„Meine Kraft zeigt sich in deiner Lebenswunde.“

Klaus Mertes

„Meine Kraft zeigt sich in deiner Lebenswunde.“

Ansprache von Pater Klaus Mertes SJ im Rahmen der ökumenischen Vesper am 20. Juli 2014 in der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum, Berlin

Text: 2 Kor 12,1ff

Ich habe diesen Text aus dem zweiten Korintherbrief ausgewählt, weil ich noch unter dem Eindruck des Filmes stehe, der vor einer knappen Woche in der ARD ausgestrahlt wurde: „Verräterkinder – die Töchter und Söhne des Widerstandes.“ Der Zusammenhang mit dem Text aus dem Korintherbrief besteht in dem, was ich „Lebenswunde“ nennen möchte. Widerstand und Hinrichtung der Väter und Mütter haben den überlebenden Ehegatten und ihren Kindern Lebenswunden geschlagen. Paulus berichtet im Korintherbrief über seine Lebenswunde. Da ist die Parallele.

Lassen Sie mich kurz auf die Lebenswunde von Paulus eingehen: „Dreimal habe ich den Herrn angefleht, dass dieser Bote Satans von mir ablasse“, dieser Bote Satans, „der mich mit Fäusten“ schlägt. Mit der Formulierung „dreimal“ wird nicht aufgerechnet, sondern ein „immer wieder“ ausgedrückt, ein „oft“, „bis zur Erschöpfung“, „intensiv“. „Immer wieder habe ich den Herrn gebeten.“ Der „Bote Satans“ hat mit dem zu tun, was Paulus seine „Schwachheit“ nennt. Ein Schmerz vielleicht, der plötzlich kommt, wie ein plötzlicher Schlag; vielleicht aber auch ein Dauerschmerz, körperlich oder seelisch oder beides zugleich, eine Behinderung, die sich immer wieder in regelmäßigen Abständen meldet. Ein Lebensthema, das immer wieder kommt. Besser, konkreter könnte man statt „Schwachheit“ auch „Krankheit“ sagen. Man hat viel darum herum gerätselt, worin diese Krankheit des Paulus bestanden haben könnte. Die Beschreibung seiner Entrückung in den „siebten Himmel“ weist auf ekstatische Erlebnisse hin, die eine Nähe zu Erfahrungen von Epileptikern haben. Epilepsie, die Krankheit, die in der kirchlichen Tradition gerne auch „morbus sacer“, „heilige Krankheit“ genannt wird.

Wie dem auch sei, die Krankheit des Paulus taucht seine ganze Existenz in Schmerz – in einen Schmerz, der allerdings nicht im Gegensatz zur Erfahrung der Freude steht, die Paulus ja auch oft ausspricht. Mit der Lebenswunde des Paulus darf man wohl einiges in Verbindung bringen: Sein Bekehrungserlebnis mit all den Folgen, die es für ihn hatte – den Bruch mit seinem bisherigen Leben, den Verlust seiner bisherigen Freunde und Mitstreiter; und auch das schmerzliche Wissen darum, dass er ein zelotischer Mörder war, der sich ein Leben lang vor seinen Opfern schämen muss; auch die Verstoßungserfahrungen, die seine neue Sendung mit sich bringt, das Ertragen ständiger Anfeindungen, von Verrat, der permanente Angriff auf die Legitimität seiner Sendung – das alles hört ja nicht irgendwann auf, sondern bleibt, kommt immer wieder. Man kann sich den Schmerz wegwünschen, aber er geht nicht weg. Der „Bote Satans“ schlägt immer wieder und hört nicht auf zu schlagen. Er macht mir auch noch in der größten Freude bewusst, dass er bleibt und nicht weg geht.

Lebenswunden melden sich immer wieder. Die Widerständler waren nicht nur Widerständler, sondern auch Eltern, Söhne, Töchter. Ihr Tod riss Lebenswunden. Die Folgen hatten und haben ganz besonders die überlebenden Familienmitglieder zu tragen: Der Versuch der Nazis, den Familiennamen auszulöschen. Die Stigmatisierung als Verräterkinder, die auch nach dem Krieg noch hielt. Gleichzeitig der Triumph so vieler Handlanger des alten Systems, die im neuen System wieder zu Amt und Würden kamen. Oder auch die Stigmatisierung als Heldenkinder – auch dies eine Stigmatisierung vor allem deswegen, weil die Geschichte der Eltern ideologisch mythologisiert und instrumentalisiert wird für politische Interessen. Damit wurde und werden den Kindern und Kindeskindern die Väter und Mütter noch einmal entzogen. Besonders erschütternd und exemplarisch zeigt sich dieser Entzug am Ende des genannten Fernsehbeitrages: Die Tochter liest aus einem Brief der Mutter vor, den diese ihr vor ihrer Hinrichtung geschrieben hatte und den ihr die Behörden der DDR vorenthielten, bis sie ihn dann erst 1989 in die Hände bekam.

Die Schmerzensstiche aus den Lebenswunden sind „Boten Satans“. Das bedeutet übersetzt: Sie sind Anlass zur Versuchung. Die Wundschmerzen machen müde und erschöpft; sie können in Resignation und Bitterkeit treiben, oder andersherum in Heroismus und falschen Stolz, in Mythenbildung und Ideologisierung. Aber es gibt auch die andere Seite: Paulus entdeckt sie in dem Wort, das er mitten in seinem verzweifelten Kampf gegen seine Lebenswunde hört: „Meine Gnade genügt dir, denn sie erweist ihre Kraft in den Schwachen.“ Er beendet den Kampf gegen seine Lebenswunde: „Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage. Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“ Man kann es auch so formulieren: Ich nehme meine Lebenswunde an. Sie gehört zu mir. Ich kriege sie nicht los, ich kriege meine Geschichte nicht los. Aber indem ich die Wunde annehme, verändere ich mein Verhältnis zu ihr; verändert sie sich. Statt ständig Eiter zu produzieren, kommt aus ihr Leben. In den Auferstehungsgeschichten des Johannesevangeliums wird dieser Verwandlungsvorgang ganz plastisch am Körper des auferstandenen Christus sichtbar gemacht: Die Seitenwunde Christi bleibt offen, aus ihr strömt allerdings kein Eiter, sondern das Leben der Kirche. Der Auferstandene hat seine Lebenswunde akzeptiert. Sie gehört zu seiner Geschichte, zu seiner Identität. Darin ist er nicht nur Modell für Paulus und die ermordeten Widerständler, sondern für alle, denen Lebenswunden geschlagen wurden und werden.

Lebenswunden schmerzen ein Leben lang. Deswegen heißen sie Lebenswunden. Plötzensee ist eine solche Lebenswunde – für Einzelne, für Familien, für Gemeinschaften. Aber Lebenswunden schmerzen nicht nur, wenn sie angenommen werden. Sie geben Orientierung, sie helfen die Geister zu unterscheiden, den Unterschied zwischen guten und schlechten Freunden zu erspüren, den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Illusionen, zwischen flüchtigen Meinungen und tiefen Überzeugungen. Lebenswunden bewahren vor narzisstischer Selbstüberschätzung – bei Paulus „Selbstrühmung“ genannt –, sie öffnen für das Geschenk des Lebens, des Trostes, der Freundschaft.

Das bedeutet nicht, dass das Ringen mit der Wunde, das „dreimalige“ Gebet sinnlos wäre. Wer die Lebenswunde ohne Kampf, ohne vorheriges Widerstreben annimmt, hat vermutlich noch gar nicht begriffen, dass es wirklich um eine Lebenswunde geht. Aber wer vor der Wunde flieht, den holt sie wieder ein – bis sie nicht mehr ein „Bote Satans“ ist, sondern ein Schlüsselwort Christi in meinen Leben, das er zu mir persönlich spricht. „Meine Kraft zeigt sich in deiner Lebenswunde.“