Nacht über Deutschland

Eugen Gerstenmaier
Nacht über Deutschland
Gedenkrede des Bundestagspräsidenten Dr. Eugen Gerstenmaier am 20. Juli 1956 im Ehrenhof des Bendlerblocks in der Stauffenbergstraße, Berlin



Meine Freunde,


die Sonne war längst untergegangen. Es war Nacht geworden über Deutschland, als in der Nacht vom 20. zum 21. Juli Claus Graf von Stauffenberg, Friedrich Olbricht, Oberst Mertz von Quirnheim und Werner von Haeften an dieser Wand unter der dröhnenden Salve eines großen Exekutionskommandos starben.


Es war Nacht geworden über Deutschland. Die Sonne war untergegangen, und der unaufhaltsame Sturz in den Abgrund hatte begonnen. Ein dröhnender Ruf geleitete ihn. Über die Sterbenden dröhnte aus diesem Hof das „Sieg-Heil“ auf den „Führer“ donnernd über die Dächer. So ging das Deutsche Reich in den Abgrund.


Ich denke, es bedarf heute, nach zwölf Jahren, nicht vieler Worte, um dem deutschen Volk die Tat begreiflich zu machen, die an diesem Tag, am 20. Juli 1944, hier vollendet wurde. Es steht fest, dass in diesen letzten neuneinhalb Monaten des Krieges, vom 20. Juli 1944 bis zum 8. Mai 1945, fast doppelt so viele Menschen starben, als in den 59 Kriegsmonaten zuvor zusammen gestorben sind. Es steht fest, dass der letzte Versuch zur Rettung des deutschen Volksbodens, zur Rettung des Reiches, zur Rettung des Volkes aus dem Sturz gescheitert ist. Es steht fest und es bedarf keiner Worte, dass, wenn dieser letzte Versuch der Rettung geglückt wäre, heute unendlich viele vermutlich noch auf eigener Scholle stünden und viele Söhne, Töchter, Väter und Mütter noch unter uns wären.


Nun, es war uns nicht gegeben. Aber, meine Freunde, es wäre nicht richtig, die Tat des 20. Juli 1944 nur in diesem Zusammenhang zu begreifen, zu rechtfertigen, zu begründen. Nein, dieser Gedanke, diese Vergegenwärtigung dessen, was noch hätte gerettet werden können, ist ein gutes Argument und ist ein guter Grund gegen das Geschwätz der Dolchstoßlegende im Zweiten Weltkrieg. Aber der innere Begründungszusammenhang dessen, was sich hier am 20. Juli vollendet hat, ist ein anderer, ein tieferer. Am 8. August 1944 traten die ersten acht, die nicht hier starben, sondern in die Prinz-Albrecht-Straße geführt wurden, vor ihren Richter Freisler. Neben dem alternden Generalfeldmarschall standen die Männer in der Vollkraft ihrer Jahre, die eigentlich nach menschlichem Ermessen den größeren Teil ihres Lebens noch vor sich hatten. Neben dem Generalfeldmarschall stand der Leutnant Graf Yorck von Wartenburg. Er war kein zungenfertiger Mann der Debatte, aber am 8. August, vis-a-vis mit Freisler, traf er den Nagel auf den Kopf. Er sagte: „Das Wesentliche zwischen Ihnen und uns ist der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtung vor Gott.”


Es ist keine Frage, dass in diesem Wort der letzte Hintergrund und Untergrund sichtbar wurde, der schon Jahre zuvor das andere Deutschland in Bewegung gebracht hatte. Es ging nicht nur um die Abwendung einer letzten, einer äußersten Katastrophe, sondern es ging um den „Aufstand des Gewissens“. Es ging um eine Hinwendung der Besten der Nation zu den Geboten Gottes. Es ging schließlich darum, von wem unser Volk bestimmt sein sollte, von Gott oder dem Dämon. Das ist das Thema, das unverlierbare Thema des 20. Juli 1944 und auch das eigentliche letzte Thema dessen, was man den deutschen Widerstand gegen Hitler genannt hat. Es ging dabei nicht allein um die Freistellung des einen oder anderen sensiblen Gewissens von den unerhörten und untragbar gewordenen Machtansprüchen des totalen Staates, sondern es ging dabei um die Zurückholung der Gemeinschaft des Volkes, um die Zurückholung des deutschen Staates unter Gottes Gebot und Ordnung. Die Wiederherstellung des Rechtsstaates – das war das Thema, und es war uns gewiss, dass, wenn das nicht gelinge, Deutschland verloren sei.


Im Jahre 1936 hat Hitler als Oberkommandierender der deutschen Armee einen Fahneneid erlassen, der den Soldaten ebenso wie den Bürger allein an ihn in unbedingtem Gehorsam unter Absehung von jeder Norm göttlichen oder menschlichen Rechts gebunden hat. Um die Männer, die hier gestorben sind, um unsere Freunde geistert auch heute in unseren Tagen wieder das Geraune vom Eid- und Traditionsbruch. Nun, es ist wahr: Wir haben uns frei und ledig gesprochen von dem unbedingten Gehorsam gegenüber einem Mann, der göttliches und menschliches Recht, der die von ihm beschworene Verfassung hundertfach mit Füßen getreten hat. Aber es ist wichtig – so scheint mir – dass das deutsche Volk heute wieder versteht, wo die Grenze menschlichen Gehorsams ist und dass es begreift, dass es am 20. Juli 1944 dem Manne, der zu Unrecht Männer und Frauen unter den unbedingten Gehorsam unter sich selber gebeugt hat, mit Recht der Gehorsam aufgesagt wurde.


Im alten preußischen Fahneneid von 1831 ist der Grund, von dem aus der deutsche Stoß gegen Hitler in Verantwortung vor Gott und der deutschen Geschichte geführt wurde, angegeben. Der alte preußische Fahneneid von 1831 verlangte von den Soldaten in Kriegs- und Friedenszeiten Treue und redlichen Dienst, Gehorsam gegenüber den Kriegsartikeln und ein Betragen – ich zitiere – „wie es einem rechtschaffenen, unverzagten, pflicht- und ehrliebenden Soldaten eignet und gebührt.” Jener Eid wurde geschworen: „So wahr mir Gott helfe durch Jesum Christum und sein heiliges Evangelium.” Und der alte bayrische Fahneneid wurde entsprechend geschworen: „So wahr mir Gott helfe und sein göttliches Wort.”


In diesen Eiden, meine Freunde, wird, anders als in dem Tyranneneid von 1936, die Bindung und Grenze deutlich, die für den totalitären Staat Adolf Hitlers das Unerträgliche schlechthin war, weil in diesen alten Eiden ein Generalvorbehalt seinen letzten unbedingten Ausdruck gefunden hatte, nämlich den, dass der Gehorsam gegen den Eidnehmer begrenzt ist durch das Gebot Gottes. Das ist der Generalvorbehalt des alten preußischen und des bayrischen Fahneneides: Sie verweigern dem Eidnehmer das absolute Recht auf den Menschen und sie erhalten damit dem Bürger und dem Soldaten die Würde, auf die er, auch gegenüber dem Staat, einen unbedingten Anspruch von Gottes wegen hat.


Dieser Begründungszusammenhang war verlassen und gebrochen, und darum haben sich die, die am 20. Juli den bewaffneten Stoß gegen den gewalttätigen Eidnehmer, Ehrbrecher und Verletzer der deutschen Ehre geführt haben, zu Recht von dem ihnen auferzwungenen Eid frei und ledig gesprochen. Sie sind damit zurückgekehrt zu der besten Tradition der deutschen Geschichte, zu dem Besten, was auf diesem Boden wuchs, auf dem wir uns heute wieder befinden.
Meine Freunde, es geht heute aber nicht allein um die Frage des Eides, sondern es handelt sich auch darum, dass wir mit unserer eigenen Geschichte ins Reine kommen. Es ist nicht genug, dass wir still das Haupt senken in dankbarer, liebevoller Verbundenheit mit den Freunden und Gefährten, die von hier aus ihren letzten Gang angetreten haben. Es ist wichtig und verpflichtend für uns, dass wir in unserem Volk und mit unserem Volk weiterschreiten, hinein in den neuen Tag, den Gott unserem Volk über alle Katastrophen hinaus aus Gnade beschert hat. Und dazu gehört, dass wir ins Reine kommen mit unserer Geschichte, dass wir nein sagen zu dem, was Unrecht war und Unrecht ist, dass wir nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre, und dass wir uns nicht den Leichtvergesslichen zugesellen. Uns liegt es nicht, in alten Wunden zu wühlen, aber wir halten es für unsere Pflicht, dass wir der Schuld, die auf uns liegt und die auch wir mittragen, nicht ausweichen.


Ein Zweites, was dazu gehört und mit gesagt werden muss: Es ist aber auch an uns, dem die Treue zu halten und dort, wo es mannhaft von uns gefordert ist, das Wort zu reden, was groß ist in unserer nationalen Geschichte. Es ist nicht wahr, wenn immer wieder der Ruf zu uns herübertönt, dass es eine Linie sei von Friedrich II. – geringschätzig der „Zweite“ genannt –, eine Linie von Friedrich dem Großen über Bismarck, den Reichsgründer, zu Hitler, der dieses große Erbe nur mit Füßen treten und vernichten konnte.


Es ist nicht wahr. Einer solchen Deutung der deutschen Geschichte widerstehen wir um der Wahrheit willen. Wir sagen dankbar, treu und in Wahrnehmung des Vermächtnisses, für das unsere Freunde gefallen und gestorben sind, ja zu der Geschichte unseres Volkes, zu dem einigen Reich der Deutschen. Wir sagen ja zu der Tradition des Deutschen Reiches, auch zu der Tradition Preußens mit ihrer Größe und mit ihrer Schuld.


Aber wir erheben unseren Blick darüber hinaus. Adam von Trott zu Solz hat einmal ein Wort gesagt, über dem er gestorben ist: „Unser Kampf ist eine elementare Notwendigkeit für das Leben Europas.” Ich glaube, er hat kein Wort zu viel gesagt. Wir würden uns und das, was uns in diesem Haus mit auf den Weg in die Zukunft gegeben ist, missverstehen, wenn wir nur an die Wiederherstellung von Altem und Gewesenem zurückdächten. Davon kann keine Rede sein. Was wir wollen und was uns auch dieser Tag in jedem Jahr von neuem an das Herz gräbt, das ist, dass wir Deutsche geläutert in einen neuen Tag unseres Volkes hineingehen, dass wir unser Bestes daransetzen, unser Volk zu einem einigen und freien, in Gesamtheit zusammenlebenden, auf seinem Volksboden sich frei bewegenden Volk zu machen.


Wir sind aber willens, mit ihm hinüberzugehen und es in eine neue staatliche Gemeinschaft der europäischen Völker hineinzuführen. Das ist kein blasser Traum, sondern diejenigen, die am 20. Juli gestorben sind, haben dafür gekämpft und gelebt und sie haben sich damals schon unter unsäglich schweren Bedingungen darum bemüht.


Meine Freunde, was bleibt als Vermächtnis an uns? Es bleibt, dem Geist der Unbußfertigkeit und des Zynismus, der da und dort empor flackert, entschieden und männlich zu widerstehen und nicht die Frage der Opportunität mit etwas zu verknüpfen zu lassen, was eine Pflicht unseres Gewissens ist.
Es gilt für uns, den Geist des freiheitlichen deutschen Rechtsstaates zu verfechten, diesen Geist zu pflegen und die Gestalt, in der er leben will, weiterzubilden. Und schließlich gilt es für uns, Bahnbrecher und Wortführer der immer von neuem notwendigen großherzigen Versöhnung in unserem Volke zu sein. Wer sich guten Willens und lauteren Herzens von der Tyrannei losgesagt hat – gleichgültig, wie er ihr untertan war –, der steht uns gleich. Professor Huber in München, gestorben mit den Geschwistern Scholl, hat in einem letzten Brief geschrieben:


„Mein Tod ist die Reinschrift meines Lebens.” Nun, meine Freunde, wir sind hier, weil wir glauben, dass es von Wichtigkeit für uns ist, dass es von Wichtigkeit für das Leben und für die Zukunft des ganzen deutschen Volkes ist, dass die Reinschrift dieses und vieler anderer Leben, die im Kampf gegen die Tyrannei ehrenvoll gefallen sind, in unserer Zeit und in den künftigen Tagen nachbuchstabiert wird. Das geht uns, die Freunde, die Weggefährten, die Hinterbliebenen, die Frauen, die Eltern, die Söhne und Töchter derer an, die hier geblieben sind. Es geht sie zuerst an; aber es geht sie nicht allein an. Es geht das ganze deutsche Volk an, ohne Unterschied von Alt und Jung, von Partei und Gruppe, von Konfession und Geschlecht. Es geht uns alle zusammen an.


Das Licht des neuen Tages, das über unser Volk heraufgezogen ist, sinkt, wenn im deutschen Volk das Ja zu dem heiligen Vermächtnis des 20. Juli 1944 verstummt. Dieses Vermächtnis soll uns Deutsche nicht trennen, sondern es soll uns brüderlich vereinigen auf der neuen Bahn, in der Liebe zum Recht und zur Freiheit gilt und in dankbarer Bewahrung dessen, was sie uns vorgelebt und vorgestorben haben. Wir sind gewillt, ihnen darin die Treue zu halten, so wahr uns Gott helfe.