Kein Triumph, kein Trauertag

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Johann Baptist Gradl

Kein Triumph, kein Trauertag

Ansprache des Bundesministers für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte Dr. Johann Baptist Gradl am 20. Juli 1966 in der Bonner Beethovenhalle

Nationale Gedenktage sind Anlass, zurückzublicken und sich einig zu werden mit der eigenen Geschichte. Auch der 20. Juli ist ein nationaler Gedenktag, aber er ist keine Einladung zu nationaler Hochstimmung. Wir feiern heute keinen Triumph, wir gedenken eines Fehlschlages. Ein deutscher Aufstand misslang, der Recht und Moral wiederherstellen und Deutschland vor dem Untergang retten sollte.

Dennoch ist dieser Tag kein Tag der Trauer, dazu ist sein Gewinn zu groß. Er hat den Beweis erbracht, dass das deutsche Volk mehr war als nur eine Summe von Hitler-Leuten. Sicher ist die innere deutsche Opposition nicht gestorben, um uns ein bequemes Alibi gegen Anklagen zu verschaffen. Sie hat sich geopfert, damit wir und die, die nach uns kommen, wieder mit Ehre und Dankbarkeit von dem sprechen können, was sonst durch den Missbrauch des Regimes für immer verwüstet worden wäre: vom deutschen Vaterland.

Der fürchterliche Missbrauch verpflichtender Werte und Tugenden im Dritten Reich hat den Worten „Volk“, „Vaterland“, „Nation“ einen hohlen Klang für unsere Ohren gegeben. Der Nationalsozialismus hatte das Volk zur blinden „Gefolgschaft“, die Nation zur „Herrenrasse“, das Vaterland zu „Blut und Boden“, nationale Politik zu Gewalt und Verbrechen entartet. Die Männer, die den Schlag gegen Hitler führten, haben das gewusst. Es war dennoch Vaterlandsliebe, die sie bewegte, und die sie in einer letzten Konsequenz sogar befähigte, die Niederlage Deutschlands innerlich hinzunehmen, damit im neuen Beginn das Leben ihres Volkes wieder einen Sinn, der Name ihres Volkes wieder seine Ehre gewinnen möge. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob man sein Vaterland über alles liebt oder ob man es über alles setzt. Für die Männer des Widerstandes war es undenkbar, das Vaterland ohne Recht, ohne Achtung vor den anderen Völkern, ohne Verpflichtungen gegenüber den hohen menschlichen Idealen wieder aufzurichten. Diesen und keinen anderen Begriff vom Vaterland haben sie uns als Erbe hinterlassen. Er kann und darf nicht beiseite geschoben, nicht ausgemustert werden in der Bestandsaufnahme der deutschen Gegenwart.

Man sagt, die Deutschen hätten einen unüberwindlichen Hang zum Gehorsam und zum Untertanengeist. Angesichts des innerdeutschen Widerstrebens und Widerstandes gegen Hitler vor und nach 1933, angesichts des 20. Juli 1944 und noch einmal seit dem 17. Juni 1953 kann jedermann mit Händen greifen, dass in der nationalen Überlieferung unseres Volkes Freiheit und Recht ihren festen Platz haben. Zumal dem 20. Juli und dem 17. Juni verdanken wir es, dass wir heute ohne unterwürfige Selbstbezichtigung von Schuld und Fehler, ohne arrogante Überheblichkeit von Deutschlands Ehre sprechen können.

Wir wollen und dürfen nichts beschönigen. Unfassbar schreckliche Dinge sind vom Nationalsozialismus unter dem deutschen Namen geschehen. Und es ist wahr, Deutsche haben dies getan, und Deutsche haben es geschehen lassen. Aber wer kann das Geschehenlassen schon begreifen, wenn er nicht selber einmal unter totalitärer Gewaltherrschaft hat leben müssen. Auf dem berühmt gewordenen Parteitag der KPdSU in Februar 1956 hat Chruschtschow sich selber und den anderen Politbüro-Mitgliedern die Frage gestellt, warum sie sich nicht rechtzeitig gegen Stalin zur Wehr gesetzt haben. Seine Antwort ist für das Leben in totalitärer Tyrannei kennzeichnend: Man habe diese Dinge zu verschiedenen Zeiten verschieden beurteilt. Man habe auch, wenn man mit Stalin zusammensaß, nicht gewusst, ob man anschließend nach Hause oder ins Gefängnis geschickt werde. Es sei klar, dass solche Verhältnisse jedes Mitglied des Politbüros in eine sehr schwierige Situation gebracht haben. Es sei daher verständlich, wie schwierig es war, sich gegen die eine oder andere ungerechte Maßnahme, gegen schwere Irrtümer und Unzulänglichkeiten aufzulehnen. Auch im Licht dieser Äußerung können die Männer des 20. Juli ehrenvoll bestehen.

Dunkle, schreckliche, dämonische Perioden hat es in der Geschichte aller großen Völker gegeben. Jedem Volk würde man Unrecht tun, würde man es nur nach solcher Phase seiner Geschichte beurteilen. Dies ist nicht die Stunde aufzuzählen, was der Welt aus dem deutschen Volk an großen Leistungen und Werten gegeben worden ist. Aber in dieser Gedenkstunde darf, ja muss daran erinnert werden, dass eben auch Deutsche im Ringen gegen die nationalsozialistische Tyrannei gestanden, vieles gewagt, vieles gelitten haben. Zehntausende Deutsche – jemand hat ausgerechnet, im Durchschnitt zehn an jedem Tag – sind während der zwölf Jahre des Dritten Reiches aus politischen Gründen hingerichtet oder ohne Urteil umgebracht worden. Und wenn man heute über die Gestapo und ihren Riesenapparat spricht, dann darf man nicht vergessen, dass diese Apparatur des permanenten Terrors doch nur geschaffen wurde, weil das System sie benötigt hat. Sie wurde gebraucht, weil eben im deutschen Volk ein breiter, wenn auch meist stiller, so doch von den Machthabern als gefährlich empfundener Widerstand lebendig war. Die Gestapo wurde gebraucht, weil dieses Volk Hitlers Verbrechen nicht hingenommen hätte, wäre ihm freie Willensbildung möglich gewesen.

„Lassen wir uns nicht in unserem Glauben daran beirren, dass das deutsche Volk wie in der Vergangenheit so auch für die Zukunft dies will: Gerechtigkeit, Redlichkeit und Wahrheit.“

Goerdeler selbst hat mit diesem Wort ausgesprochen, dass die innere Opposition davon überzeugt war, für die Deutschen handeln zu müssen, aber auch stellvertretend für sie handeln zu können.

Vielleicht wird zu oft vergessen, dass der 20. Juli nur das letzte Glied einer Kette fehlgeschlagener Versuche war. Versuche gab es schon vor dem Krieg, vor der sich abzeichnenden Katastrophe. Es begann mit den Aktionen, die den Krieg verhindern sollten, mit dem Protest also nicht erst gegen die innerdeutschen Verbrechen der Nazis, sondern schon gegen ihr außen- und machtpolitisches Programm.

Man kann nicht im Ernst behaupten, die Männer des Widerstandes hätten anstelle Hitlers den Krieg gewinnen wollen. Um sich einem solchen Trugbild hinzugeben, besaßen sie ein zu genaues Wissen. Sie wussten, dass der Krieg verloren war, und dass es auch politisch nach der Konferenz von Casablanca für Deutschland keinen anderen Weg gab als Kapitulation. Die Kontakte des deutschen Widerstandes im westlichen Ausland hatten dort zwar Interesse wachgerufen. Aber dieses Interesse bezog sich auf die Schwächung des deutschen Feindes, nicht auf die Erkenntnis, dass Deutschland und der Nationalsozialismus im Grunde zwei verschiedene Dinge waren. Auch eine Regierung Beck-Goerdeler, die die Rechtsordnung wiederhergestellt, Verbrechen abgeurteilt und Wiedergutmachung geleistet hätte, konnte leider – und das machte die Last für diese Männer doppelt schwer – nur mit bedingungsloser Kapitulation rechnen.

Warum haben die Männer des 20. Juli dann gehandelt? Sie wussten doch, dass das Ende der Hitlerschen Tyrannei vor der Tür stand. Jeder von ihnen hätte dann wie alle anderen einen neuen Anfang probieren können. Sie wussten doch auch, was sie zu erwarten hatten bei Fehlschlag oder vorzeitiger Entdeckung. „Für eine so gute und gerechte Sache ist der Einsatz des eigenen Lebens, der angemessene Preis“, sagte Julius Leber für sie. Sicher, sie handelten aus Gewissensgrund. Vom Grafen Moltke ist das Wort überliefert, es gehe darum „das Bild des Menschen wieder aufzurichten im Herzen unserer Mitbürger“.

Aber was war der letzte Beweggrund, sozusagen wider die Vernunft alles zu wagen? Es gibt nur eine überzeugende und überzeugend belegte Antwort: sie fühlten sich ganz persönlich verantwortlich für jene Gemeinschaft und Bindung, die sich in Volk und Vaterland darstellt. Sie wollten Volk und Vaterland retten vor endloser Verfluchung, vor dem Ausgestoßenwerden aus der Geschichte. Sie wollten dem Guten und Großen ihres Volkes noch einen Weg in die Zukunft erhalten. Sie liebten ihr Volk, ihr Deutschland. In der Nacht vor seinem Tod schrieb Henning von Tresckow: „Wenn einst Gott verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, dass Gott auch Deutschland um unsertwillen nicht verderben wird.“ Und Yorck von Wartenburg schrieb vor seiner Hinrichtung an die Mutter: „Es waren lediglich meine vaterländischen Gefühle, die Sorge um mein Deutschland. Deshalb stehe ich auch aufrecht vor meinen Vorfahren, dem Vater und den Brüdern. Auch für meinen Teil sterbe ich den Tod fürs Vaterland.“

Da spricht etwas, was uns Heutigen, all zu vielen von uns fremdartig klingt: Mein Volk, mein Vaterland, mein Deutschland. Aber wir brauchen diese Werte, diese Verpflichtungen, diese Anrufe, ja, auch diese Gefühle wieder, wenn unser Volk in seiner menschlichen und nationalen Not und in der Verworrenheit der Welt bestehen will. Zweckdenken, Nützlichkeitserwägungen, materielle Interessen genügen nicht als Boden, auf dem Pflichtbewusstsein und Opfersinn für die Gemeinschaft wachsen können. Hart zugespitzt – die Kürze verlangt das – möchte ich sagen, man opfert nicht und man opfert sich nicht auf für Wachstumsraten, Sozialproduktanteile und Werbeparolen. Wirkliche Opfer werden nur für höhere Werte erbracht, zum Beispiel für die aus der Tiefe der Geschichte gewachsene Gemeinschaft der Menschen eines Landes, einer Sprache, einer Kultur, einer Not, eines Schicksals. Gerade für diese Generation, die im Dunkel gestörten Geschichtsbewusstseins nach Richtpunkten sucht, nach Aufgaben und Zielen, die Opfer und Hingabe lohnen, hält die Tat, die heute vor 22 Jahren scheiterte, eine Antwort bereit. Durch Liebe zum Vaterland, zu der natürlichen und geistigen Einheit unseres Volkes, gewinnen wir einen festen politischen Standort in einer ständig sich wandelnden, in einer gefährdeten und gefährdenden Welt. Das aber verlangt, dass jeder von uns zu jeder Stunde zu seinem Teil – mag dieser Teil noch so klein sein – die Verantwortung für das Ganze anzunehmen bereit ist. Der nach dem 20. Juli hingerichtete Pater Delp hat das einmal so gesagt: „In diesen Zeiten erträgt Gott nicht den Menschen, der da vor ihm erscheint und nur sein privates Anliegen und nur seine privaten Sorgen ihm vorträgt. In diesen Zeiten, in denen Gott mit der Menschheit würfelt um die Grundordnungen des Daseins, da verlangt der Herrgott den Menschen des weiten Herzens, der großen Verantwortung, der wirklich vor Gott hintritt und das Ganze auf sich nimmt.“ Was hier gesagt ist, gilt heute wie damals. Dies ist nicht das Einzige, aber wohl doch das Wichtigste, was uns Heutigen der 20. Juli sagt. Er sagt es nicht nur, er gibt es uns auf – für unser Volk, für unser ganzes deutsches Volk.







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20.07.1966
 Fritz Erler
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