Totengedenken

Reinhard Goerdeler

Totengedenken

Ansprache von Dr. Reinhard Goerdeler, Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“, am 19. Juli 1959 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Dem Rufe des Berliner Senats folgend, haben sich gleich heute, am Vorabend des 20. Juli, wieder Witwen und Kinder, Eltern und Freunde der Opfer des Widerstandes mit Ihnen, Herr Regierender Bürgermeister, und den Mitgliedern des Senats hier versammelt, um des deutschen Widerstandes zu gedenken.

Hier an dieser Stelle, wo noch heute die hohen Mauern so unmittelbar an Gefängnis und damit an Haft und Leiden erinnern, verhallten in den Jahren des Schreckens die letzten Schritte der Verurteilten, vollendete sich ihr Leben im Kampfe für die Freiheit, die sie für Deutschland und für uns alle erstrebt hatten.

Der Toten an diesen Stätten des Grauens zu gedenken, heißt vor allem, sich ihrer in Trauer zu erinnern, aber noch mehr, es heißt, ihr Handeln in unser Gedächtnis zurückzurufen, und es gilt, besonders für die jüngere Generation, den Geist, der sie zur Tat trieb, zu begreifen. Wenn auch längst jene politische Situation, aus der allein ihr Handeln und Denken zu verstehen ist, sich gewandelt hat und über Erfolg und Misserfolg nunmehr die Geschichte entscheidet, so kann uns der eigentliche Kern des Wollens und Wirkens der Toten doch zum bewegenden Aufruf werden.

Aus der Klarheit ihrer Erkenntnisse, ihrem Mut zum Handeln, der Festigkeit ihres Charakters, der Tapferkeit ihres Ausharrens gewinnen wir Kraft für uns selbst und erwächst auch ein klares Vorbild für die Möglichkeit menschlichen, beruflichen und politischen Wirkens. Dieses ihr Vermächtnis ständig wach zu halten, ist unser aller Anliegen und Ausdruck unseres Gedenkens. Trotz der Hetze des Alltags müssen wir entschlossen bleiben, dieses Vermächtnis an die Jugend weiterzugeben; hierzu sind alle Verantwortlichen aufgerufen, denn neben historischer Forschung und Unterweisung in Schule und Universität über Fakten und Quellen wird die Belebung des Andenkens an die Toten den Widerstand zum wirklichen Lichtblick in einer trüben Vergangenheit werden lassen.

Gerade hier in Berlin ist der Ort, in dieser Weise des Widerstands und besonders des 20. Juli zu gedenken. Hier war der Widerstand weit mehr als anderswo zu Hause, hier wurde geplant, erwogen und darum gerungen, wie die Diktatur zu brechen sei, hier wurde dann auch am 20. Juli selbst das äußere Misslingen zu enttäuschender Wirklichkeit, hier begann für so manchen die Stunde der Verfolgung, hier kam auch für viele das Leiden bis zum bittersten Ende. Steht so die Stadt Berlin hier an erster Stelle, so gilt ihr unser besonderer Dank, dass sie es ist, die stellvertretend für das übrige Deutschland jedes Jahr dazu auffordert, sich an ihren Gedenkstätten feierlich der ganzen Welt gegenüber zu dem deutschen Widerstand gegen den Unrechtsstaat zu bekennen. Diesen Dank darf ich heute der Stadt, ihrem Senat und ihrem Regierenden Bürgermeister für alle hier und besonders im Namen der Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“ und ihres Kuratoriums aussprechen.

Die Stadt Berlin, die – wie wir alle wissen – selbst so hart um ihre Freiheit gerade in diesen Tagen ringt, gibt mit dieser Gedenkfeier ein erhebendes Zeugnis von dem richtigen Verständnis des Widerstandes als einem Wahrzeichen der Freiheit und dem Vorbild mutvollen Bekennens. Unseren Dank verbinden wir mit unseren Wünschen für diese Stadt und der Hoffnung, dass die Stätten des Berliner Widerstandes hier in Plötzensee und der früheren Bendlerstraße uns allen erhalten und zugänglich bleiben mögen. Wir fühlen uns dieser Stadt im Sinne unserer Toten verbunden, vornehmlich um der äußeren und inneren Freiheit willen, die heute wie damals als eines der höchsten erstrebenswerten menschlichen Güter gilt.







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19.07.1959
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