Rechten ohne Pflichten. Er widersteht dem Selbstbetrug, dass das Leben auch ohne eigenes Engagement gewonnen werden könne. Der 20. Juli 1944 kann ohne Schminke und ohne Moralisiererei jeden Nachdenklichen mit der harten Tatsache bekannt machen, dass auch in den Zeiten blühender wirtschaftlicher Konjunktur und weltumspannender Sicherheitssysteme die Freiheit und das Lebensniveau eines Landes auf dem Gehorsam vor der doppelten Einsicht stehen: 1. Jeder hat für sich selber einzustehen! Das heißt auch, dass keiner sein eigenes Gewissen einfach an den Staat oder an einen Führer abtreten darf. 2. Jeder hat mit seinem eigenen Gewissen auch für sein Land einzustehen! So will es nicht die Staatsräson, so will es Gottes Gebot und Ordnung!

Es mag sein, dass mancher den Dreh des Lebens darin sieht, gerade darauf zu pfeifen. Solche Leute brauchen sich jedoch nicht zu wundern, wenn sie sich damit selbst geprellt sehen. Denn die einfache, aber große Wahrheit ist noch immer die: „Und setzet Ihr nicht das Leben ein, nie wird Euch das Leben gewonnen sein!“ Das ist mehr als ein schöner Soldatenspruch. Zum Geheimnis des wahrhaften und erfüllten Menschseins wird er aber erst, wenn man weiß, wofür man dabei antritt.

Mein Freund und Zellennachbar Alfred Delp schrieb in den Nächten mit gefesselten Händen im Totenhaus in Tegel seine denkwürdigen Betrachtungen, die ich ihm dann am anderen Morgen aus der Rocktasche zu ziehen und weiterzuleiten hatte. Auf einem dieser Blätter steht der Satz: „Es sollen andere einmal besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“

Es ist ein schlichter Satz, den Tausend andere auch gesagt oder gedacht haben. Das Großartige und Befreiende an ihm aber ist, dass er nicht auf den Tod, sondern auf das Glück und bessere Leben der anderen zielt. Nun, heute gehören wir trotz unserer eigenen Narben und trotz der Risse im Vaterland zu diesen anderen. Deshalb ist die Stunde hier keine düstere, sondern eine helle Stunde für uns und für Deutschland. Sie gilt der herzlichen Dankbarkeit dafür, dass Gott uns Männer, Frauen, Freunde und Gefährten gab, die in der tiefsten Schande die letzte Ehre Deutschlands wahrten. Wenn es darauf ankommt, dann lebt eben auch die Freiheit von Dienst und Opfer, so süß das Leben in der Freiheit ist. Diese Dankbarkeit gilt im Namen Deutschlands auch den Frauen, die geliebte Männer, den Kindern, die ihre Väter, und den Eltern, die ihre Söhne darüber verloren.

Was könnten wir in dieser Stunde zum Schluss aber Besseres tun, als den toten Freunden und Gefährten selbst in bleibender Liebe dafür zu danken, dass sie uns, dass sie Deutschland, dass sie denen, die nach uns kommen, über den Abgrund des Grauens hinweg eine Brücke bauten zu dem, was in Deutschlands Geschichte groß ist und was als ihr eigenes Vermächtnis immer von neuem nach deutschen Herzen greift.






Weitere Reden

20.07.1964
 Joan Gérard
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