Pater Alfred Delp, der Mann, den ich verleugnen musste

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Hermann Alexander Schlögl

Pater Alfred Delp, der Mann, den ich verleugnen musste

Festvortrag von Prof. Dr. Hermann Alexander Schlögl am 19. Juli 2011 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren,

Bei Johann Wolfgang von Goethe heißt es in „Reineke Fuchs“:

„Es macht die Geburt uns

Weder edel noch gut, noch kann sie zur Schande gereichen.

Aber Tugend und Laster, sie unterscheiden die Menschen.“

Diesen Satz möchte ich als Motto an den Beginn meiner Ausführungen stellen.

Mein Vater, Direktor des Niederbayerischen Christlichen Bauernvereins, war Abgeordneter der Bayerischen Volkspartei im Stimmkreis Landshut-Vilsbiburg, als ich im Jahr 1932 in der niederbayerischen Hauptstadt als jüngster von vier Söhnen geboren wurde. Die Bayerische Volkspartei war damals mit 45 Abgeordneten die stärkste Fraktion im Bayerischen Landtag und stellte mit Dr. Heinrich Held auch den Bayerischen Ministerpräsidenten.

Ein enger Parteifreund meines Vaters war unter anderen der Rechtsanwalt Fritz Schäffer, den ich als Kind oft gesehen habe und der für mich so etwas wie ein lieber „Onkel“ gewesen ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Schäffer ganz kurze Zeit der erste Bayerische Ministerpräsident, später hatte er in den Kabinetten Konrad Adenauers die Position des Bundesfinanzministers und von 1957 bis 1961 die des Bundesjustizministers inne.

Ein weiterer Freund war Dr. Alois Hundhammer, der 1932 stellvertretender Generalsekretär des Bayerischen Christlichen Bauernvereins war und später in der Nazizeit, mit Berufsverbot belegt, in München ein Schuhgeschäft betrieb. Mussten wir – bei vier Heranwachsenden unabdingbar – Schuhe kaufen, hieß es bei uns: „Schuhe nur bei Hundhammer“.

Die Fraktion der NSDAP stellte im Jahr 1932 im Bayerischen Landtag 43 Abgeordnete und war damit zweitstärkste politische Kraft. Unter diesen Parlamentariern war eine üble Person, die später Schrecken und Tod verbreiten sollte: der Herausgeber des Hetzblattes „Der Stürmer“, Julius Sreicher aus Nürnberg. Nach den Landtagsstenogrammen legte sich mein Vater besonders mit diesem Abgeordneten an. Das Echo ließ nicht lange auf sich warten.

Das, was ich jetzt berichte, kenne ich sowohl aus Erzählungen meiner Mutter als auch aus dem späteren Gerichtsverfahren gegen die Täter im Jahr 1946 in München, an dem auch der englische Journalist Taylor als Zeuge teilnahm. Die Prozessunterlagen werden heute zum Teil im Archiv der Hanns-Seidel-Stiftung aufbewahrt.

Am 13. Juni 1933 drangen um 4 Uhr morgens neun Mitglieder des Landshuter SA-Sturms 3 unter dem Kommando des Kaufmanns und Sturmführers Michael Bernhard nach einem feuchtfröhlichen Kameradschaftsabend gewaltsam in unser Wohnhaus ein. Sie trafen dort nur das 19-jährige Kindermädchen an, denn wir, Vater, Mutter und die vier Kinder, waren aufgrund einer Warnung nach Tittling bei Passau gereist, wo meine Großmutter wohnte. Als das Mädchen sich weigerte, unseren Aufenthaltsort zu verraten, fingen die SA-Männer an, es zu misshandeln: „Schwarzes Luder, du musst genauso verrecken wie der andere“, schrieen sie, brachten dem Mädchen schwere Verletzungen bei, indem sie es aus dem Fenster warfen. Schließlich bekamen sie von ihm unseren Aufenthaltsort genannt. Zum Schluss zerstörten sie die Wohnungseinrichtung, schlitzten mit Messern Matratzen, Polsterungen von Möbeln und Ölbilder auf, darunter auch zwei Kinderbilder meiner Brüder, die, zwar restauriert, noch heute Spuren dieser Demolierung tragen.

Dann verließen sie das Haus, ohne sich um das verletzte Mädchen zu kümmern, besorgten sich in „dringendem Auftrag“ ein Auto und fuhren nach Tittling. Mein Vater erhielt einen Anruf aus Landshut vom Sekretär beim „Niederbayerischen Christlichen Bauernverein“, Lorenz Vilgertshofer, der ihn über das, was in Landshut vorgefallen war, berichtete und ihn bat, das Land via Österreich sofort zu verlassen. Während man nach dem Telefonat noch darüber diskutierte, was zu tun sei, war der SA-Trupp in Tittling angekommen, und stürmte das Haus meiner Großmutter. Was folgte, war ein Prügelexzess von neun Männern gegen meinen Vater, der zuerst noch rief: „Schämen Sie sich, einen ehemaligen Offizier zu schlagen“, bevor er bewusstlos zusammenbrach. Einer der SA-Männer machte ein menschenverachtendes „Späßchen“. Er zog einen Gegenstand aus der Tasche, der einer Pistole glich und trieb damit meinen damals sechsjährigen Bruder Waldemar in den Garten. Meine Mutter warf sich dazwischen. Der SA-Mann lachte. Er hatte nur ein Feuerzeug in der Hand und zündete sich eine Zigarette an.

Inzwischen war das halbe Dorf zusammengelaufen, aber niemand wagte, etwas zu unternehmen. Die SA-Männer konnten deshalb unbehelligt abziehen. Mein schwerverletzter Vater wurde in ein Krankenhaus gebracht. Bei diesem Transport fotografierte ihn der englische Bildberichterstatter Taylor, und veröffentlichte das Foto in der „Times“ London mit einer Bildunterschrift, die etwa lautete: „So gehen die Nationalsozialisten mit ihren politischen Gegnern um.“

Obwohl nach der Gewaltorgie Anzeige erstattet wurde, hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren mit einer Beschimpfung gegen meinen Vater „wegen bösartiger Bekämpfung des Nationalsozialismus in verwerflicher, gehässiger Form“ am 2.8. 1933 eingestellt. Der Anführer der SA-Truppe Bernhard wurde zum Hauptsturmführer befördert, während die Bayerische Volkspartei am 4. Juli des gleichen Jahres unter Zwang aufgelöst worden war.

Unsere Familie war plötzlich mittellos. Nun sprang meine Großmutter aus Tittling großzügig in die Bresche und half uns, wo sie nur konnte. Als mein Vater nach einem halben Jahr aus dem Krankenhaus kam, wurde er zuerst als Schriftsteller für katholische Zeitungen und Zeitschriften tätig. Aus Landshut zogen wir weg, zuerst nach München, dann nach Kochel am See, dann wieder nach München. Um unerkannt zu bleiben haben wir in einem Jahr achtmal unsere Wohnung gewechselt. Das war für die beiden ältesten Söhne, Robert und Elmar, schulmäßig nicht mehr tragbar. So kamen sie ins Internat nach Metten, ein humanistisches Gymnasium, das vom Orden der Benediktiner geleitet wurde.

Im Jahr 1937 versuchte mein Vater in unserer damaligen Wohnung in München-Schwabing, Konradstr. 2, 1. Stock, ein Büro für Steuer- und Wirtschaftsberatung aufzumachen. Mit Hilfe von alten Freunden gelang ihm der Start gut, und die finanzielle Situation der Familie verbesserte sich. Viele Künstler gehörten zur Klientel meines Vaters, darunter auch der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, Oswald Kabasta. Meine Mutter hat mir später erzählt, dass Oswald Kabasta genau wusste, wie mein Vater zum Nationalsozialismus stand. Ungeachtet dieser Tatsache, blieb er.

Die Wohnung ist mir bis heute lebhaft in Erinnerung. Ich kann noch im Rückblick darin herumgehen, weiß minutiös, wie die Zimmer eingerichtet waren.

Schräg gegenüber von unserem Mietshaus, an der Ecke Kurfürsten- und Konradstrasse, gab es ein Kolonialwarengeschäft, das einer Frau Bär gehörte, eine Frau von freundlichem und mütterlichem Wesen. Immer, wenn mein Bruder und ich einige Pfennige geschenkt erhalten hatten, stürmten wir zu Frau Bär und holten uns aus einem hohen Glasgefäß mit Stöpsel herrlich schmeckende Himbeer-Bonbons.

Am 10. November 1938 ging ich morgens mit meiner Mutter aus dem Haus und starrte auf das Geschäft der Frau Bär, das vollständig zerstört und geplündert war. Glasscherben und Teile der Einrichtung lagen in Trümmern umher, eine Verwüstung ungeheuren Ausmaßes. Ich fragte entsetzt meine Mutter: „Wer hat das getan?“ Sie antwortete: „Das waren ganz böse Menschen!“ Bald bekam ich aus verschiedenen Gesprächen Erwachsener heraus, die mich dabei als Kind mit neugierigen Ohren gar nicht wahrnahmen, dass es Hitlerleute gewesen waren, die das getan hatten.

Wer Hitler war, glaubte ich zu wissen, das war der Mann mit dem Schnurbart, dessen Bild überall zu sehen war. Er war der Höchste in Deutschland und die Leute grüßten und sagten dabei nicht „Grüß Gott“, sondern meistens „Heil Hitler“. Wenn Hitlers Leute die waren, die der Frau Bär das angetan hatten, dann hielt ich auch ihn für einen bösen Mann.

Bald merkte ich, dass meine Eltern diesen Hitler verabscheuten. In meiner Gegenwart sagten sie aber über das Regime nichts. Wenn sie darüber sprachen und ich dazu kam, sagten sie „die Schindeln sind auf dem Dach“, dabei sahen sie manchmal so merkwürdig auf mich und wechselten sofort das Thema. Wie ich dann doch herausbekam, was sie dachten, geschah durch ein Erlebnis. Eines Tages läutete es an der Wohnungstür, mein Vater öffnete, während ich dabeistand. Ein alter Freund meines Vaters erschien in der Türe. Er trug ein rundes knopfartiges Abzeichen am Revers seiner Jacke, auf dem ein Hakenkreuz prangte. Mein Vater trat erschrocken zwei Schritte zurück und sagte dann mit einem für mich unvergesslichen Tonfall: „Auch du, wie kommst du dazu“, und deutete dabei auf diesen Knopf. „Ich musste in die Partei eintreten, ich hätte sonst die Stelle nicht bekommen“, entschuldigte sich der Besucher. Seit diesem Vorfall wusste ich, dass in den Augen meiner Eltern Hitler und seine Leute so etwas wie Feinde waren.

Zu dieser Zeit kamen meine Brüder aus dem Internat Metten zurück, denn sie sollten sich in München auf das Abitur am Maximiliansgymnasium vorbereiten. Es war eine schöne Zeit für mich, und ich genoss es, dass die Familie wieder zusammen war. Robert und Elmar gingen öfter weg und gaben ein Ziel vor, das KBS hieß. Ich wusste nicht, was das bedeutete. Später erfuhr ich, dass sie zu einer Jugendgruppe der Marianischen Kongregation gingen, die in der Kaulbachstraße, hinter der Ludwigskirche, ihren Sitz hatte. Es ging dieser Gruppe vor allem darum, die Kreativität von jungen Menschen zu fördern, sei es durch Wanderungen, Sport, Musik, Lesungen und Theater, auch erteilte sie kostenlose Nachhilfe in schulischen Fächern und versuchte ohne Druck und Zwang die Mitglieder nach christlichen Wertvorstellungen heranzubilden. Nun verstand ich auch das Kürzel KBS, nämlich Kaulbachstraße. Geleitet wurde diese kirchliche Verbindung von dem Jesuitenpater Dr. Max Freiherr von Gumppenberg und seinem Helfer Frater Johann B. Fiala, dem späteren Generalpräfekten von St. Blasien. Es war für diese beiden Jesuiten ein gefährdetes Leben und Arbeiten, denn alle Jugendorganisationen außerhalb der Hitlerjugend waren verboten. Ihre Tätigkeit war somit illegal und hatte mehr oder weniger im Untergrund stattzufinden.

Im Jahr 1939 wurde ich in Schwabing eingeschult, ich kam in die sogenannte Türkenschule in der Türkenstraße. Allerdings war ich nur kurze Zeit dort, denn wir zogen wieder einmal um, diesmal in eine größere Wohnung, auch im Stadtteil Schwabing gelegen, und zwar in die Bauerstraße 19/20. Ursprünglich bestand das neue Heim aus zwei Wohnungen, die ein früherer Mieter zusammengelegt hatte. So gab es im Treppenhaus noch eine Haustüre auf der linken und eine auf der rechten Seite, die beide in unsere Wohnung hineinführten.

Nach dem Umzug verbrachten wir die Sommerferien in Garmisch-Partenkirchen. Dort besuchten uns Frater Fiala und zwei Freunde meiner Brüder von der KBS.

Während dieser Pseudoidylle brach am 1. September der Zweite Weltkrieg aus. Dauerverdunkelung wurde angeordnet. Alle Fenster hatten von jetzt an nachts einen hässlichen schwarzen Vorhang, damit kein Lichtstrahl von innen nach außen durchdringen konnte.

Wir kehrten nach München zurück. Ich besuchte nun die Simmernschule, die nicht weit vom Schwabinger Krankenhaus entfernt lag. In der Bauerstraße 19, im 4. Stock, wohnte mein gleichaltriger Schulkamerad, der Armin Hohlweg hieß. Wir waren die ganze Volksschulzeit und später am Maximiliansgymnasium zusammen, bis seine Eltern nach Bayreuth wegzogen. Vor einiger Zeit habe ich ihn in München wiedergetroffen. Er ist Professor für Byzantinistik an der Universität München.

In dieser Zeit, etwa Anfang 1940, fing ich an, zwischen einer Innen- und einer Außenwelt zu unterscheiden. Wurde ich in der Schule gefragt, ob mein Vater Parteimitglied wäre, sagte ich mit dem Brustton der Überzeugung: „Ja, natürlich!“ Einmal hatte ich von einer Organisation Todt oder Tod gehört, ich wusste nicht ganz genau, was das für eine Gruppierung war, jedenfalls glaubte ich, es sei etwas ganz Besonderes oder Bedeutendes innerhalb der Naziorganisationen. So log ich, dabei geheimnisvoll flüsternd: „Mein Vater ist sogar Mitglied in der Organisation Todt“. Ich weiß nicht genau, warum ich das getan habe, vielleicht war es eine innere Zerrissenheit, weil ich so gerne wie die anderen sein wollte. Ich erzählte zu Hause davon nichts. Doch wusste ich auf jeden Fall, wohin ich gehörte. Ich erinnere mich noch an eine Straßenbahnfahrt, ich war eng in die Menge der Fahrgäste eingezwängt. Neben mir stand ein Mann: Als ich an ihm hochblickte, sah ich, dass er ein goldenes Parteiabzeichen trug. Ich versuchte jetzt vergeblich, eine körperliche Berührung zu vermeiden, ich drückte mich so weit wie nur irgend möglich weg von ihm, weil ich in ihm einen ganz besonderen und gefährlichen Feind sah.

Im Jahr 1940 wurden meine älteren Brüder, Robert und Elmar, zum Militärdienst rekrutiert. Während ihrer Ausbildungszeit in Lenggries in der Nähe von München kamen sie noch ab und an nach Hause. Auch mein Vater, der Offizier im Ersten Weltkrieg war, wurde als Hauptmann zu einer Flak-Kompanie eingezogen.

Eines Tages, spät im Jahr 1940, als mein Vater und meine Brüder auf Urlaub daheim waren, kam Pater von Gumppenberg in die Bauerstraße. Er brachte einen jungen Begleiter mit, der, wie ich später erfuhr, Pater Alfred Delp war. Ich selbst hatte bei dieser Zusammenkunft unsichtbar zu bleiben, doch habe ich die Patres vom Fenster aus gesehen, als sie nach etwa einer Stunde wieder weggingen.

Die deutsche Armee war siegreich. Nun setzte eine ungeheuere Begeisterungswelle in der ganzen Bevölkerung ein, Hitler wurde zum größten Feldherrn aller Zeiten hochstilisiert. Man sprach nur von Blitzkriegen. Sondermeldungen vom Vorstoß deutscher Truppen, von auf dem Meer versenkten Schiffen, angekündigt mit Fanfaren-Musik, tönten täglich aus dem Radio. In den Lichtspielhäusern gab es vor jedem Film eine ausführliche „Deutsche Wochenschau“. Wir lernten in der Singschule Lieder wie „Es zittern die morschen Knochen“, oder „Heute wollen wir ein Liedchen singen“, dessen Schlussphrase lautete „Wir fahren gegen Engeland, ahoi“. Wir Schüler wurden mit Propagandaschriften geradezu überschwemmt. Ich erinnere mich an Fortsetzungsreihen: Eine hieß „Spannende Geschichten“, die andere „Kriegsbücherei der Deutschen Jugend“, die es zwar schon seit 1939 gab, die aber jetzt eine besonders große Verbreitung erreichten. Das waren Hefte von etwa dreißig Seiten Umfang, mit schreiend bunten Umschlagblättern. Für 20 Pfennige gab es sie in jedem Schreibwarengeschäft. In der Schule gesammelt und getauscht, liefen sie von Hand zu Hand.

Eines Tages brachte ich ein solches Heft mit nach Hause. Es trug den für mich merkwürdigen Titel: „So fiel Hela“. Weil ich nicht wusste, was mit Hela gemeint war, denn die Halbinsel vor Danzig kannte ich nicht, glaubte ich an irgendein Hela genanntes Produkt. So war ich überzeugt, dass es ein Druckfehler sei und das „fiel“ mit „v“ hätte geschrieben werden müssen.

Mein fünf Jahre älterer Bruder Waldemar, der sich seit einiger Zeit in der KBS auch als Gruppenleiter engagierte, sprach mit mir über den Inhalt des Heftes und machte mir bewusst, welche Tendenz diese Schriftreihe verfolgte, dass sie der Jugend eine verlogene Soldatenromantik vorgaukelte und außerdem in einem ganz schlechten Deutsch geschrieben wäre. Er hatte eine sehr umstimmende Kraft, und so überzeugte er mich. Ich habe nie wieder ein solches Heft in die Hand genommen und nie mehr behauptet, mein Vater wäre Parteimitglied. Etwa in der Zeit wurde ich zum begeisterten Karl May Freund, das war nun meine Welt. Alle Namen von Hadschi Halef Omar kann ich noch heute hersagen.

Im Juni 1941 begann der Feldzug gegen Russland, meinen Bruder Robert traf das Schicksal hart: Er war als Infanterist an vorderster Front dabei. Meine Mutter wurde gegen das Hitler-Regime von da ab immer aggressiver. Sie hatte selbst mich Neunjährigen eingeweiht in das, was unserer Familie 1933 geschehen war. So kam es gar nicht in Frage, dass mein Bruder Waldemar oder ich in die Hitlerjugend gehen durften. Als irgendein HJ-Führer deshalb in der Bauerstraße vorstellig wurde, schrie meine Mutter ihn an: „Mein Mann und zwei Söhne stehen im Krieg in der vordersten Gefechtslinie, und Sie treiben sich in der Heimat herum, um Kinder zu einem Kameradschaftstreffen zu befehlen“. Dann warf sie ihn kurzerhand aus der Wohnung. Er kam nie wieder.

Die Sommerferien 1942 verbrachten wir beim Pfarrer von Hopfgarten in Tirol, ein Dorf, nur wenige Kilometer von Kitzbühel entfernt. Eines Tages machten wir einen Ausflug nach Schloss Itter. Dort in der Nähe betraten wir einen Gasthof. Meine Mutter sagte „Grüß Gott“.

Der Wirt antwortete: „Bei uns heißt das „Heil Hitler“. Meine Mutter: „Bei uns „Grüß Gott“.

„Schaut’s dass aussi kemmts“, brüllte der Wirt. Wir gingen zur Tür. Dort drehte meine Mutter sich um und rief „Grüß Gott“, dann schloss sie die Tür.

In der Nacht vom 19. auf den 20. September erlebte München den ersten Bombenangriff. Die Innenstadt und vor allem Schwabing wurden schwer getroffen. Auf dem Schulweg sah ich die zerstörten Häuser. In einem Gebäude in der Wilhelmstraße befand sich im ersten Stock noch die Standuhr an der Wand in einem Wohnzimmer, das es nicht mehr gab.

Als Besucher durfte ich jetzt auch in die KBS. Vor allem konnte ich, was ich sehr zu schätzen wusste, aus der Bibliothek Bücher ausleihen. Beim Weihnachtsfest 1942 besuchten wir die Christmette in der krypta-ähnlichen Kapelle des Kollegs.

Es war im Januar 1943, als ich mir eines Nachmittags ein Buch auslieh, das noch nicht lange in der Bibliothek war und den Titel trug: „Hellm und die hellgrüne Fahne“. Es war eine kurze Geschichte mit Bildern, die man an einem Tag lesen konnte. Als ich aber die Bibliothek im Kollegiengebäude verließ und in den Hof hinaustrat, sah ich zwei Männer, die ich nicht kannte, die mehr schlendernd als schreitend auf die Türe zugingen, die zum Eingang der Kapelle führte. Neugierig geworden, was denn diese Leute wollten, ging ich, Abstand haltend, hinterher. Als ich die Türe öffnete, sah ich durch das Stiegengeländer die beiden Männer zwei Treppenabsätze tiefer am Eingang zum Kirchenraum stehen und fast gleichzeitig hörte ich daraus eine helle und kräftige Stimme: „Wir beten nun gemeinsam für unseren geliebten Führer, Adolf Hitler.“ In diesem Augenblick wusste ich, wer diese beiden Männer waren: Die KBS stand unter Beobachtung der Geheimen Staatspolizei. Später erfuhr ich, dass Pater von Gumppenberg quälende, stundenlange Verhöre durch die Gestapo, Hausdurchsuchungen und immer wieder Anzeigen wegen regimefeindlicher Äußerungen in seinen Predigten erdulden musste. Treffen der einzelnen Jugendgruppen fanden jetzt kaum mehr im Kollegiengebäude in der Kaulbachstraße, sondern in wechselnden Privatwohnungen statt.

Auffällig war, dass ausgerechnet in diesen Tagen ein Mann vom Fernsprechamt in unsere Wohnung in der Bauerstraße kam und sagte, er müsse den Telefonapparat überprüfen, da sei etwas nicht in Ordnung. Wir hatten aber bisher gar keine Störung feststellen können. Der Mann blieb nur kurze Zeit und verließ uns mit der Bemerkung, es sei nun alles wieder repariert. Seit dieser Zeit vermutete meine Mutter, dass wir abgehört wurden. Das Telefon stand in einem Raum gegenüber der Küche. Dieser wurde als Ess- und Wohnzimmer benutzt und ging auf einen halbrunden Balkon hinaus. Als wir 1939 einzogen, war dies meine Spielklause. Von jetzt ab betraten wir das Zimmer mit aller Vorsicht. Wenn man sich dort aufhielt, hatte der Telefonapparat unter einem Berg von Sofakissen zu verschwinden.

Mein Bruder Robert fiel am 1. März in Russland. Die Todesnachricht erhielt meine Mutter an ihrem Namenstag, dem 19. März. Sie, die immer so bestimmend war, wirkte wie versteinert und war über Wochen teilnahmslos und stumm. Ich hatte die Empfindung, ausgegrenzt zu sein, gar nicht mehr zur Familie zu gehören. Nichts, aber auch gar nichts war mehr so wie vorher.

Der Trauergottesdienst wurde am Donnerstag, dem 25. März in St. Ursula in Schwabing abgehalten. Pater von Gumppenberg hielt eine zugleich tief philosophische und anrührende Gedenkrede, deren kritische Tendenzen ich damals noch nicht verstand.

Wenig später wurde mein Bruder Waldemar als Flak-Helfer eingezogen, und ich hatte die Aufnahmeprüfung in das Maximiliansgymnasium abzulegen. An einem Tag im August 1943 sagte meine Mutter zu mir: „Heute kommt Pater Delp, um mit einer Gruppe zu sprechen“, und sie gab mir die Anweisung, die Wohnungstüre zu bewachen. Alle sieben Minuten sollte ich sie öffnen, um Teilnehmer dieser katholischen Widerstandsgruppe einzulassen. Keiner würde klingeln, denn die übrigen Bewohner unseres Hauses sollten nicht aufmerksam werden.

Es kamen dann etwa 8–10 Männer, die ich, jeden einzeln, alle sieben Minuten einließ und in ein großes Zimmer schickte, das am Ende des Flurs lag. Früher war es das Büro meines Vaters gewesen. Es gab da eine Schiebetüre zu einem weiteren Raum, so konnte man mit ein paar Handgriffen das Zimmer vergrößern. Meine Mutter kochte Pfefferminztee in der Küche und brachte das Getränk den Wartenden. Als letzter Besucher kam Pater Delp, den ich noch nie gesprochen, aber den ich schon einmal durch das Fenster gesehen hatte. Er gab mir die Hand und sagte: „Du hast ja einen richtigen Urwald auf dem Kopf“. Er hatte recht, ich war längere Zeit nicht beim Haarschneiden gewesen. Pater Delp fragte freundlich: „Wohnen da auch Tiere drin?“ Ich dachte an Karl May und hielt dagegen: „Pferde!“ Da lachte er ganz herzlich über meine Antwort, bevor er sagte: „Nein, ich dachte an kleinere!“ Dann ging er in das betreffende Zimmer. Den kleinen Dialog habe ich nie vergessen und auch Pater Delp nicht, mit seinem heiteren und freundlichen Gesicht, das ich auch heute noch lebendig vor mir sehe.

Nach dem Eintritt in das Maximiliansgymnasium wurde ich schon bald wegen der andauernden Bombenangriffe mit meiner Schulklasse zur „Kinderlandverschickung“ nach Garmisch-Partenkirchen spediert. Dort holte mich meine Mutter allerdings schnell heraus, weil sie nicht wollte, dass die HJ-Führung, welche die eigentliche Leitung inne hatte, mich beeinflussen sollte. So kam ich erst in das Gymnasium Passau, dann nach Regensburg. Während der großen Ferienzeit 1944 – bald gab es gar keine Schulen mehr – war ich wieder in München, das von zahlreichen Bombenangriffen gezeichnet war. Fast täglich oder nachtnächtlich war Fliegeralarm. „Feindtätigkeit über unserer Stadt“, meldete Radio Laibach, während die Bomben fielen. Wir schliefen in den Kleidern, um möglichst schnell den Luftschutzraum aufsuchen zu können.

Am 20. Juli 1944 geschah das Hitler-Attentat. Dass es misslang, war ein epochales Unglück. Millionen von Menschen hat es das Leben gekostet. Manche Offiziere hielten am unrechten Treueid fest, den sie dem Führer gegeben hatten, oder beriefen sich später auf ihn. Doch bei Shakespeare heißt es in Heinrich VI., zweiter Teil:

„Der Sünde schwören, ist schon große Sünde:

Doch größere noch, den sünd’gen Eid zu halten!“

Am 21. Juli konnte man in schwarzen Lettern als Balkenüberschrift der „Münchner Neuesten Nachrichten“ lesen: „Führer befiehl, wir folgen“. Es war deprimierend. „Ein schreckliches Ende wird über Deutschland kommen“, sagte meine Mutter.

Anfang August weckte sie mich mitten in der Nacht. Zuerst dachte ich, es sei Fliegeralarm. Sie sagte aber, es sei etwas anderes und teilte mir sinngemäß mit: „Eine alte Frau ist vorhin gekommen und hat einen Zettel von Pater Gumppenberg gebracht, in dem er mitteilt, dass Pater Delp verhaftet worden ist. Keinesfalls darf eine Verbindung von ihm zur KBS hergestellt werden. Sollten wir von der Gestapo vernommen werden, was sehr wahrscheinlich ist, dürfen wir nie und nimmer aussagen, dass wir Pater Delp kennen oder ihn je gesehen haben. Wenn wir irgend etwas anderes erzählen, kommen wir nach Dachau oder sonst wohin, auf jeden Fall in ein KZ.“ Nach dem Lesen hatte sie den Zettel von Pater Gumppenberg sofort in einem Aschenbecher verbrannt und die Reste im Ausguss der Küche weggespült.

Tatsächlich kam die Gestapo noch in der gleichen Nacht, ein heftiges Klingeln an der Haustüre kündigte sie an. Meine Mutter löschte das Licht und schloss meine Zimmertüre. Ich legte mich aufs Bett und versuchte einen Schlafenden zu spielen, obwohl mir das Herz bis zum Hals klopfte. Es dauerte wahrscheinlich nur wenige Minuten, für mich eine unendlich lange Zeit, bis meine Mutter die Türe wieder öffnete, das Licht andrehte und ganz ruhig sagte: „Steh’ auf, die Herren hier wollen mit dir sprechen.“ Ich sah zwei Männer hinter ihr stehen. Ich richtete mich auf und schlüpfte in die Schuhe. Dann gingen wir zu viert über die Diele. An der geschlossenen Haustüre standen noch zwei Männer, die meine Mutter in Empfang nahmen und mit ihr in das alte Büro meines Vaters gingen. Mit den beiden anderen ging ich in das Zimmer gegenüber der Küche. Einer setzte sich auf einen der Stühle, die um den runden Wohnzimmertisch angeordnet waren und sagte sehr freundlich: „Setz’ dich. Es tut uns sehr leid, dass wir dich im Schlaf gestört haben. Wir haben nur eine kleine Frage, dann kannst du sofort weiterschlafen.“ Er lächelte und wies auf einen Stuhl. Ich setzte mich. Der andere Mann blieb stumm hinter mir stehen. Es entstand eine lange Pause, die für mich fast unerträglich war. Dann griff der Sprecher in die Brusttasche und holte ein Foto heraus, reichte es mir und fragte: „Kennst du diesen Mann ?“ Ich sah, dass es ein Lichtbild von Pater Delp war. Mein einziger Gedanke war: Nicht schnell antworten, ja nicht schnell antworten! Ich nahm das Foto und betrachtete es, drehte es sogar noch zum Lampenlicht, so als würde ich es ganz besonders intensiv anschauen. Dann sagte ich entschieden: „Den kenne ich nicht“, und gab das Foto zurück. Er steckte es wieder in die Tasche, blickte einmal zu seinem Kollegen, dann erhob er sich, beide gingen aus dem Zimmer. Ich hörte sie im Flur leise reden, ohne ein Wort zu verstehen. Auch wusste ich nicht, besprachen sich alle vier Gestapoleute oder nur die zwei. Dann ging die Wohnungstüre auf und wenig später hörte ich das „Klick“, mit dem die große Haustür ins Schloss fiel. Es war vorbei. Ich blieb sitzen, ich konnte nicht aufstehen, ich zitterte am ganzen Körper, als wenn mich ein plötzlicher Schüttelfrost befallen hätte. Meine Mutter kam in das Zimmer. Ich wollte gerade anfangen zu reden, da legte sie den Finger auf den Mund und blickte zum Telefonapparat. So schwiegen wir, es herrschte die Stille der Furcht und der Verschwörung.