Widerstand als Verpflichtung. Begriff und Konzeption einer staatsbürgerlichen Aufgabe

Rüdiger von Voss

Widerstand als Verpflichtung. Begriff und Konzeption einer staatsbürgerlichen Aufgabe

Rede bei der Gedenkfeier zum 20. Juli 1944 für die Schüler der Berliner Oberschulen am 10. Juli 1962 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin

20. Juli 1944! - 10. Juli 1962! Eine Zeitspanne von nun 18 Jahren.

Desto weiter eine historische Tat zurückliegt, desto eindringlicher müssen wir uns das Geschehen in das Gedächtnis zurückrufen, desto tiefer müssen wir den Sinn der Tat erforschen, desto öfter müssen wir versuchen die Verbindung zwischen uns und denen herzustellen, derer wir gedenken.

Wir müssen uns immer wieder erneut fragen, ob und was uns ihre Tat zu sagen hat.

Meine Damen, meine Herren, wir haben uns hier versammelt, um der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 zu gedenken. Es soll wieder einmal über Freiheit und Widerstand gesprochen werden.

Wir sollten uns fragen, ob es nicht das Schicksal dieser beiden Begriffe „Freiheit“ und „Widerstand“ ist, dass ihrer zumeist in Ansprachen an Gedenktagen gedacht wird und dass wir erst wieder an sie erinnert werden, wenn ein direkter, konkreter, unsere persönliche Freiheitssphäre gefährdender oder verletzender Angriff geschehen ist?

Stellt die Freiheit und ihre Verteidigung, der Widerstand, demnach schon eine Aufgabe dar, die wir auch innerlich, gedanklich, nicht nur durch den Einsatz unserer persönlichen Kraft und Machtmittel zu lösen haben?

So wie wir uns frühzeitig klar machen sollten, dass die Freiheit und das Vermögen Widerstand zu leisten, ebenso wichtig für das menschliche Leben sind, wie die Hoffnung auf Liebe, auf Gnade, so müssen wir wieder lernen, in der Darstellung der staatsbürgerlichen Aufgaben, in der Definition der staatlichen Funktionen und ihres Bereiches - somit über Freiheit und Unfreiheit - einen Gegenstand zu sehen, der in seiner Wichtigkeit vor allen anderen Problemen stehen sollte, die wir intellektuell zu bewältigen haben.

Wie Glaube und Freiheit zum Gehorsam vor Gott bedeutet, so heißt Demokratie auch Freiheit durch Opfer und Einsatz.

Zwei Gestaltungen der Freiheit begegnen sich hier. Die eine ist die Freiheit zur Freiheit. Wenn wir die Freiheit wollen, müssen wir uns also für sie entscheiden. Sehen wir mit dem Begriff „Freiheit“ mehr gesagt, als nur die politische Freiheit, so erkennen wir plötzlich, dass auch die Freiheit eine große Last, eine Bürde sein kann. In Glaubensdingen wird immer wieder erneut mit der Freiheit gerungen. Ja - es wird sogar unter dieser Freiheit gelitten.

Die andere Gestaltung der Freiheit ist die Freiheit zur Wahl der Möglichkeiten. Wir könne also auch frei die Unfreiheit wählen.

Wir versuchen von der Freiheit zu sprechen!

Es hat manchmal so den Anschein, als sei der Mensch suspekt, der in Freiheit allzu oft über die Freiheit spricht, der von seiner Sorge um den Bestand der Freiheit kündet.

Wir fragen uns: Haben wir es denn nötig, dauernd mit der Freiheit umzugehen, wenn wir frei sind?

Lässt nicht hierbei unsere Aufmerksamkeit, unsere Bereitwilligkeit zu hören auch aus dem Grunde nach, weil wir wissen, dass uns dieses Wort zu fordern vermag?

So wie die seelische Reinheit, so wie der Glaube, so fordern Friede und Freiheit ein hohes Maß an Nachdenken, einen hohen Preis an Mut, Tapferkeit, ein hohes Maß an Nachdenken und Beständigkeit.

Die Freiheit müsste uns auch, wenn wir frei sind, berühren und bewegen. Wir sollten die Stimme der Freiheit, das Gewissen fragen: Bin ich frei?

Wir sollten uns nach außen hin fragen: Wie bin ich frei?

Wir sehen, dass der Sinn der staatsbürgerlichen Erziehung in der freien Welt es ist, dem Menschen, dem heranwachsenden Staatsbürger einen Begriff der Freiheit zu geben, die „Beunruhigung“ um die Freiheit in ihm wachzurufen. Nicht die Erziehung zur Relativierung aller Werte, sondern das Bewusstsein absoluter Werte ist das erste erstrebte Ziel.

Reichen den die Ideale des Vernunftglaubens, der Aufklärung, die Überzeugungen des Pragmatismus, des Utilitarismus, des Opportunismus, die Krisen überstehen muss und will, die einer aggressiven, rein kämpferischen Ideologie gegenübersteht? Verlangt die Situation nicht ein festes, waches, bewusstes Denken, das an der Erkenntnis des Bildes unserer Welt von Heute arbeitet?

So will ich heute in aller Bescheidenheit mit der Frage:

„Widerstand als Verpflichtung. Begriff und

Konzeption einer staatsbürgerlichen Aufgabe“

zu prüfen versuchen, was Freiheit und Friede unter anderem von uns fordern, was uns der 20. Juli 1944 zu sagen hat.

Wir fragen uns nun, was und die Widerstandsbewegung zu sagen hat. Geht unser Interesse weit über die historische Reportage, die filmische Reproduktion, über das Sensationelle der Tat hinaus? Bemühen wir uns noch zu erkennen, was die Widerstandskämpfer zu dieser Tat trieb?

Bedeutet der 20. Juli 1944 - auch der 17. Juni 1953, der 13. August 1961 - für uns wirklich eine Mahnung über die Toten, die Opfer des Aufbegehrens hinaus?

Es genügt eben nicht, dass wir uns bloß erinnern und - um uns zu rechtfertigen, uns zu beruhigen - Denkmäler zu errichten.

Wir sollten uns an ihrer Tat entscheiden!

So fragen wir nach dem Sinn des 20. Juli 1944: Der Sinn der Tat war es den verletzten Geboten der Menschheit und Menschlichkeit wieder zur Anerkennung zu verhelfen, der Sinn war, den immer schneller fortschreitenden Verlust an moralisch-sittlicher Substanz, an ethischem Bewusstsein einzudämmen und aufzuhalten,

der Sinn war es, die moralisch-sittliche Integrität des „Regimen“ zu sichern. Ich sage hier „regimen“, weil dies der lateinische, staatsphilosophische Begriff für eine Lenkung, Leitung, für eine Regierung im weitesten Sinne ist - und darum ging es ja.

Der Sinn der Tat war die Rettung der Nation vor und aus dem staatlichen Untergang.

Hören Sie bitte einige der Forderungen aus dem Entwurf einer Regierungserklärung, die die Männer des 20. Juli für ein Gelingen des Aufstandes vorbereitet hatten. Forderungen, die gestützt wurden von den Überzeugungen von Christen und Nichtchristen, von Menschen aus allen Schichten des Volkes, aus allen politischen Gruppierungen. Aus der Fülle der Aussagen könnte ich nur schlaglichtgleich auswählen.

Die Forderungen lauten: „Die zerbrochene Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung wird wiederhergestellt. Es ist notwendig, sofort klare Verantwortung und die Freiheit zu selbstständigen Entschlüssen wiederherzustellen.

Wir wollen die Grundlagen der Sittlichkeit wiederherstellen, und zwar auf allen Gebieten des privaten wie öffentlichen Lebens.

Der Doppelmoral muss der Kampf angesagt werden.

Der Lüge sagen wir den Kampf an.

Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechtes, der Sicherheit der Person und des Eigentums.

Zur Sicherung des Rechtes und des Anstandes gehört die anständige Behandlung aller Menschen.

Wir wollen uns um die Neuerrichtung der Lebensgemeinschaften von Ehe und Familie bemühen.

Die Erziehung muss wieder bewusst auf die christlich-religiöse Grundlage gestellt werden, ohne dass die christlichen Gesetze der äußersten Duldsamkeit gegenüber Andersgläubigen verletzt werden sollen.

Das Wirken des Staates wird von christlicher Gesinnung in Wort und Tat erfüllt sein, denn dem Christentum verdanken wir die Fähigkeit, die schlechten Triebe in uns zu behaupten.

Die Trennung der Gewalten, die Trennung von Kirche und Staat müssen wieder verwirklicht werden.

Der Staat seid Ihr mit Euren Kräften, wir und die Organe des Staates sind nur Eure Treuhänder.

Wir wollen die innere Aussöhnung des Volkes mit allen Kräften betreiben.“

Klingen diese Forderungen für uns heute nicht wie die Wiederholung einer längst bekannten, schon so oft gehörten Proklamation?

Die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 sahen nach der Erfahrung des nationalsozialistischen Staates die Notwendigkeit, sich neu auf die Werte zu besinnen, die das Abendland geerbt, geschaffen und neu geformt hat.

Haben wir heute nicht das Gefühl, als sei mit dem nationalsozialistischen Staat eine ganze Epoche zu Ende gegangen?

Man besann sich also auf die Traditionen, auf die Notwendigkeiten für die Sicherung des Bestandes von Volk und Staat. Man sah die Verpflichtung, die man einer ganzen Welt gegenüber trug.

Versuchte man nicht alte Werte für unsere Zeit zu nutzen; versuchte man nicht an Tugenden zu erinnern, die unter dem Begriff „Preußisch“ so oft missverstanden worden sind?

Begriffe wie: Ehre, Tapferkeit, Ritterlichkeit, Vertrauen, Loyalität, Treue, Gewissensfreiheit, gewissenhafte Pflichterfüllung, uneigennützige Hingabe an den Dienst, Unbestechlichkeit, Schlichtheit des Auftretens, - viele könnte man noch nennen.

Sollten wir nicht über diese Tugenden viel mehr nachdenken und uns an das Wort von Paul Graf York zu Wartenburg erinnern, der sagte: „Echte Begegnung mit geschehener Geschichte ist immer eine virtuelle Kraftübertragung“,

damit meint er also ein von einem konservativen Gedanken getragenes Handeln.

Man besann sich erneut auf den Begriff der Autorität, auf die „auctoritas“, die dem römischen Ursprung nach ehemals eine Trinität von Religion-Tradition-Autorität darstellte.

Man wusste, mit den Worten von Prof. Hans-Joachim Schoeps, „dass wirkliche Freiheit nur dort erwächst, wo es durch Autorität gestütztes lebendiges Recht gibt“.

Man durchdachte aufs neue die Kriterien der Legitimität, der Kontinuität und der Verantwortlichkeit, an deren Form sich das Verhältnis von Bürger und Staat notwendigerweise entscheidet. Darüber hinaus wussten sie, wie Prof. Dolf Sternberger in anderem Zusammenhang sagte, dass sich an dem Verhältnis der Verantwortlichkeit zwischen den leitenden Organen und den Regierten sich das System und die Art der Regierung bemisst.

Es ging hier also um die Probleme der akuten Entscheidung der staatlichen Gewalt und der inneren Willensbildung des Bürgers; um die Probleme des Gehorsams, des Respekts, der Zustimmung und der Loyalität, der Werbung und der Privilegien, des Zwanges und der Sanktionen.

Man wollte die der Zeit gemäßen Akzente finden

für das „Imperium“, d.h. die obrigkeitliche Gewalt, den Befehl

für die „Protestas“, d.h. die politische Macht und die gesetzliche Amtsgewalt

für die „Auctoritas“, d.h. den Auftrag der Ermächtigung, die Herrschaft geprägt durch den sittlichen Ernst.

(Ich sagte hier absichtlich imperium, potestas, auctoritas, weil diese lateinischen Worte feststehende Begriffe der Staatsphilosophie sind.)

Warum bemühen sie sich um all das?

Getrieben von ihrer Sittlichkeit, deren Wesen nach den Worten von Reinhold Schneider es ist, dass sie sich nicht auf die „innere Auffassung“ beschränken kann, sondern sich im Tun, im Verhältnis zu den Menschen und Dingen gestaltend auswirken muss, erkannten sie, dass die Macht ein Amt ist, dass die Rechte der Obrigkeit an Pflichten gebunden sind, die das Recht erst begründeten. Sie wussten mit den Worten Reinhold Schneiders, dass nur „verwalten kann, wer zur Verantwortung gerufen wird“. Sie wussten, dass der Friede „die politische Kategorie schlechthin“ ist, gleich einer Begriffsprägung Prof. Dolf Sternbergers. Dass der Friede „Grund, Norm und Merkmal des Politischen“ ist, d.h. dass der Friede immer wieder erneut hergestellt, bewahrt, gewährleistet und geschützt werden muss.

Sie wehrten sich gegen den absoluten Anspruch der Macht in dem Bewusstsein, dass menschliche Macht und Freiheit endlich sind, dass erst aus der inneren Freiheit, aus dem Bewusstsein von der Würde des Menschen legitimierte Macht erwachsen kann, die ihrerseits aus dem Glauben und dem Vertrauen der Vielheit erwächst.

Warum dieses aus sittlichem Wollen entstandene Vorbereiten auf die Zukunft?

Die Erfahrung des nationalsozialistischen Staates ließ sie das lebenszerstörende Wesen des totalitären Staates erkennen.

Worin besteht denn das Wesen des totalitären Staates?

Wenn wir dem totalitären Machtanspruch wirksam begegnen wollen, dürfen wir nicht mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand - der leicht zu Fehlschlüsse, Fehleinschätzungen neigt -, an die Probleme dieser neuen Erscheinung herantreten, sondern wir müssen uns bemühen - wie die Männer des 20. Juli -, zu erkennen, dass hier Kräfte am Werke sind, bestrebt alle Kategorien sittlich-moralischer Art zu sprengen, die Tradition auszulöschen und die sogenannte „historische Kontinuität“ aufzuheben und all dies auszutauschen gegen die neue Gesetzlichkeit von Natur und Geschichte.

Sie sahen, dass es das „Recht der Natur“ und das „Gesetz der Geschichte“ sind, die jedes positive Recht überflüssig und unsinnig machen.

Das „Recht der Bewegung“ muss das aus der Tradition verstandene positive Recht zerstören, um die Bewegung - sei es nun auf einer faschistischen, nationalsozialistischen, einer kommunistischen oder sonst einer anderen Basis -, um die Bewegung zu erzeugen, die ihrer totalen Welterklärung genügt. Das Recht wird nicht mehr als ein Faktor der Stabilisierung gegenüber der Veränderlichkeit von Gesellschaft und Geschichte, als ein Faktor verstanden, der zur Sicherung des Friedens beiträgt.

Es gilt nicht mehr das, was war und was ist, sondern nur noch das, was wird und was entsteht, was vergeht, wie Hannah Arendt in ihrem Buche „Elemente totaler Herrschaft“ sagt.

Eine „eigentlichere Realität“, entstanden aus der Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung, wird zum Schöpfer dieses Henkergesetzes, das unser Menschenbild zum Schafott führt und so die Welt der Freiheit zerstören muss.

Diese fiktive Welt der Erkenntnis genügt dem eigentlichen Wesen der totalitären Herrschaft, das nach Hannah Arendt, der Terror ist. Dieser „Terror“ ist das Endprodukt eines Prozesses, der, ausgehend von dem totalen Anspruch auf das Leben, über die systematische Auflösung und Zerstörung der Gesellschaft, über die Isolierung des Individuums durch Kontrolle und Verrat, Denunzierung und Verleumdung, zur Selbstaufgabe und Selbstauslöschung des Einzelnen führt, verursacht (wie Hannah Arendt sagt) durch „die Grunderfahrung, menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft, politisch realisiert, die Erfahrung der Verlassenheit ist“.

Die totale Macht begibt sich also in den Raum, in dem Macht entsteht, in den Zwischenraum, der sich zwischen den Menschen bildet, also in den zwischen menschlichen Bereich.

Durch die Zerstörung des zwischenmenschlichen Bereiches wächst der totalitären Herrschaft die Macht zu, die es ihr ermöglicht den Menschen, der „befreit“ ist von allen seinen sozialen Wurzeln, einer seelischen Anarchie auszusetzen.

Das Ziel, das die totalitäre Macht anstrebt, ist es, aus dem schöpferischen Menschen, dem schöpferischen Subjekt, ein Objekt der Bewegung, ein Ding, eine Sache, eine Nummer, ein Partikel der zu bewegenden Masse zu machen. Ein Objekt, das, willfähig in der Verzweiflung, an die fiktive Welt der Ideologie glaubt, als der einzigen gerechten Instanz.

Wir dürfen uns nicht täuschen, „totalitäre Macht und Terror“, als ein untrennbarer Begriff, sind neu in der Geschichte und sind, so könnte man vielleicht vermuten, die unserer auf einmal so erschreckend dimensionslos gewordenen Welt adäquate Bedrohung.

Es sind folgende charakteristische Allgemeinplätze: Die Welt des Atoms wird begleitet von dem Zeitalter der Massen, die Ausweitung der Dimensionen und die Eröffnung neuer Weltenbereiche von einer völligen Desorientierung, von einer Auflösung der Bindungen, die fragliche Erwartung eines „neuen Typus: Mensch“, der der Zukunft gewachsen wäre, von der beunruhigenden Gleichgültigkeit des Menschen unserer Tage.

Hannah Arendt stellt fest, dass die Welt mit dem Ausruf: „Dies hätte nicht geschehen dürfen“ in eine Veränderung eingetreten sei, die für uns verloren ist, oder besser, in der wir uns verlieren, wenn wir den erforderlichen Einsatz nicht wagen. Sie kennzeichnet damit eindringlich ein Symptom dieser Widersprüchlichkeit, die nach allgemeiner Erkenntnis so charakteristisch für die Zeit ist, in der wir leben. Ein Widerspruch zwischen Erkenntnis und Handeln.

Wir erkennen, oder glauben es wenigstens, die Zeichen der Gefahr, die Markierungen der Abgründe, aber wir handeln nicht, so scheint es zumindest.

Wir bemühen uns dagegen, mit dieser Widersprüchlichkeit zu leben. Wir kranken an dem Bewusstsein des Widerspruchs. Ist nicht dieses Wissen um den Widerspruch und unser Bemühen oder unsere Scheu eine Harmonisierung der inneren und äußeren Welt herbeizuführen, der tiefere Grund für unsere geistigen Krisen, die so oft unabsehbare, entsetzliche Folgen haben?

Wir haben gehört, was die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 forderten, und warum sie es forderten, angesichts der Tyrannis, die sich mit dem totalen Herrschaftsanspruch verbündet hatte und sich des Terrors bediente, um an ihr furchtbares Ziel zu gelangen; angesichts des absoluten Krieges und seiner Schrecknisse, die in dem organisierten Völkermord, um unverhüllten Verbrechen der Gerichtshöfe und Konzentrationslager ihre ungeheuren Ausmaße offenbarten.

Die Widerstandskämpfer sahen die Notwendigkeit das Alte zu bewahren, um dem Neuen gewachsen zu sein. Sie unternahmen also den Versuch, die Elemente zum Aufbau des Friedens neu zu durchdenken. Sie sahen, dass die Versuchung, die mit der Macht verbunden ist, immer bestrebt ist, die Freiheit einzuengen und zu beschneiden. Mit der klaren Bestimmung der Freiheiten des Bürgers und den Pflichten des Staates, wollten sie die Beziehung der Verantwortlichkeit neu begründen, die zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen bestehen muss, wenn ein Staatsgebäude errichtet werden soll, das auf den Pfeilern von Tradition, Sitte, Moral, Religion ruht. Sie wollten also einen Staat errichten, der getragen wird von einer Gesellschaft von Menschen, die ihre Beziehungen sehen, die Bindungen bewahren und sich vor Gott und den Menschen verpflichtet fühlen.

Sie wollten den Menschen also in ein festes, wohlgeordnetes Dasein gestellt sehen, in ein Dasein, aus dem allein die Kraft ersteht, mit der uns die Gegnerschaft gegen den totalen Herrschaftsanspruch möglich wird. Wir besannen uns auf die Widerstandsbewegung, um für uns den Begriff des Widerstandes als einer Aufgabe zu finden.

Ich fasse zusammen: Wir versuchten zu erkennen, warum wir das Wort „Freiheit“ begreifen müssen, Freiheit nicht als selbstverständliche Gabe, sondern als Aufgabe, als Entscheidung, die negative oder positive Konsequenzen nach sich zieht.

Freiheit verbunden mit der Frage:

Bin ich frei? - und - Wie bin ich frei?

Freiheit geborgen in der Beunruhigung um ihren Bestand.

Freiheit als Wächterin der Gebote der Menschheit und Menschlichkeit, die ihrerseits die moralisch-sittliche Substanz und ihre Integrität, das ethische Bewusstsein tragen sollen.

Wir versuchten zu erkennen, dass die Besinnung auf die Traditionen nicht Flucht aus, sondern Rüstung für die Gegenwärtigkeit und Zukunft bedeutet.

Wir sagten, dass es wichtig ist für unser Bestehen, dass wir die unserer Zeit gemäßen Akzente für die Aufgliederung der Macht und der Verantwortung finden.

Wir folgten der Auffassung, dass die Macht ein mit Pflichten verbundenes Amt ist.

Wir glauben, dass Freiheit den Frieden fordert, dass der Friede die „politische Kategorie schlechthin“ ist.

Der Widerstand als der Begriff für die Verteidigung von Freiheit und Friede muss hier seine Aufgabe finden.

Wenn ich also von dem Widerstand als einer staatsbürgerlichen Aufgabe spreche, dann meine ich damit die Pflicht, jedem Versuch einer Vergewaltigung des Menschen entgegenzutreten. Das heißt nicht, dass wir nun unsererseits unseren Willen absolut setzen sollten, nein, das gerade würde unsere Unfreiheit begründen. Der Geist des Widerstandes gegen den Terror, gegen die Versuche der sich absolutsetzenden Gewalt, gegen die bindungslose, nicht delegierte Macht bestimmt sich vielmehr durch das Bewusstsein höherer Pflicht, höchster Verantwortung, durch Achtung vor dem Menschen, durch das Streben nach Gerechtigkeit, durch die Liebe zum eigenen Lande und zu der Welt, in die wir gestellt sind.

Hier wird der Widerstand zur Aufgabe.

All dies mag etwas pathetisch klingen, wenn wir uns nicht bemühen, den tiefen Wert dieser Forderungen zu erkennen.

Der Widerstand wird also hiermit zu einer vielmehr moralisch-sittlichen als einer politisch-juristischen Kategorie. Untersuchen sie einerseits die Verfassungen der freien Welt, andererseits prüfen sie die Ergebnisse der Jurisdiktion, befragen sie die Philosophie und die Theologie, so werden sie immer eindringlicher erkennen müssen, dass Widerstand zur Freiheit gehört, dass die Freiheit verloren ist, wo der Streit und die Möglichkeit zu widerstehen, wenn es Gewissen und Überzeugung verlangen, ausgeschlossen sind.

Ja, ist denn Widerstand nicht erst dann möglich und gerechtfertigt, wenn ein Angriff gegen die Freiheit, eine Verletzung der Rechte vorliegt? Wir haben diese Frage schon am Anfang verneint, denn Widerstand gründet sich ja gerade auf sittlichem Bewusstsein und auf moralischer Verpflichtung; das eben Gesagte erklärt auch das Phänomen, dass es keine klare juristische Verankerung des Widerstandes gibt, es sind jeweils nur Andeutungen, die gegeben werden. Die letzte Entscheidung, die letzte Pflicht bleibt bei uns.

So wie wir demnach die Freiheit gedanklich erfassen müssen, so müssen wir schon vor dem Angriff gewappnet sein. Dies wollten uns die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 bezeugen. Wir müssen also auch den Begriff des Widerstandes für uns erkennen. Erlauben Sie mir bitte den Ansatz zu einer Forderung.

Täglich versucht die Macht erneut einen Machtzuwachs zu erlangen, täglich ereignet sich das Unrecht und der Betrug in tausenderlei Formen und vergiftet so das staatliche Leben, täglich wird unsere Persönlichkeit in die Versuchung gestellt, täglich sollten wir Zivilcourage und Charakterstärke beweisen. Können wir denn die Gefährdung der Freiheit hindern, wenn wir unsere Beurteilungskräfte nicht mobilisieren, um sie als Sicherungsfaktoren in die Waagschale der Friedens- und Freiheitssicherung zu legen.

Wie können wir die moralische und politische Integrität eines „Regimes“ sichern - ich lasse die Form der Regierung mit der Wahl dieser Bezeichnung also offen, wenn wir im Begriff des „Staates“ und der „Staatsbildung“ nicht mehr wie die Philosophie des Altertums den Inbegriff und das Ziel des Denkens und Handelns sehen?

Wie können wir den Bestand der Gemeinschaft festigen und bewahren, wenn wir dem Fehlschluss verfallen höchster Grad von Intellektualität wäre pflichtfreie Individualisierung, d.h. Absonderung von der Gemeinschaft, Vereinzelung, Desinteresse an den Notwendigkeiten eines staatlichen geordneten Zusammenseins?

Die bloße Beugung unter die Autorität, die Respektierung der gegebenen staatlichen Form, die Kritik staatlichen Handelns reicht nicht aus. So wie wir lernen müssen, die Zusammenhänge zwischen der Verpflichtung der Tradition, der Verantwortung der Gegenwart und der schöpferischen Hoffnung auf die Zukunft zu sehen, so müssen wir begreifen, dass das mit der Gemeinschaft und zur Gemeinschaft hin nicht Aufgabe der Individualisierung, sondern gerade Möglichkeit der Vervollkommnung und Verwirklichung der Menschwerdung bedeutet.

Aus dieser Erkenntnis heraus wird der Ruf der Demokratie nach „Elite“ verständlich, einer Elite verantwortungsbewusster politischer Repräsentanten, der Ruf nach einer wachen Bevölkerung, die an dem Treiben des Politikers teilnimmt, die weiß, dass die delegierte Macht auf ihrem Vertrauen und auf ihrem Glauben beruht. So verlangt die Demokratie einen Bürger, der das Engagement und das Opfer nicht scheut, der zu sehr Mensch ist, um sich als Mittel und Werkzeug der Macht missbrauchen zu lassen.

Denken wir folgerichtig weiter, so wird die Beschäftigung mit der Politik, das Bemühen um politische Weisheit, die Schulung der politischen Intelligenz, die Begründung des Pflichtbewusstseins eine Forderung, an der wir nicht mehr vorbeigehen dürfen, ja, eine moralische Kategorie um der Freiheit und des Friedens willen.

Die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 sahen in der Begründung der Demokratie und in der Sicherung der Freiheit, in der Verteidigung der Werte, im Widerstand ihre Aufgabe. Wenn wir das Opfer, die Tat der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 richtig verstehen wollen, dann müssen wir ihre moralisch-sittliche Entscheidung vor ihrem politisch-mutigen Handeln beachten. Wollten sie auf der einen Seite das abendländische Erbe, das sich vom Christentum nicht trennen lässt, retten, wollten sie den deutschen Namen wieder von dem entsetzlichen Makel befreien und den Weg des Rechtes, des Anstandes und der gegenseitigen Achtung gehen, wollten sie die Stimme des wahren Deutschlands wieder alle Hoffnung erheben, so wollten sie auch bezeugen, dass der Mensch seinem Gewissen und seinem Rechtsbewusstsein vor allem andern zu folgen hat, dass die Menschheit nicht in „den Menschen des totalitären Systems“ umgewandelt, von dem heillosen Menschen des totalitären Systems aufgesaugt und verschlungen werden darf. Sie riefen uns wach und beunruhigt zu sein zum Schutze von Freiheit und Friede, zu widerstehen, wo es Freiheit und Friede von uns fordern.