Widerstand als Bürgerpflicht

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Hans Stercken

Widerstand als Bürgerpflicht

Ansprache des Direktors der Bundeszentrale für politische Bildung Dr. Hans Stercken am 20. Juli 1975 in der Stadthalle Bonn-Bad Godesberg

Wir haben uns hier zum Gedenken an den deutschen Widerstand zwischen 1933 und 1945 versammelt. In der Vorbereitung auf diese gemeinschaftliche Besinnung haben wir uns sicher gefragt, inwieweit wir damit einer konventionellen Pflicht entsprechen, einer Erinnerung an eigenes Erleben, oder in welchem Umfang wir es heute vermögen, dieses historische Geschehen in einen ganz aktuellen Bezug hineinzustellen.

Der Versuch, den deutschen Widerstand als ein Ereignis zu deuten, das heute, morgen und allezeit den Menschen in unserem Land Normen und Maßstäbe für eigenes verantwortliches Tun anbietet, wird zwar immer wieder unternommen, sei es in der Tagespolitik, sei es im Bildungswesen. Dennoch fürchte ich, dass hier keine sehr vitale Beziehung geschaffen werden konnte, weil das eigentlich Exemplarische der deutschen Widerstandsbewegung oft nicht in seiner Zeitlosigkeit erfasst worden ist. Nur unter solchen Voraussetzungen ließe sich eine neue Generation herausfordern, könnte ein Zugang zu einem geschichtlichen Vorgang neu erschlossen werden.

Ich glaube, dass die Unsicherheit bei der Überprüfung der Rangordnung unserer Werte, die wir seit nahezu einem Jahrzehnt sehr bewegend erfahren, dazu geführt hat, dass wir nicht mehr in einer unmissverständlichen Form das zu erkennen vermögen, was mit dem Wort „Widerstand“ gemeint ist.

In einer sich so bezeichnenden antiautoritären Welle, die dem oft bedrückenden Pendelschlag der deutschen Geschichte entspricht und die somit eine Antwort auf die autoritäre Überfrachtung darstellt, ist wohl der Eindruck entstanden, als versuche die Befreiung von allen Bindungen und Abhängigkeiten einen Zustand, in dem den Menschen eine Entscheidung zum Widerstand gar nicht mehr abverlangt würde.

Mit anderen Worten: Widerstand ist nur dort erforderlich, so meinen die Antiautoritären, wo man sich gegen ein selbstherrliches, totalitäres System zur Wehr setzen muss.

Manche junge Menschen, die sich mit Gewalt gegen jegliche Form sachlicher und personaler Autorität auflehnten, nahmen gar für sich in Anspruch, dass sie selber zur rechten Zeit eine wesentlich radikalere Form des Widerstandes gewählt hätten, weil nicht erst der Nationalsozialismus sie dazu veranlasst hätte. Dabei verfügen sie häufig über die Lebensumstände anderer, als sei dies das Selbstverständlichste von der Welt. Sie rechtfertigen dies dann mit dem gesamtgesellschaftlichen Interesse und übersehen, wie sehr sie in dieser Denkweise der Priorität des Gemeinnutzes der Nationalsozialisten ähneln, der auch vor jeglichem Eigennutz ging und damit die Freiheit des Einzelnen außer Betracht lässt.

Als sich nun vor einigen Jahren eine extremistische Bewegung des rechten Flügels ebenfalls des Wortes „Widerstand“ bemächtigte, da geriet die Bestimmung dieses Begriffs wohl völlig ins Wanken, da wurde ganz bewusst der Eindruck erweckt, als sei solch provokatives Handeln mit der sittlichen Entscheidung gleichzusetzen, die deutsche Männer und Frauen in der Zeit der Zwangsherrschaft für ihr risikoreiches Denken und Tun gefällt hatten.

Ich meine, dass wir uns heute mit mehr Besonnenheit daran zurückerinnern sollten, dass der deutsche Widerstand nicht aus der Lust am Opponieren, an der Aberkennung der Autorität des Staates oder gar an der Zerstörung einer Gesellschaft orientiert war.

Nicht die Problematik bestehender Strukturen, nicht die Einbettung von Menschen in das hierarchische konstitutionelle Gefüge eines Staates hat die Menschen des Widerstandes bestimmt, sondern die Auflehnung gegen die Zerstörung des Rechtsstaates, die Beseitigung aller ethischen Normen und die Verachtung des Menschen, der Minderheiten, ja eines ganzen Volkes.

Der Widerstand war eine Opposition gegen die Barbarei dunkelster Tage deutscher Geschichte und nicht eine Opposition aus revolutionärer Gesinnung unter Bezug auf das Verhalten, das man heute so zu bezeichnen pflegt.

Ich bin mir bewusst, dass gerade in diesem Zusammenhang der Gebrauch des Wortes „Revolution“ besonders ambivalent wirken muss, weil wir uns daran gewöhnt haben, mit diesem geschichtlichen Begriff die großen Umwälzungen zu bezeichnen und nicht die Vorgabe für jede Entwicklung in der menschlichen Gesellschaft, die sich auf die Ideen und das Handeln einzelner beispielgebender Persönlichkeiten bezieht. So hätte doch nach meinem Verständnis der Einsatz deutscher Widerstandskämpfer, Politiker, Gewerkschaftler, Künstler, Priester zwischen 1933 und 1945 mehr Anspruch darauf, als wirklich umwälzende Triebkraft, also als revolutionäres Programm, betrachtet zu werden als die Beiträge vieler Utopisten und Anarchisten unserer Tage, denen die Ehre zuteil wird, als revolutionär bezeichnet zu werden.

Aber so ist es eben mit den Wertvorstellungen: sie werden zum Bestandteil eines politischen Kalküls; sie verursachen oft neue politische Denkweisen und damit erst die Voraussetzung für politisches Handeln oder Versagen.

Widerstand in der historischen Perspektive, wie ich sie glaube empfehlen zu sollen, erwächst aus der Befähigung, rechtzeitig das Richtige zu erkennen, also nicht nur in guter Meinung gehandelt, sondern sich an den unwandelbaren Grundlagen menschlichen Zusammenlebens orientiert zu haben, an der Würde des Menschen, an Recht und Freiheit, also nicht allein an den eigenen Trieben, Wünschen und Versuchungen, sondern an der Persönlichkeit des anderen.

Doch wenn wir in diese Welt hineinschauen, so ist der Widerstand, der um solcher Werte willen von Minderheiten geleistet wird, immer schwächer entwickelt als extremistisches Handeln, das sich letzten Endes nur an Macht und Herrschaft orientiert.

Dabei wissen wir, dass für jeglichen Frieden unter den Menschen und unter den Völkern allein die Respektierung dieser Grundsätze bestimmend ist. Die Welt müsste also aus den Erfahrungen des europäischen und des deutschen Widerstandes lernen, um durch die Stärkung so denkender Menschen die Aussicht auf mehr Frieden und Verständigung zu fördern.

Der Beitrag, den unsere heutigen Überlegungen dazu zu leisten vermögen, ist also so aktuell wie in den Zeiten nach dem letzten Kriege, als vielfach versucht wurde, das eigene schlechte Gewissen durch die Ehrung mutiger Männer und Frauen zu beruhigen.

Solche Sicht des Widerstandes eröffnet auch eine zweite Perspektive, die ich in vergangenen wie künftigen Tagen als eine gewiss ebenso wichtige Erfahrung bewerte:

In keiner politischen Bewegung, nicht einmal bei der Schaffung europäischer, geschweige denn internationaler Organisation und Zusammenarbeit ist eine so tragfähige Grundlage der Gemeinschaftlichkeit sichtbar geworden wie in dem inneren Zusammenhang des europäischen Widerstandes.

Um eine solche Überlegung zu dokumentieren, braucht es nicht einmal einer umfassenden Darstellung der oft doch erstaunlich weitreichenden Beziehungen zwischen den einzelnen Widerstandsorganisationen.

Wesentlich solider und damit auch richtungweisend für die Zukunft erscheint mir die Übereinstimmung in der Anerkennung der grundlegenden Wertordnung unserer Gesellschaft, unserer Völker.

Ich empfinde es immer wieder als bedrückend, dass wir unsere gemeinsame Vergangenheit in Europa, insbesondere die Verflechtung unserer Kulturen, als sozusagen gegeben voraussetzen, uns dann aber in das Gestrüpp formalistischer Vertragsinterpretationen verlieben, während eine Ausdeutung unserer gemeinsamen Überzeugungen nicht recht zustande kommen will.

Die Übereinstimmung in den Konzepten europäischer Widerstandsbewegungen, was die Rolle des Menschen in Staat und Gesellschaft sei, welche Chance der Staat dem Individuum sichern müsse, damit er sich selbst nach seinem freien Willen zu vollenden vermöge, das sind für uns heute die oft unausgesprochenen Voraussetzungen für das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat.

Aber was tun wir wirklich in unserem Alltag, um solchen Erfordernissen Rechnung zu tragen? Und inwieweit nutzen wir das Vermächtnis europäischer Widerstandsbewegungen, um deutlich zu machen, dass es in den Tagen der Erniedrigung allenthalben schon die Rückbesinnung auf einen gemeinsamen Ursprung gegeben hat, um uns zu erleichtern, das gemeinsame Ziel für eine europäische Zukunft mit der gleichen Leidenschaftlichkeit und dem Einsatz tauglicher Mittel anzustreben?

Diese Beharrlichkeit der Männer des Widerstandes ist es, die ich vielen Zeitgenossen wünsche, die meinen, dass ihnen der Preis ohne Schweiß in den Schoß falle. Rufen wir diese Tugend in Erinnerung um unseres Staates willen, weil nur diese unermüdliche Bereitschaft das Gemeinwesen sichert, weil die Freiheit und das Recht und die Gerechtigkeit an jedem Tage aufs neue erobert werden wollen, nicht nur in den Tagen der Unterdrückung, sondern gerade auch in den Tagen des Friedens und des Wohlstandes.

Wünschen wir uns daher, unserem Staat und unserem Volk, dass dieser Geist des beharrlichen Einsatzes erhalten bleibe, damit uns durch ein Engagement zur rechten Zeit der Mut zum Widerstand in der Knechtschaft allemal erspart bleibt!







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