„Menschen, die ihrem Gewissen folgten“

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Frank Henkel

„Menschen, die ihrem Gewissen folgten“

Ansprache des Berliner Bürgermeisters Frank Henkel am 19. Juli 2013 im Berliner Rathaus

Meine sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr, Sie auch in diesem Jahr hier im Berliner Rathaus begrüßen zu dürfen. Unser traditioneller Senatsempfang am Vorabend des 20. Juli steht diesmal im Zeichen eines anderen, eines besonders bedrückenden Jahrestages: der Machtübertragung an die Nationalsozialisten vor 80 Jahren, am 30. Januar 1933. Wie Sie sicher wissen, gedenkt Berlin dieses Ereignisses das ganze Jahr über mit dem Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“. Und das bedeutet: zahlreiche Gelegenheiten der Erinnerung, Mahnung und der aktiven Auseinandersetzung mit dem Unrecht – aber auch mit der Frage, was wir heute tun können, um unsere Zivilgesellschaft weiter zu stärken und Antisemitismus wie Rassismus wirksam zu bekämpfen.

Es steht außer Frage: Der 30. Januar 1933 ist der schwärzeste Tag in der Geschichte dieser Stadt und zugleich einer der großen Wendepunkte der Weltgeschichte. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten fiel Deutschland in die Barbarei. Die Bilanz der zwölfjährigen Schreckensherrschaft war verheerend. Auch für Berlin: Die Stadt lag in Trümmern. Die Einwohnerzahl hatte sich um 1,5 Millionen reduziert. Die jüdische Bevölkerung war nahezu ausgelöscht. Von den mehr als 170.000 jüdischen Berlinerinnen und Berlinern hatten 9.000 in Berlin überlebt, 55.000 Menschen waren in Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet worden. Doch nicht nur Berlin, ganz Europa war ein Trümmerfeld. Die Zahlen der Opfer des nationalsozialistischen Angriffskrieges und Rassewahns lassen sich nur schätzen. Sie übersteigen jede Vorstellung.

Mit dem Ende des Krieges begann die lange Nachkriegszeit, Deutschland und Europa waren mehr als vier Jahrzehnte geteilt. Sie endete erst 1989, als der Eiserne Vorhang fiel und Deutschland in Frieden und Freiheit wiedervereint wurde. Lang ist also der Schatten des 30. Januar 1933. Und groß die Tragik, die über diesem Datum liegt.

Wir dürfen niemals vergessen, wohin es führt, wenn menschenverachtenden Ideologien nicht Einhalt geboten wird. Deshalb ist die Erinnerung an den 30. Januar 1933 so wichtig.

Auch der 20. Juli ist ein besonderer Gedenktag. Aber aus völlig anderen Gründen: Der 20. Juli 1944 steht für ein anderes, für ein moralisch integres Deutschland, in dem der Einzelne zur moralischen Instanz wird, die obrigkeitsstaatliches Denken überwindet. Ein Erfolg des Attentats hätte noch unzählige Menschen vor dem Tod bewahrt. Doch der Umsturzversuch scheiterte. Aber er war deshalb nicht umsonst. Denn die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg haben gezeigt, dass Widerstand auch in Deutschlands dunkelster Stunde möglich war. Ihr Beispiel widerlegt die These, dass sich alle Menschen unter den Bedingungen von Terror und Unterdrückung gleich verhalten. Selbst im Schatten der nationalsozialistischen Diktatur gab es Menschen, die ihrem Gewissen folgten. Und die bereit waren, dafür zu sterben.

Verglichen mit der Zahl derer, die sich aus Überzeugung, Gehorsam oder Angst fügten oder gar an den Verbrechen der Nazis beteiligten, stellten die mutigen Frauen und Männer des 20. Juli zwar nur eine winzige Minderheit. Doch sie haben ethische Maßstäbe gesetzt. Und am Ende sind es diese Wenigen, die uns bis heute Orientierung bieten.

Deshalb müssen wir die Erinnerung an den 20. Juli 1944 wie auch an die gesamte Bandbreite des Widerstandes lebendig halten. Denn Widerstand leisteten auch die Studenten der „Weißen Rose“, der „Kreisauer Kreis“, der jüdische Widerstand und der einsame Attentäter Georg Elser. Widerstand leisteten Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschaftsvertreter, aber auch Menschen, die Juden versteckten oder gegen den Abtransport von Nachbarn protestierten. Sie alle haben couragiert gehandelt. Und sie alle können uns darin zum Vorbild werden.

Wir leben heute zwar in einer völlig anderen Zeit. Doch die Erinnerung lehrt uns, dass es nichts Wertvolleres gibt als Freiheit, Demokratie und die Achtung des menschlichen Lebens und der menschlichen Würde. Das ist es auch, was wir an die junge Generation weitergeben müssen. Denn auch sie sollte wissen: Unsere freiheitliche Demokratie ist kein Selbstläufer, sondern muss immer wieder neu verteidigt werden – auch gegen jene Unverbesserlichen, die sich heute anschicken, die Geschichte umzudeuten.

In diesem Sinne möchte ich Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, im Namen des Berliner Senats noch einmal für all das danken, was Sie für das ehrende Gedenken an den Widerstand getan haben und für die vielen Impulse, die Sie unserem Land gegeben haben.

Viele von Ihnen suchen immer wieder das Gespräch mit jungen Leuten. Sie berichten von den Ereignissen rund um den 20. Juli 1944, sie erzählen von den Widerständlern, von deren Motiven, Bedenken, oft auch deren Zerrissenheit. Ich halte das für sehr wichtig. Denn häufig vermitteln solche Begegnungen Jugendlichen einen direkteren Zugang zur Geschichte, als etwa Bücher dies können. Nochmals:

Herzlichen Dank.







Weitere Reden

19.07.2013
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück