Kein Ausstieg aus der Geschichte

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Matthias Wissmann

Kein Ausstieg aus der Geschichte

Ansprache des Vorsitzenden der Jungen Union Deutschlands Matthias Wissmann am 20. Juli 1980 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Wenn ich heute einige Worte des Gedenkens und des Nachdenkens zu Ihnen sagen soll, dann muss ich dem eine Vorbemerkung zu meiner Person voranstellen. Denn als einigermaßen ungewöhnlich empfinde ich es schon, als noch recht junger Mensch, der nicht nur keine persönlichen Erinnerungen an jene Ereignisse und jene Zeit hat, sondern auch erst viele Jahre nach Kriegsende geboren wurde, vor einem Verband der Widerstandskämpfer zum Widerstand zu sprechen.

Welches Recht, welche Legitimation hätte ich dazu? Was könnte ich Ihnen sagen – was Sie interessiert, was für Sie von Bedeutung ist?

Machen wir nur aus der Not eine Tugend, oder ist es vielleicht doch mehr, wenn es vielleicht gerade die Distanz zum Geschehen vom 20. Juli 1944 ist, die für Sie von Interesse ist – die Frage vielleicht: Was wird weitergetragen? Was bleibt davon?

36 Jahre danach, also länger als eine Generation später, ist dies die vielleicht wichtigste Frage. Wir müssen nicht mehr dafür eintreten, den Widerstandskämpfern die nötige Hochachtung, den nötigen Rang in unserem Bewusstsein, in unserer Geschichte einzuräumen, denn erfreulicherweise ist dieser Respekt weithin bei den Bürgern vorhanden. Aber die Frage, was ihre Taten, ihr Einsatz, ihr Opfer uns heute noch zu sagen hat, ist sehr wohl berechtigt.

Eine zweite Anmerkung möchte ich hinzufügen: Wenn es schon keine Kollektivschuld gibt, dann gibt es erst recht keine Schuld über Generationen hinweg.

Die junge Generation von heute ist frei von aller Mitverantwortung für jene Verbrechen, die zwischen 1933 und 1945 im deutschen Namen begangen wurden.

Allerdings gilt auch: Kein Volk kann aus seiner Geschichte aussteigen. Die Vergangenheit wirkt immer in die Gegenwart hinein – insbesondere, wenn es sich um den unaussprechlichen Schrecken handelt, der anderen Völkern und Nationen in unserem Namen angetan wurde. Auch wenn wir keine Verantwortung daran haben, müssen wir die Folgen und Lasten tragen und bewältigen. Wir sollten uns dieser geschichtlichen Nachwirkung bewusst sein und sie ohne Klagen auf uns nehmen. Eine der Folgen aus dieser Einstellung ist auch dies, dass wir für jene Menschen und Völker, denen damals besonders übel mitgespielt wurde, auch eine besondere Verantwortung tragen – ohne dass wir Jungen uns allerdings vor moralischen und politischen Tribunalen beklagen lassen müssen. Insbesondere dann, wenn die moralische Anklage nach dem Motto „damals Faschisten und noch immer nicht geändert“ durchsichtigen politischen Interessen dienstbar gemacht wird.

Der Faschismusvorwurf ist ja inzwischen zu einer fast universell anwendbaren politischen Vielzweckwaffe degeneriert.

Das Verhältnis meiner Generation zur Widerstandsbewegung im Dritten Reich ist von einem merkwürdigen Gefühl der Unwirklichkeit bestimmt. Ich glaube, dies gilt gerade für diejenigen aus der jüngeren Generation, die über durchschnittliche Geschichtskenntnisse, über ein ausgeprägteres Geschichtsbewusstsein verfügen. Ich führe das nicht zuletzt darauf zurück, dass wir heute große Schwierigkeiten haben, uns in die Lebensverhältnisse jener Zeit, die Lebenssituation jener Menschen hineinzuversetzen und hineinzudenken. In die Lebensbedingungen, wie sie von einem totalitären Regime hervorgerufen und geprägt werden mit ihrer Einschnürung von Freiheit und Verantwortung, mit der Verwischung und ununterscheidbaren Durchdringung von Recht und Unrecht gerade im „unpolitischen“ Alltagsleben.

Für den Versuch einer Antwort muss man zunächst die schwierigen Bedingungen der Widerstandsbewegung in Rechnung stellen:

Wenn man sich die Dokumente des Widerstandes vom 20. Juli anschaut, und auf ihre politischen Vorstellungen und Ziele hin analysiert, dann fühlt man ebenfalls diese Distanz, diese Ferne. Aber sie zeigen auch den Charakter, den Mut und die Konsequenz der Männer des Widerstandes.

Die Papiere des Kreisauer Kreises und anderer haben mit den Strukturen und Elementen einer modernen pluralistischen Demokratie nur wenig zu tun. Ihre moralischen Diskussionen über den Eid, ihre Bedenken gegenüber der Ermordung Hitlers sind heute schwer nachvollziehbar. In dieser Haltung waren sie ihrem Gegner von vornherein unterlegen. Und trotzdem atmen sie etwas von den Tugenden preußischen Denkens und Handelns, die heute vielfach fehlen: Selbstlosigkeit, Sinn für das Ganze, Geradlinigkeit, Patriotismus.

Trotz des überzeugenden Patriotismus vieler Persönlichkeiten des Widerstandes ist heute aber auch eines deutlich:

Im Unterschied auch zu den unterjochten Nachbarvölkern konnte sich der deutsche Widerstand nicht auf ein selbstverständliches Nationalbewusstsein, einen unmittelbar einleuchtenden Patriotismus in breiten Teilen der deutschen Bevölkerung stützen.

Die Nation wurde von Hitler reklamiert – zu Unrecht zwar, wie wir heute wissen, aber damals nicht ohne Erfolg.

Ein weiteres Handicap kam hinzu:

Jeder Erfolg und Sieg Hitlers schwächte die Erfolgschancen des Widerstandes im Inneren, jede militärische Niederlage die Position des Widerstandes gegenüber den alliierten Gegnern. Zumindest im Kriege war das ganze Unternehmen mit wenig politischen Erfolgschancen versehen.

Aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt wegen der alliierten Invasion in der Normandie, waren die politischen Aussichten und Chancen gerade im Frühjahr und Sommer 1944 nicht mehr sehr hoffnungsvoll.

Was wäre geworden, wenn der Staatsstreich gelungen wäre, die Männer des 20. Juli die politische Verantwortung hätten übernehmen müssen? Sie hätten kaum mehr tun können, als die Kapitulation zu vollziehen. Ein knappes Jahr vor der endgültigen Katastrophe, ohne die schrecklichen Opfer dieser letzten Monate, gewiss. Aber doch mit der Verantwortung für eine Niederlage, dem Ruch des Bankrotteurs, vielleicht dem Ruf einer neuen Dolchstoßlegende.

Wäre auf dieser Grundlage eine neue deutsche Demokratie zu bauen gewesen?

Wenn also die politischen Zielvorstellungen teilweise unrealistisch und die politischen Erfolgschancen ziemlich gering waren – was hat sie letzten Endes doch noch zum Handeln, zur Tat motiviert?

Henning von Tresckow hat das in einer Mitteilung an Stauffenberg in jenen entscheidenden Wochen so ausgedrückt:

„Das Attentat muss erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“

Das macht die Tragik des 20. Juli 1944 aus.

Dass der Versuch gewagt wurde, ist eine moralische Voraussetzung für den Neubeginn der deutschen Demokratie 1949.

Dass der Versuch scheiterte, ist eine politische Voraussetzung für diesen Neubeginn.

Deshalb glaube ich, dass die Männer des 20. Juli ihr Leben nicht nur für sich selbst, sondern auch für uns geopfert haben.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird von Teilen der Bevölkerung als antifaschistisch bezeichnet. Ich für meine Person möchte das Grundgesetz als antitotalitär, als Verfassung der Freiheit charakterisieren. Diese Verfassung beauftragt und verpflichtet uns, ein totalitäres Regime von rechts wie von links zu verhindern. Ohne den Einsatz für die unveräußerlichen Menschenrechte, für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, für friedlichen Ausgleich im Inneren wie nach außen, wäre es kaum möglich gewesen, die Last des dunklen Abschnitts deutscher Geschichte zu tragen und diese Verfassung zu verwirklichen.

In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass gerade auch die Bundeswehr als ein Garant unserer freiheitlichen Ordnung zu gelten hat. In meinen Augen ist es daher unerträglich, wenn nun versucht wird, die Bundeswehr in ihren Kasernen zu isolieren. Sie ist ein Bestandteil unserer Gesellschaft und die Männer, die sich für die Verteidigung dieser Gesellschaft einsetzen, haben ein Recht, als ein Teil unserer Gesellschaft angesehen und behandelt zu werden. Eine öffentliche Vereidigung bringt genau dies zum Ausdruck, nicht „Säbelrasseln“ wie zum Teil behauptet wird. Wir müssen zusammen mit unseren Partnern in der NATO und in der EG mutig für die Menschenwürde, den Schutz und die volle Herstellung der Menschenrechte immer und überall dort eintreten, wo diese missachtet, verletzt oder zerstört werden. Und glaubhaft für Menschenrechte kann nur eintreten, wer nicht auf einem Auge blind ist; glaubhaft ist nur, wer gleichzeitig für Menschenrechte in Argentinien oder Chile und z.B. in der DDR eintritt. Der 17. Juni 1953 war ein Tag, an dem Menschen den Aufstand des Gewissens gegen das Unrechtsregime im anderen Teil Deutschlands wagten. Der 20. Juli 1944, ein Tag der Freiheit in der deutschen Geschichte, verpflichtet die ganze Nation über die politische Spaltung hinweg für die Menschenrechte und eine friedliche, gerechte und solidarische Ordnung unseres politischen und gesellschaftlichen Lebens einzutreten.

Mit dem friedlichen Ausgleich, der Versöhnung zwischen den Völkern ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein Weg begonnen worden, der oft schwierig und mühsam, jedoch auch erfolgreich und notwendig war, um Schuld abzutragen. Von Beginn der Nachkriegszeit an ermöglichten es de Gaulle und Adenauer, dass eine Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen stattfand, die es uns heute erlaubt, von einem guten herzlichen und freundschaftlichen Verhältnis zwischen beiden Völkern zu sprechen. Von Beginn an wurde es möglich, dass sich Amerikaner und Deutsche die Hand reichten und heute behauptet werden kann, dass Amerika und Deutschland Seite an Seite stehen. Die Entwicklung unseres Staates, so wie er heute besteht, wäre ohne die Hilfe und ohne den Schutz der Amerikaner undenkbar.

Und vor allem sei die Versöhnung mit dem israelischen Volk erwähnt. Verpflichtungen gegenüber der israelischen Regierung und dem israelischen Volk ergeben sich nicht allein aus aktuellem Anlass, sondern sind auch in der Vergangenheit begründet.

Auch die Versöhnung mit den Völkern Mittel- und Osteuropas, und hier vor allen Dingen mit Polen, darf nicht unerwähnt bleiben. Nach wie vor müssen Vorurteile abgebaut und Kontakte vertieft werden, um den Gedanken der Versöhnung und des Ausgleichs in die Herzen der Menschen zu tragen.

Es wird hier jedoch noch viel Mühe und Zeit notwendig sein, bis alle Wunden geheilt und alle Gräben zugeschüttet sein werden. Hier muss ich jedoch auch betonen, dass für mich so genannte „menschliche Erleichterungen“ keinen Ersatz für Menschenrechte, sondern höchstens einen kleinen Schritt in Richtung Anerkennung und Wiederherstellung der Menschenrechte darstellen.

Die Teilung unseres Landes und seine Überfremdung haben uns etwas beklommen gemacht. Weite Teile unserer Bevölkerung wollen keine Geschichte mehr. Teile spotten jeder Tradition und leben ein Leben, von dem sie zu glauben scheinen, dass es keine großen Impulse mehr verlangt. Wie jede Vergangenheit, so haben wir auch die Kräfte entmachtet, die uns heute zu helfen vermöchten. Hier bildet der 20. Juli 1944 keine Ausnahme, obgleich dieser Tag beste Tradition wäre.

„Es ist der Vorzug und das Wesen der Starken, dass sie die großen Entscheidungsfragen stellen und zu ihnen klar Stellung nehmen können. Die Schwachen müssen sich immer zwischen Alternativen entscheiden, die nicht die ihren sind.“ Dieses Wort von Dietrich Bonhoeffer verpflichtet uns, immer und überall für die Menschenrechte einzutreten.

Das Opfer der Widerstandskämpfer in Deutschland und in aller Welt war nur dann nicht umsonst, wenn wir die Bewährungsprobe eines weltweiten Kampfes um die Verwirklichung der Menschenrechte und ihren Schutz bestehen.







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