Rede zum Gedenken an Henning von Tresckow


Wolfgang Huber


„Sind wir noch brauchbar?“
Umstrittenes Erbe – Henning von Tresckow zum Gedächtnis

Rede vom 19. Juli 2019 in der Dorfkirche Potsdam-Bornstedt

I.
Henning von Tresckow gehört zu den Schlüsselfiguren des deutschen Widerstands gegen die Gewalttaten des Hitler-Regimes. Damit hat er auch Anteil an den Kontroversen, die sich mit diesem Widerstand verbinden.


Nie in den 75 Jahren seit dem 20. Juli 1944 wurde der Widerstand in Deutschland unstrittig und allseits anerkannt. In vierzig von diesen 75 Jahren war die Erinnerung in Deutschland, wie unser Land selbst, gespalten. Auf beiden Seiten verstärkte sich dadurch die Neigung dazu, den Widerstand politisch zu instrumentalisieren und in den Dienst von Gegenwartsinteressen zu stellen. Auch heute ist diese Gefahr nicht gebannt.


Die Möglichkeiten zu kontroversen Debatten waren in der alten Bundesrepublik größer als in der DDR mit ihrem Mangel an demokratischer Öffentlichkeit. Die unterschiedlichen Phasen und Argumente dieser Debatte zeichneten sich deshalb im Westen Deutschlands deutlicher ab als im Osten.


Am Beginn stand der Vorwurf, beim Widerstand handle es sich um Landes-, ja um Hochverrat. Die Eidesfrage, die schon die militärischen Angehörigen des Widerstands intensiv beschäftigte, wirkte sich auch auf ihr Bild in der Öffentlichkeit aus. Wer sie des Verrats beschuldigte, konnte allzu lang mit Beifall rechnen. Wie mühsam die Anerkennung eines Rechts auf Widerstand und der Legitimität des Tyrannenmords war, zeigte der Braunschweiger Remer-Prozess von 1952, also das Strafverfahren vor dem Braunschweiger Landgericht gegen den ehemaligen Generalmajor und Mitgründer der „Sozialistischen Reichspartei“ Otto Ernst Remer wegen übler Nachrede und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Kein Geringerer als der damalige Bundesinnenminister Robert Lehr hatte gegen Remer Strafanzeige erstattet, weil dieser im Jahr 1951 die Attentäter des 20. Juli als „Landesverräter“ bezeichnet hatte, die in feindlichem Auftrag gehandelt hätten und deren Überlebende bald von einem deutschen Gericht zur Rechenschaft gezogen würden. Es bedurfte eines derart mutigen Staatsanwalts wie Fritz Bauer, um die Verleumdung des Widerstands als Hochverrat in die Schranken zu weisen. Doch Remers Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, der er sich durch die Flucht ins Ausland entzog, änderte nichts an dem Zwielicht, in das die Akteure des deutschen Widerstands immer wieder gerückt wurden. Zwar machten die Klarstellungen des Strafverfahrens gegen Remer zum Recht auf Widerstand diesen Prozess zum wichtigsten Verfahren in der Aufarbeitung der NS-Zeit zwischen den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen von 1945/46 und den Frankfurter Auschwitzprozessen (erneut unter entscheidender Mitwirkung von Fritz Bauer) ab 1963. Doch weder dieses Braunschweiger Verfahren noch die bedeutende Rede des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss zum zehnten Jahrestag des Stauffenbergschen Attentats beendete eine Betrachtungsweise, die den Widerstand ins Zwielicht des Verrats rückte, ohne zu berücksichtigen, dass der Eidbruch von Hitler und nicht von den Widerständlern ausgegangen war. Die öffentliche Anerkennung des damaligen Staatsoberhaupts für den Dienst, den die Verschwörer für ein besseres Deutschland geleistet hatten, änderte außerdem nichts daran, dass deutsche Gerichte standgerichtliche Verfahren gegen Mitglieder des Widerstands als rechtmäßig anerkannten und den Opfern dieser Verfahren die gebotene Gerechtigkeit verweigerten. Erst zu Beginn dieses Jahrhunderts bezeichnete ein hoher Richter, der Präsident des Bundesgerichtshofs Günther Hirsch, ein von seinem eigenen Gericht in diesen Zusammenhängen gefälltes Urteil als „beschämend“ und stellte fest, der Bundesgerichtshof habe auf diese Weise „Justizmorde“ ungesühnt gelassen. Er fügte hinzu, dieses „Versagen der Nachkriegsjustiz“ sei „ein dunkles Kapitel in der deutschen Justizgeschichte“ und werde dies bleiben.


Auch der Widerstand wurde in den deutschen Historikerstreit hineingezogen, der nicht ein isoliertes Ereignis der Jahre nach 1986 darstellt, sondern zu den intellektuellen Grundmustern der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört. Die Verwurzelung von Angehörigen des Widerstands in vordemokratischen Lebenshaltungen und die Verbundenheit vieler mit dem, was man die preußischen Tugenden nannte, führte zu dem generellen Urteil, es handle sich – von Ausnahmen auf der linken Seite des politischen Spektrums abgesehen, die aus anderen Gründen erinnerungspolitisch marginalisiert wurden – um einen nationalkonservativen Widerstand, der sich mit den universalistischen Prinzipien, die ihm unterstellt wurden, nicht vertrage. Diejenigen, die dem Widerstand eine Befangenheit im Geist einer vergangenen Epoche zuschrieben, unterschätzten freilich, wie weit sich ihre Urteilskriterien jeweils dem Geist der eigenen Zeit verdankten.


Insbesondere den Angehörigen des militärischen Widerstands war die Ambivalenz von Anfang an bewusst, dass Sie auf der einen Seite in der Erfüllung ihres Berufs militärisch erfolgreich handeln und dabei insbesondere die Angehörigen ihrer eigenen Einheiten so weit wie möglich vor Unheil bewahren mussten, dass sie aber auf der anderen Seite Hitlers Kriegsführung, ihre Ziele wie ihre Methoden, scharf ablehnten und daraus Folgerungen zu ziehen hatten. Wer heute feststellt, dass man bei der Beschäftigung mit dem deutschen Widerstand um die Auseinandersetzung mit „kognitiven Dissonanzen“ nicht herumkommt, sollte zunächst einmal seinen Blick dafür schärfen, dass den Widerständlern selbst die Ambivalenzen sehr bewusst waren, in denen sie sich befanden und in die sie immer tiefer hineingetrieben wurden. Aus Inkonsequenzen im Blick auf die Ablehnung der Hitlerschen Kriegsführung wurde gleichwohl in einem nächsten Schritt – insbesondere im Umkreis der Wehrmachtsausstellungen seit 1995 – der Vorwurf abgeleitet, dass die Angehörigen des Widerstands von ihren moralischen Prinzipien einen selektiven Gebrauch machten, indem sie sich über den Massenmord an Jüdinnen und Juden mehr empörten als über die völkerrechtswidrige Ermordung von (vermeintlichen) Partisanen. Die durch die Wehrmachtsausstellungen mit gutem Grund genährten Zweifel an der Unterscheidung zwischen dem verbrecherischen Handeln der SS und der vermeintlich völkerrechtsgemäßen Vorgehensweise der Wehrmacht wirkten sich auf die Beurteilung der Handlungsweisen von Offizieren aus, die im Russlandfeldzug eingesetzt waren. Doch was als eine differenzierende Historisierung angekündigt wurde, führte leicht zu neuen Pauschalisierungen.





  1. In drei durchaus heterogenen Wellen haben sich zunächst kritische Überlegungen zum militärischen Widerstand gezeigt: im Vorwurf des Eidbruchs, in der Kritik nationalkonservativer Einstellungen, in dem Argument einer Beteiligung an Verbrechen des NS-Regimes. Dem folgte eine vierte Welle, die sich neuerdings verstärkt. Sie bezieht sich auf die Motivation der Angehörigen des Widerstands.


Aufsehen hat in diesem Zusammenhang zuletzt das Buch von Thomas Karlauf erregt, das im Frühjahr 2019 unter dem Titel „Stauffenberg. Porträt eines Attentäters“ erschienen ist. Hätte ich geahnt, dass Karlauf seine Stauffenberg-Darstellung als „Porträt“ bezeichnet, hätte mich das schier davon abhalten können, mein kurz vorher erschienenes Buch über „Dietrich Bonhoeffer– auf dem Weg zur Freiheit“ als „Porträt“ zu bezeichnen. Denn meiner Vorstellung von einem Porträt entspricht es, die inneren Beweggründe des Handelns ebenso zu berücksichtigen wie die äußeren Handlungsabläufe, die Überzeugungen eines Menschen genauso zu würdigen wie seine Taten, die geistige Lebensgeschichte mit der gleichen Intensität wahrzunehmen wie die biographischen Daten.


Karlauf hält die innere Geschichte eines Menschen für unerheblich. Ausdrücklich erklärt er, „die nach dem Krieg für unerlässlich gehaltene moralische Kategorie“ dürfe der Biograph „höchstens streifen“. Denn eine moralische Motivation habe es „in der uns heute selbstverständlich gewordenen, der Schreckensherrschaft des Dritten Reiches angemessenen Form bei Stauffenberg“ nicht gegeben. Bei einer solchen Formulierung muss man nicht nur auf die ahistorische Voraussetzung achten, dass nur die von uns Heutigen anerkannten moralischen Motive in den Blick treten dürfen. Sondern man muss auch die Frage stellen, ob es in Zeiten, in denen es möglich ist, die Verbrechen der Nazizeit als einen „Vogelschiss“ in der über tausendjährigen deutschen Geschichte zu bezeichnen, überhaupt noch Grundsätze der politischen Moral gibt, die sich als selbstverständlich bezeichnen lassen.


Aber auch über derartige historische wie aktuelle Einwände hinaus ist ein methodischer Ansatz höchst fragwürdig, dem zufolge es zur Einordnung menschlicher Handlungen nicht auf das moralische Selbstbewusstsein oder die frei gewählte Verantwortung der Akteure, sondern allein auf externe Einflüsse ankommt. Denn auf diese Weise macht man den Einzelnen zum bloßen Resultat seiner Umwelt. Selbstverständlich sind Menschen in ihrem Handeln von äußeren Einflüssen geprägt. Doch wenn sie eine mündige Person sein wollen, müssen sie sich zu diesen Einflüssen in ein selbständiges, kritisches Verhältnis setzen. Am Ende zählt nicht, woher wir unsere Maßstäbe haben, sondern wie wir sie uns zu eigen machen. Denn nur dann lässt sich von einer mündigen, selbstbestimmten Person sprechen. Es gibt in meinen Augen keinen Grund dafür, dies ausgerechnet den Mitgliedern des Widerstands abzusprechen. Das aber geschieht, wenn man ihre Motivation für gleichgültig erklärt.


Thomas Karlauf interessiert sich nicht für die moralische Identität des Menschen, den er porträtiert, sondern nur für die externen Einflüsse, die ihn prägten. Im Fall Stauffenberg handelt es sich nach seiner Auffassung um drei Faktoren: die Familie, das Soldatentum und der Dichter Stefan George mit seinem Kreis. Das sind ohne Zweifel wichtige Aspekte der Biographie. Doch wenn man sich auf sie beschränkt, bleibt unerklärt, wie die Bereitschaft zu Widerstand und Verschwörung, zu Attentat und Preisgabe des eigenen Lebens sich aus drei Faktoren erklären soll, die bei der Mehrzahl derer, die sich von diesen Einflüssen prägen ließen, keineswegs zu vergleichbaren Entscheidungen führten. Da er sich auf klare Evidenzen nicht berufen kann, will Karlauf seine Einschätzungen auf dem Weg „über Analogien und Indizienketten“ begründen. Insbesondere die Homogenität des Offizierskorps soll es rechtfertigen, von den einen auf die anderen zu schließen. Nur hat sich diese Homogenität während des Zweiten Weltkriegs eher darin gezeigt, dass eine Bereitschaft zum Widerstand fehlte, als dass sie sich ausgebildet hätte. Der Respekt vor den Militärangehörigen, die sich zum Widerstand entschlossen, wie vor den Zivilisten, die den gleichen Weg gingen, verbietet es in meinen Augen, ihre moralische Haltung umstandslos mit der Haltung derer gleichzusetzen, die eine solche Entscheidung nicht wagten.


Deshalb bleibt es unerlässlich, dass in der Erinnerung an den Widerstand Raum für die moralischen und religiösen Überzeugungen derer ist, die bereit waren, das eigene Leben einzusetzen, um dem Morden ein Ende zu machen und einem besseren Deutschland den Weg zu bereiten.  Methodisch ist das nicht leicht. Denn die meisten Belege für solche Motive finden sich in nachträglichen Reflexionen Überlebender oder in Erinnerungen von Freunden und Familienangehörigen. Wer sich an dieser Quellenlage stößt, muss sich allerdings fragen lassen, was er denn als Alternative erwartet. Meinen wir Nachgeborenen etwa, wir dürften mit ausgebreiteten Selbstzeugnissen der Verschwörer rechnen, die allein ihrem Handeln die nötige moralische Glaubwürdigkeit geben könnten? Wer in der Zeit der Konspiration die Motive und Ziele seines Handelns schriftlich niederlegte, brachte mit solchen Dokumenten doch nicht nur sich selbst, sondern auch die Mitverschwörer in höchste Gefahr.


Es ist beachtlich genug, wenn man gleichwohl ein Zeugnis aus der Zeit des Widerstands selbst findet, das dieses Dilemma anschaulich beschreibt. Ich meine eine auch von Rüdiger von Voss in einem vergleichbaren Zusammenhang zitierte Reflexion zu der Frage: „Sind wir noch brauchbar?“ Sie bildet eine der sechzehn knappen Reflexionen, die Dietrich Bonhoeffer zu Weihnachten 1942 für seinen engsten Freundeskreis unter dem Titel „Nach zehn Jahren“ zu Papier brachte. Die Datierung verweist auf die Machtübergabe an Adolf Hitler am 30. Januar 1933. Bonhoeffer reflektiert in diesen Aufzeichnungen für seine Freunde, unter ihnen Hans von Dohnanyi und Hans Oster, die Erfahrungen, durch die sie gemeinsam unter den Bedingungen von Widerstand und Konspiration gegangen waren, und schreibt unter anderem: „Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unendliche Konflikte mürbe und vielleicht zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?“


Diese Sätze enthalten einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis des Widerstands. Er erscheint auf der einen Seite als ethisch unausweichlich, will man nicht den Unrechtstaten auf Dauer tatenlos zuschauen oder sich aktiv in ihren Dienst stellen. Doch er ist in einer dreifachen Weise mit Schuld verflochten. Wer sich zum Widerstand entscheidet, blickt auf eine Zeit zurück, in der er untätig blieb oder seine Versuche, dem Rad in die Speichen zu greifen, nichts fruchteten. Wer sich zum Widerstand entscheidet und damit den Weg in die Konspiration beschreitet, greift zu den Mitteln von Verschwörung, Geheimhaltung und Irreführung. Und schließlich: Wer zum Widerstand auf dem Weg des Attentats bereit ist, nimmt die Tötung eines anderen Menschen auf sich, um einem illegitimen und verbrecherischen Regime ein Ende zu setzen. Es war wiederum Dietrich Bonhoeffer, der eine solche Bereitschaft zur Schuldübernahme als einen Teil verantworteter Freiheit verstand und sie damit zum ersten Mal in der christlichen Ethik verankerte. 



III.
Schon geraume Zeit vor Thomas Karlaufs Buch über Stauffenberg hat Annette Mertens in einem Aufsatz über Henning von Tresckow die Frage gestellt, ob es bei ihm ein christliches Motiv für die Absicht gab, Hitler zu töten. Sie referiert zunächst die Belege in den Zeugnissen über Tresckows Leben, die von seiner Verwurzelung im christlichen Glauben und in einer christlichen Lebenspraxis sprechen. Sie findet solche Belege nur in Äußerungen von Erika von Tresckow und Philipp von Boeselager. Bei den anderen Freunden und Mitarbeitern Tresckows dagegen beobachtet sie ein geradezu auffälliges Schweigen über solche Motive, wobei sie allerdings übergeht, dass berühmt gewordene Äußerungen von Tresckow selbst von seinem Freund und Mitarbeiter Fabian von Schlabrendorff der Nachwelt überliefert wurden. Annette Mertens sieht in Tresckows Bekenntnis gegenüber seiner Frau vom April 1943 – „Ein wirklich überzeugter Christ kann doch nur ein überzeugter Gegner Hitlers sein“– lediglich einen Versuch, seine Frau von der Richtigkeit seines Handelns zu überzeugen, so dass sie die damit verbundenen Gefahren zu akzeptieren bereit war. Doch eine solche Rekonstruktion der Gesprächssituation ist kein hinreichender Grund dafür, die Aufrichtigkeit der vorgebrachten Überzeugung in Zweifel zu ziehen. Tresckows  Rede zur Konfirmation seiner beiden Söhne Mark und Rüdiger wenige Tage später interpretiert die Autorin als eine Rede über Preußen und nicht über den christlichen Glauben, womit sie die Rede von ihrem Zusammenhang mit dem vorangehenden Gottesdienst gerade abtrennt. Dabei weiß jeder, der die Aufgabe einer Ansprache zur Konfirmation kennt, wie abwegig das Vorhaben eines Konfirmandenvaters wäre, die gerade gehörte Konfirmationspredigt überbieten zu wollen. Genügt es nicht, wenn Tresckow in dieser Ansprache sein Verständnis des Preußentums als Einheit von Bindung und Freiheit erläutert und darauf beharrt, dass diese seinerzeit keineswegs geläufige Deutung des Preußischen im christlichen Denken ihr Fundament und in der Garnisonkirche ihr Symbol habe? Dass es nicht möglich ist, diese symbolische Deutung der Garnisonkirche in unsere Gegenwart zu übertragen, sondern eine neue Garnisonkirche auch eine neue Bestimmung braucht, ist kein Grund dafür, Henning von Tresckows Konfirmationsrede den christlichen Ernst abzusprechen. Die Tatsache, dass Tresckow wichtige Überlegungen mit biblischen Texten verknüpft, wird in Interpretationen dieser Art eher als Zeichen für bibelkundliche Belesenheit als für eine Verwurzelung in der biblischen Botschaft gedeutet. Aber für Tresckows briefliche Äußerung vom 8. Dezember 1942 lässt sich das ganz bestimmt nicht sagen: „Das eigentlich Belastende kommt vom Baum der Erkenntnis, dessen biblische Bedeutung ich jetzt gut verstehe.“ Die belastende Erkenntnis der Verbrechen ist damit gemeint, die den Widerstand und den Einsatz des eigenen Lebens zur Gewissenspflicht macht.


Man mag zu Deutungen der gerade beschriebenen Art greifen, wenn man das für angemessen hält; man muss jedoch zumindest wahrnehmen, dass sich in solchen Deutungen weniger die historische Wirklichkeit abbildet als der Zeitgeist derer, die so deuten. Der Versuch, die christliche Verwurzelung Henning von Tresckows, aber auch Claus Graf Stauffenbergs, zu bagatellisieren, überträgt die gegenwärtig verbreitete Meinung, das Christentum werde im Prozess einer allgemeinen Säkularisierung irrelevant, in die Zeit des deutschen Widerstands.


Dabei war diese Zeit für die kritischen Zeitgenossen keineswegs durch eine allgemeine Säkularisierung, sondern durch einen eminenten religiösen Konflikt charakterisiert. Sie sahen im Nationalsozialismus, wie Christoph Strohm zusammenfassend sagt, eine Pseudoreligion, „die mit ihrem Totalitätsanspruch auf die Beherrschung aller Lebensbereiche und dem bedingungslosen Gehorsamsanspruch in unmittelbaren Gegensatz zum Christentum trat.“ Es blieb eine Minderheit, die sich durch diesen Konflikt zu einer neuen Vergewisserung der eigenen christlichen Wurzeln veranlasst sah.


Mit solchen Überlegungen lässt sich natürlich nicht der anmaßende und irreführende Anspruch verbinden, dass aller Widerstand in seinem Kern christlich gewesen sei. Aber denjenigen, die sich ausdrücklich auf ihren christlichen Glauben beriefen, abzusprechen, dass dies für sie ein wichtiges Motiv war, projiziert heutige säkulare Denkweisen in die Zeit vor 75 Jahren.


Uns Heutigen fällt es schwer, die Bereitschaft der Widerständler zur Hingabe des eigenen Lebens mitzuvollziehen. Mit der Überzeugung, dass die Bereitschaft zu einem solchen Opfer um seiner Überzeugung willen dem sittlichen Wert des Menschen entspricht, endete das Leben Henning von Tresckows. In Erinnerung an die zehn Gerechten, um derentwillen Sodom nicht dem Verderben preisgegeben wurde, hoffte er darauf, das Opfer, das er und seine Mitverschwörer brachten, könne dazu beitragen, „dass Gott Deutschland um unseretwillen nicht vernichten wird.“ Heute dürfen wir dankbar feststellen, dass seine Hoffnung nicht umsonst war.


Ich halte es für durchaus angemessen, dass Henning von Tresckow zusammen mit anderen Angehörigen des deutschen Widerstands in das Märtyrerbuch der Evangelischen Kirche aufgenommen wurde, das 2006 unter dem Titel „Ihr Ende schaut an … Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts“ veröffentlicht wurde. „Sein Ende schaut an“ – ihn unter diesem Motto in die Reihe moderner Märtyrer einzuordnen, erfordert allerdings besonderen Mut wie in vergleichbarer Weise auch im Fall seines Mitarbeiters Hans-Alexander von Voss. Denn beide reagierten auf das Scheitern des Attentats damit, dass sie ihrem Leben selbst ein Ende machten, bevor Hitlers Schergen dazu eine Gelegenheit hatten. Damit wollten sie zugleich der Gefahr zuvorkommen, unter Folter zu Aussagen gezwungen zu werden, die andere gefährdeten. Das war für beide ein einsamer Weg, auch in der Verantwortung für ihre Familie. Aber ihr Tod ist in meinen Augen in nicht geringerem Sinn als Opfertod zu verstehen wie der Tod derjenigen, die ergriffen, in Willkürverfahren verurteilt und erschossen oder erhängt wurden. Aber mit ebensolchem Respekt ist an Tresckow Weggefährten Fabian von Schlabrendorff zu erinnern, der allen Versuchen, Aussagen über Mitverschwörer von ihm zu erpressen, widerstand, und dank eines Bombenangriffs während seines Verfahrens vor dem Volksgerichtshofs überlebte.


Er war nicht der einzige unter den Mitarbeitern und Freunden Henning von Tresckows, die als Überlebende den Geist des Widerstands – persönliche Gewissensbindung und persönlichen Mut –  in den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland einbringen konnten. Aus dem Kreis Tresckows denke ich auch an Wolf Graf Baudissin, der maßgeblich dazu beitrug, der Bundeswehr unter dem Leitbild des „Bürgers in Uniform“ einen Platz nicht neben, sondern in der Demokratie zu geben, und im Konzept der „inneren Führung“ die Zusammengehörigkeit von Bindung und Freiheit zum Ausdruck brachte, für die schon Henning von Tresckow einstand. Ich erwähne Wolf Graf Baudissin auch aus einem persönlichen Grund: Vor Jahrzehnten versuchten wir, verschiedenen Generationen angehörend, gemeinsam, der jungen Friedensforschung in Wissenschaft und Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland einen Platz zu verschaffen. Baudissin hat auf seine Weise dazu beigetragen, den Dienst des Soldaten vom Frieden und nicht vom Krieg her zu verstehen. Heute erkennen wir die Aktualität eines solchen Ansatzes. Die Bundeswehr als Parlamentsarmee zu verstehen, heißt, ihr Tun in der Verteidigung des eigenen Landes wie in Auslandseinsätzen klar und unzweideutig von der Verantwortung für den Frieden und damit von der Bewahrung und Wiederherstellung des Rechts zu verstehen. Dass es – wie eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland einmal sagte – darum geht, Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern, ist er entscheidende Maßstab für das Handeln einer Armee, die sich in der Tradition des deutschen Widerstands versteht.





  1. Vier abschließende Folgerungen sind mir besonders wichtig:


Erstens: 75 Jahre nach dem 20. Juli 1944 müssen wir den zeitlichen Abstand zu dem damaligen Geschehen ernst nehmen. Es kann aber nicht darum gehen, zwischen damals und heute einen „garstig breiten Graben“ zu ziehen. Auch heute können wir vom Widerstand viel lernen, insbesondere die Bereitschaft zu persönlicher Gewissensbindung und persönlichem Mut.


Zweitens: Es erscheint mir besser, selbst für die Demokratie einzutreten, als Menschen, die unter anderen politischen Bedingungen aufgewachsen sind, vorzuhalten, sie hätten die Demokratie noch nicht so gut verstanden, wie wir Heutigen uns das selbst attestieren. Wenn Bürgerinnen und Bürger beherzt und überzeugt für den demokratischen Rechtsstaat und für ein freiheitlich-rechtsstaatliches Europa eintreten, leisten sie, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in diesen Tagen an die Stiftung 20. Juli geschrieben hat, einen Beitrag dazu, dass Widerstand gegen eine Diktatur niemals wieder nötig wird.


Drittens: Den moralischen und in vielen Fällen auch religiösen Kern des Widerstands zu leugnen, spiegelt das Problem, das der heutige Zeitgeist mit Moral und Religion hat. Wir verlagern das Problem persönlicher Moralität lieber nach außen in die sich wandelnden Maßstäbe der aktuellen political correctness und die Frage nach der eigenen religiösen Haltung in die Bejahung einer unbestimmten Toleranz, oft verbunden mit einer Selbstvergleichgültigung des Christentums.


Viertens: Der Widerstand konfrontiert uns mit der Frage, ob eine solche Haltung im Ernstfall zureicht. Die Beispiele Henning von Tresckows wie der anderen Frauen und Männer des Widerstands stellen uns vor die Frage, worin denn wir Heutigen die Grundlage eines verantwortlichen Lebens sehen und ob der Stein, den viele heutige Bauleute verwerfen, nicht aufs Neue zum Eckstein taugt.