Menschenrechte und Tyrannenmord

Carlo Schmid
Menschenrechte und Tyrannenmord
Gedenkrede von Prof. Dr. Carlo Schmid am 20. Juli 1958 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin



In den Ruhmeshallen der Völker haben von jeher die Standbilder der großen Befreier den vornehmsten Platz eingenommen. Und in ihren Annalen und Heldenliedern wurde denen das schönste Preislied gesungen, die den Tyrannen verjagten, die dem Tyrannen den Dolch ins Herz gestoßen haben. Nirgends sind Taten wie jene, die Claus Stauffenberg und seine Gefährten begingen, als Morde angesehen worden, nirgends als ein „crimen laesae majestatis“, als Verbrechen gegen die Hoheit des im Träger der Herrschaftsgewalt sich verkörpernden Staates.


Harmodios und Aristogeiton, die Brutusse aller Zeiten, gingen als Vorbilder hoher Menschlichkeit und edler Vaterlandsliebe noch in die Schulbücher ein.


Freilich hat es die tiefer Denkenden immer bewegt, ob der Gehorsam, den man der Obrigkeit schuldet, es gestatte, dem Tyrannen gegenüber zum tödlichen Stahl zu greifen. Ganze Rechtsschulen haben sich in der Antwort auf die so gestellte Frage entzweit, und jene, die sie bejahten, mussten es sich gefallen lassen, Monarchomachen gescholten zu werden.


Aber schließlich hat doch bis in die Theologie hinein das Wissen um das Recht des Menschen gesiegt, sich mit jedem Mittel von denen zu befreien, die es ihm unmöglich machen, nach seiner Bestimmung zu leben – mit allen Mitteln das Joch derer abzuschütteln, die den Menschen zum seelenlosen Objekt ihrer verbrecherischen Willkür degradieren und ihn zwingen, zum Komplizen ihrer Unmenschlichkeit zu werden.


Der Tyrann ist ja mehr als nur ein ungerechter oder unfähiger, übermütiger Herrscher, Grausamkeit allein kennzeichnet ihn noch nicht. Was ihn zum Tyrannen macht und was gegen alles zu Recht werden lässt, was gegen ihn getan wird, das ist, dass er den Menschen zu einem Leben zwingt, das man nur akzeptieren kann, wenn man bereit ist, auf alles zu verzichten, was ein Leben in Selbstachtung möglich macht, wenn man bereit ist, das Böse zum Maßstab der eigenen Lebensordnung zu machen. Tyrann ist, wer uns zu Ehrlosen macht, wenn wir nicht widerstehen.


Nun sagt man freilich, viele der Männer, die gegen die Tyrannei aufstanden – die den deutschen Namen über alles Maß hinaus geschändet hat – die unser Volk so tief zu verderben drohte, dass die Gewöhnung an sie schließlich das rechte Wissen um Gut und Böse aus Sinn und Herz der Deutschen herausgerissen hätte – seien durch einen feierlichen Eid an den Tyrannen gebunden gewesen. Durch den Aufstand gegen ihn hätten sie diesen Eid gebrochen und der Anschlag auf ihn sei darum doppelt verwerflich gewesen.


Ich weiß, wie schwer viele Männer, deren Andenken wir heute feiern, mit den Problemen gerungen haben, die ein Eid dem Gewissen aufgeben kann. Ich weiß auch, dass keiner von ihnen leichtfertig das Band zerrissen hat, dass die Schwurhand einst knüpfte. Aber waren jene Skrupel berechtigt? Und hat irgendjemand ein Recht, den Vorwurf des Eidbruches zu erheben?


Der Eid ist ein Treuegelöbnis, das unter Anrufung Gottes abgelegt wird. „So wahr mir Gott helfe“, sprechen wir, wenn wir schwören. Kann sich einer, der Gott zum Richter über sein Wort anruft, der ihn bittet, ihm bei der Erfüllung seines Versprechens zu helfen, sich zur Treue im Sinne der Gefolgschaft der Verbrechen gegenüber verpflichtet haben? Hat es einen Sinn, den Eid zu berufen, wenn die Treue zum Beschworenen nur den Sinn haben könnte, Mittäter grauenhafter Verbrechen zu werden? Claus Stauffenberg hat einmal gesagt: Hitler sei das Böse an sich. Der Mann, von dem unser Volk sich zwölf Jahre lang beherrschen und in die Irre führen ließ, war in der Tat das Böse an sich. Kann man angesichts einer Inkarnation des Bösen auf den Eid verweisen, den einer geleistet hat, ehe er dieses Böse in seiner Verruchtheit erkannte? Wer dies täte, beginge eine Lästerung! Keiner von uns sollte jenen die Ehre auch nur eines Versuchs der Widerlegung schenken, die den Männern des 20. Juli und ihren bekannten und unbekannten Vorgängern und Nachfolgern gegenüber auf den Fahneneid verweisen, um sie schmähen zu können!


Der Tyrannenmord ist kein Mord im Sinne des fünften Gebotes und der Sittenlehre. Weder der Dekalog noch das Sittengesetz verbieten uns, den zu vernichten, der uns mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben bedroht. Umso weniger verbieten sie uns, den zu vernichten, der unsere Seele mordet, indem wir nur führen können, wenn wir – und sei es nur durch Verschweigen – das Verbrechen gut heißen, wenn wir das Gesetz des Teufels zum Worte Gottes machten. Wenn es keinen anderen Weg gibt, sich aus solcher Not zu befreien, dann ist es sittlich erlaubt, – ja, geboten – den zu töten, der uns, der unser ganzes Volk in den Stand der Unmenschlichkeit zu versetzen droht. Im Deutschland jener Zeit gab es keinen anderen Weg.


Was die Männer des Widerstandes taten, war Notwehr, war Erfüllung einer sittlichen Pflicht sich selbst und dem Volk gegenüber, das keinen anderen Helfer finden konnte als gerade sie. Sie waren keine Mörder und nicht Komplizen von Mördern, sie waren weder Hoch- noch Landesverräter – sie waren Soldaten, die einen guten Kampf gekämpft haben; sie waren Kreuzritter in einem heiligen Krieg, sie haben gehandelt wie St. Georg, der auszog, den Drachen zu töten. Sie waren Patrioten, die es unternahmen, dem Verrat, der zwölf Jahre lang an Deutschland begangen worden war, ein Ende zu bereiten.


Die Männer und Frauen des Widerstandes mögen den verschiedensten politischen Richtungen angehangen haben. Das Bild, das sich der Einzelne von der Gestaltung der Zukunft des deutschen Volkes machte, mag von dem jedes anderen seiner bekannten und unbekannten Gefährten verschieden gewesen sein. Aber ein Band hielt sie alle in einer unsichtbaren Gemeinschaft über Zeit und Raum hinweg verbunden: der Wille, das Leben dafür einzusetzen, dass von dem deutschen Volke die Schande genommen werde, in die es die Gewaltherrschaft des Unmenschen so lange gestürzt hatte. Es ging ihnen dabei nicht um die Stillung noch so edler Bedürfnisse ihres Gemütes. Es ging ihnen nur um eines: der Freiheit und der Menschlichkeit eine Gasse zu bahnen, damit die Menschen unseres Landes endlich wieder menschlich leben könnten – ja, damit der deutsche Name endlich aufhöre, für die Völker der Erde das Wort für „Henker“ zu sein.


Diese Frauen und Männer haben nicht in erster Linie gehandelt, um „Politik zu machen“. Es ist ihnen nicht darum gegangen, die Sieger sanfter zu stimmen, wenngleich sie davon überzeugt gewesen sein mochten, dass die Beseitigung des Tyrannen das Ende der Schrecken des Krieges beschleunigen und die Abschirmung deutschen Landes ermöglichen werde. Sie hatten sich solche Wirkung erhofft; der schlechthinige Beweggrund für ihr Tun war diese Hoffnung aber nicht. Sie waren zu ihrer Tat entschlossen, auch wenn dadurch politisch und militärisch dem deutschen Volk kein Vorteil erwachsen sollte. Ja, die Entschlossensten unter ihnen waren bereit, die militärische Niederlage in Kauf zu nehmen, wenn nur dadurch die Welt von der Herrschaft des Unmenschen und das deutsche Volk von der Schande, ihm zum Werkzeug dienen zu müssen, befreit würde – der Sieg des Rechts erschien ihnen heiliger; im Moralischen siegreich zu sein erschien ihnen ruhmvoller als Heimkehr im Triumph unter besudelten Waffen. Dieser Gedanke stellt uns vor das Herzstück des moralischen Konfliktes, dem sich die Verschwörer gestellt haben: Wie haben wir uns zu entscheiden, wenn ein Verhalten dazu führen kann, dass Deutschland den Krieg gewinnt, dafür aber die Herrschaft der Bestialität für Generationen bis in unsere Seelen hinein befestigt wird – mit KZ, mit Folterkellern der Gestapo, mit der Vergasung weiterer Millionen, mit den Mordtaten neuer Einsatzkommandos – wenn ein anderes Verhalten uns und die Welt von der Zwangsherrschaft des Unmenschen befreien kann, das deutsche Volk aber dafür in Kauf nehmen muss, den Krieg zu verlieren mit allem, was der Verlust eines Krieges nach dem, was anderen Völkern angetan worden ist, bedeuten musste – dafür aber seine Seele wiedergewinnen wird?


Wie schwer mag dieses Dilemma auf diesen tapferen Kriegern, diesen glühenden Patrioten, diesen edelsten Vaterlandsfreunden gelastet haben! Sie haben es nicht umgangen, sie haben sich ihm gestellt und den Knoten der intellektuellen Zwirnsfäden zerhauen, mit denen die Trägheit unserer Herzen so oft und so kunstreich unseren Willen zum rechten Tun in Fesseln schlägt. Sie haben die Tat gewählt, die unserem Volke die Ehre wiedergeben konnte, die es sich hatte stehlen lassen; sie haben unser Land, das zu einer Räuberhöhle zu werden drohte, wieder zu einem Vaterlande gemacht. Sie haben es getan unter Hintansetzung aller politischen Rechnerei.


Dies gilt vor allem für jene, die zu Taten geschritten sind, als es noch den Anschein hatte, die deutschen Heere könnten siegen. Es nimmt ihrem Tun nicht von seiner moralischen Größe, dass dieser Anschein je und je trügerisch gewesen ist und dass jeder Nachdenkliche wusste, dass dieser Krieg von Anfang an nicht zu gewinnen war, dass die deutschen Heere zwar Schlachten gewinnen konnten, aber den Krieg verlieren mussten.


Das Vorhaben der Helden, zu deren aller Ruhm hier stellvertretend das Denkmal dieses edlen deutschen Jünglings steht, ist gescheitert. Der Tyrann entkam. Der Krieg ging weiter. Das deutsche Volk hatte den bitteren Kelch der Schande und des Leidens bis zum letzten Tropfen zu leeren. Doch wenn je das Wort gelten durfte: „Und ihr habt doch gesiegt!“, so hier! Es gilt von den politischen Folgen der Tat so gut wie von den moralischen.


Das Politische sei dem Moralischen fremd oder gar feind, hört man oft sagen. Dies ist ein törichtes Wort, und nirgends erweist sich seine Torheit deutlicher, als an dieser Stelle: War nicht die Tat jenes 20. Juli vor zehn Jahren, waren nicht die Opfer, die Deutsche vor und nachher brachten, die Ursache, dass die Sieger dieses Krieges, von denen manche jahrelang unter einer Gewaltherrschaft zu leiden hatten, die im Namen des deutschen Volkes ausgeübt worden war, uns schließlich – nachdem sie begriffen hatten, was in Deutschland auch geschehen konnte, nicht mehr als angeklagte Verbrecher behandelt haben, die man in Sicherheitsverwahrung zu nehmen hat, sondern als mögliche Partner einer besseren Welt von morgen?


Auf dem Felde der Moral könnte die Ernte noch reicher werden, wenn wir den Acker weiter bestellen, den sie mit ihrem Geist angesät und mit ihrem Blut gedüngt haben. Hätte es nicht das Heldentum der Frauen und Männer des Widerstandes gegeben – jenes 20. Juli und jener anderen, die das Geschehen dieses Tages nicht ausdrücklich mitumfasst – was gäbe unserem Volke das Recht, den Menschen anderer Völker gerade ins Auge zu blicken?


Gewiss, es gibt keine Kollektivschuld. Es gibt aber auch kein Recht, sich auf eine Kollektivunschuld zu berufen. Und es gibt Verbrechen, die auch nicht – gerade von uns nicht – vergessen werden dürfen, und mit deren Urheber es keine Versöhnung geben kann. Mögen die ihnen vergeben, die sie getreten haben. Uns ziemt nach dem Wort unseres Bundespräsidenten „kollektive Scham“. Diese Scham müsste uns ersticken; es müsste uns moralisch unmöglich sein, sie von uns wegzuwälzen, wenn nicht die Helden des Widerstandes es auf sich genommen hätten, zu kämpfen und zu leiden, damit auch in dieser unmenschlichen Zeit in unserem Lande eine Fahne der Menschlichkeit, der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Ehre im Sturmwind der Geschichte wehen könne.


Wenn wir dieses recht begreifen und es uns nicht damit genug sein lassen, uns in kollektivem Selbstlob der Frauen und Männer, deren Andenken wir feiern, zu rühmen – wenn wir statt dessen in uns gehen und eingedenk werden, wie wenig wir – verglichen mit dem, was jene taten – für unser Volk hergaben, dann könnte es sein, dass wir eines Tages uns das Recht verdient haben könnten, zu sagen: „Sie, die unter dem Beil, die am Galgen, die in den Gaskammern, am Pfahle gestorben sind, haben stellvertretend auch für uns gehandelt; der harte Lorbeer, den sie, einer Dornenkrone gleich, in ihre Stirne gedrückt haben, hat die Schuld weggenommen, die auf uns lastete, die nicht vermochten, Deutschland und die Welt aus dem Würgegriff des Tyrannen zu befreien. Nun dürfen wir wieder sagen: Heilig Herz der Völker, Vaterland!”

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