Von Gott nicht mehr loskommen können – das ist die dauernde Beunruhigung jedes christlichen Lebens!

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Carsten Bolz

Von Gott nicht mehr loskommen können – das ist die dauernde Beunruhigung jedes christlichen Lebens!

Predigt von Pfarrer Carsten Bolz am 20. Juli 2006 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

Predigt über Jeremia 20,7ff

Gnade sei mit euch und Friede von unserm Herrn Jesus Christus. Amen

Liebe Gemeinde hier im Hinrichtungsschuppen,

immer wieder beim Nachdenken über Menschen, die Widerstand geleistet haben, die sogar ihr Leben eingesetzt haben für Gerechtigkeit, Frieden, Menschenwürde, wie Ihre Angehörigen – immer wieder hat mich die Frage hier in Plötzensee beschäftigt: Was hat diese Menschen bewogen, was hat sie befähigt, was hat ihnen die Kraft gegeben, diesen Weg zu gehen, nicht abzulassen von ihren Plänen für ein anderes Deutschland – selbst im Angesicht des Todes nicht. Und weiter dann: Was kann mir, was kann uns das heute bedeuten? Können auch wir aus dieser Quelle schöpfen? Was können wir neben dem notwendigen Gedenken Ihrer Angehörigen als zukunftweisenden Antrieb von ihnen mitnehmen?

Eine mögliche Antwort habe ich am Anfang dieses Jahres neu durchdenken können. Ich hatte die Freude, einen Studienurlaub zu wesentlichen Teilen in London verbringen zu dürfen. Der 100ste Geburtstag von Dietrich Bonhoeffer war ein Grund für diesen Studienaufenthalt; denn Bonhoeffer war ja dort von 1933 bis 1935 für rund 18 Monate Pfarrer zweier deutschsprachiger Gemeinden gewesen. Dort, wo er heute zwischen Maximilan Kolbe und Martin Luther King, zwischen Oscar Romero, der Großfürstin Elisabeth von Russland und fünf Weiteren unter den 10 Märtyrern des 20. Jahrhunderts vom Westportal von Westminster Abbey herunter schaut, dort ist er mir mit seinen Gedanken und Schriften besonders aus jener frühen Zeit des Kirchenkampfes noch einmal neu nahe gekommen. Besonders beeindruckt hat mich eine seiner Predigten, die er im Januar 1934 in London – Sydenham, in „seiner“ Gemeinde gehalten hat. Es ist eine Predigt zu eben jenem Vers aus dem Buch des Jeremia, den wir gerade schon gehört haben und ich finde darin eben eine mögliche Antwort auf meine Frage nach Antrieb und Kraft für Menschen im Widerstand: „HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen.“

Dietrich Bonhoeffer – wie vermutlich viele Ihrer Angehörigen – wusste sich diesem Jeremia sehr nah, konnte sich offenbar gut in ihn hineinfühlen, auch wenn er, der 27-jährige, zu jener Zeit (1934) noch gar nicht wissen konnte, was einmal auf ihn, auf sie zukommen würde, welchen Weg er gehen müsste. Bonhoeffer beschreibt diesen Weg – wie den des Propheten – als den Weg eines Menschen, der – im Guten wie im Bösen – Gott nicht wieder los wird, und so also auf diesem Weg niemals Gott – los wird: Ich zitiere:

„Dieser Weg führt mitten in die tiefste menschliche Schwachheit hinein. Ein verlachter, für verrückt erklärter, aber für Ruhe und Frieden der Menschen äußerst gefährlicher Narr – den man schlägt, einsperrt, foltert und am liebsten gleich umbringt – das ist dieser Jeremias eben weil er Gott nicht mehr loswerden kann. Phantast, Sturkopf, Friedensstörer, Volksfeind hat man ihn gescholten, hat man zu allen Zeiten bis heute die gescholten, die von Gott besessen und gefasst waren, denen Gott zu stark geworden war. Wie gern hätte Jeremias anders geredet. Wie gern hätte er mit den anderen Friede und Heil geschrieen, wo doch Unfriede und Unheil war. Wie gern hätte er geschwiegen, den anderen Recht gegeben – aber er konnte einfach nicht, es lag wie ein Zwang, wie ein Druck auf ihm, es war, als säße ihm einer im Nacken und triebe ihn von einer Wahrheit zur anderen, von einem Leiden zum anderen. ... Und Jeremias war von unserm Fleisch und Blut, er war ein Mensch wie wir. Er leidet unter den dauernden Erniedrigungen, dem Spott, der Gewalt, der Brutalität der anderen, und so bricht er dann nach einer qualvollen Folterung, die eine ganze Nacht gewährt hatte, in dieses Gebet aus: HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen.“ (zit. nach Dietrich Bonhoeffer Werke 13, S. 347 – 351)

Soweit Bonhoeffers Beschreibung von Jeremias Schicksal. Und es ist schon hier deutlich: dieser Jeremia ist nicht mehr nur ein Prophet aus fernen Zeiten – er lebt gleichermaßen in Bonhoeffers Denken wieder auf. Ganz deutlich bringt Bonhoeffer den Weg des Jeremia mit der Situation der Kirchen in Deutschland zusammen, in denen sich gerade seit 1933 ein nie da gewesener Kampf um den Christus–gemäßen Weg für die Evangelische Kirche angebahnt hatte. Ich zitiere noch einmal aus jener Predigt von 1934:

„Tausende von Gemeindegliedern und Pfarrern sind heute in unserer Heimatkirche in der Gefahr der Unterdrückung und Verfolgung um ihres Zeugnisses für die Wahrheit willen. Sie haben sich diesen Weg nicht aus Trotz und Willkür ausgesucht, sondern sie wurden diesen Weg geführt, sie mussten ihn gehen – oft gegen ihren Willen, gegen ihr Fleisch und Blut – weil Gott ihnen zu stark geworden war, weil sie Gott nicht mehr widerstehen konnten, weil hinter ihnen ein Schloss zugefallen war, weil sie nicht mehr zurück konnten hinter Gottes Wort, Gottes Ruf, Gottes Befehl. ...

Von Gott nicht mehr loskommen können, das ist die dauernde Beunruhigung jedes christlichen Lebens. Wer sich einmal auf ihn einließ, wer sich einmal überreden ließ, der kommt nicht mehr los. ... Er kann nicht mehr los und nun muss er hindurch – mit Gott – es komme, was da wolle. ... Von Gott nicht mehr loskommen, das bedeutet viel Angst, viel Verzagtheit, viel Trübsal, aber bedeutet doch auch im Guten und im Bösen nie mehr gott-los (– nie mehr Gott - los( sein können. Es bedeutet: Gott mit uns auf allen unseren Wegen, im Glauben und in der Sünde, in Verfolgung, Verspottung und Tod.“

(zit. nach Dietrich Bonhoeffer Werke 13, S. 347 – 351)

Von Gott nicht mehr loskommen können – das ist die dauernde Beunruhigung jedes christlichen Lebens! – für mich ist dies eine mögliche, eine wichtige Antwort auf die Frage nach dem Antrieb und auch nach der Kraft für viele, derer wir hier heute gedenken – zumindest derer, die sich aus christlichen Motiven dem Widerstand angeschlossen haben. Von Gott nicht mehr loskommen können – das ist die dauernde Beunruhigung jedes christlichen Lebens! Viele Ihrer Angehörigen sind in dieser Weise beunruhigt gewesen und sind ihren Weg gegangen – überzeugt, dass er notwendig, richtig und am Ende erfolgreich sein würde – überzeugt, dass selbst Widerstand gegen staatliches Handeln eine Konsequenz christlicher Überzeugung sein kann. Dazu noch einmal Dietrich Bonhoeffer aus einem Brief an seinen Bruder Karl-Friedrich vom 14. Januar 1935 wo er schreibt: „Es gibt doch nun einmal Dinge, für die es sich lohnt, kompromisslos einzustehen. Und mir scheint, der Friede und soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus, sei so etwas.“ (Dietrich Bonhoeffer Werke 13, S. 273)

Das also sind die Dinge zu denen die dauernde Beunruhigung christlichen Lebens getrieben hat, zu allen Zeiten treiben kann: zum Einsatz für Frieden und soziale Gerechtigkeit – oder eigentlich für Christus! In dieser Weise sind viele Menschen im Widerstand offenbar angetrieben worden: durch Christus – für Christus, der Friede und soziale Gerechtigkeit für die Welt bedeutet.

Ganz in diesem Sinne höre ich auch Hellmuth James von Moltke, der im Abschiedsbrief an seine Söhne schreibt, was heute in der Eingangshalle der Hellmuth-James-von-Moltke-Schule – wenige hundert Meter von hier gedenkend an die Wand geschrieben ist – die Schule feiert übrigens in diesem Jahr ihr 40jähriges Bestehen – dort also in der Eingangshalle dieses Zitat:

„Seitdem der Nationalsozialismus zur Macht gekommen ist, habe ich mich bemüht, seine Folgen für seine Opfer zu mildern und einer Wandlung den Weg zu bereiten. Dazu hat mich mein Gewissen getrieben. ... Ich habe mein ganzes Leben lang – schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat.“

Auch hierin lese ich von dieser dauernden Beunruhigung christlichen Lebens, lese ich die Unmöglichkeit, von Gott, von Christus loskommen zu können – vom Gewissen gerieben! Und wie beispielhaft, wenn dieses Wort in der Eingangshalle einer Schule steht und Schülerinnen und Schüler zur Auseinandersetzung damit nötigt.

Das also wäre dann eine mögliche Antwort; dies nicht „gott-los“ sein können hat Menschen bewogen, hat sie befähigt, hat ihnen die Kraft gegeben, diesen Weg zu gehen, nicht abzulassen von ihren Plänen für ein anderes Deutschland – auch im Angesicht des Todes nicht. Und das kann es mir, kann es uns dann heute bedeuten: selber dieser Beunruhigung meines Lebens durch die biblische Botschaft nicht auszuweichen. Und ich weiß ja zu gut, wie groß die Versuchung dazu immer wieder ist!

Das wäre dann ein Teil des Erbes, das wir mit den Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern teilen: die dauernde Beunruhigung christlichen Lebens: dass auch wir heute nicht Friede rufen, wo Unfriede herrscht; dass wir Krieg ... „Krieg“ nennen und nicht Selbstverteidigung gegen Terrorismus; dass wir Ungerechtigkeit beim Namen nennen, so wie es beispielsweise die neue EKD-Denkschrift zu Armut in Deutschland versucht; dass wir weiter gegen den Versuch kämpfen, ethische Bildung in Berlin dem Staat zu überlassen, und Religionsunterricht in der Verantwortung der Kirchen fordern – dauernde Beunruhigung christlichen Lebens – um nur einige wenige aktuelle Beispiele zu nennen. Gewiss, es bleibt das Risiko, als Phantasten und Sturköpfe abgetan zu werden – aber welches Risiko ist das im Vergleich mit dem Risiko, das die Menschen eingingen, derer wir heute gedenken.

Aber gerade das Andenken an diese „Phantasten und Sturköpfe“ wollen wir bewahren, und uns auch dadurch weiter der dauernden Beunruhigung unseres Lebens aussetzen; denn wir werden von dieser Geschichte – und von Gott (!) nie loskommen!

„Und das bedeutet doch im Guten und im Bösen nie mehr gott-los sein können. Es bedeutet: Gott mit uns auf allen unseren Wegen, im Glauben und in der Sünde, in Verfolgung, Verspottung und Tod.“

Amen

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

© Pfarrer Carsten Bolz






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