Widerstand und Beharren – Die Kirchen im Dritten Reich

Karl Otmar Freiherr von Aretin

Widerstand und Beharren – Die Kirchen im Dritten Reich

Vortrag von Prof. Dr. Karl Otmar Freiherr von Aretin am 16. Juli 1994 in der Kirche zu Bornstedt, Potsdam

Als Rolf Hochhuth 1963 mit seinem Drama „Der Stellvertreter“ eine Diskussion über die Haltung der katholischen Kirche im Dritten Reich auslöste, war er der Meinung, dass eine energische Verurteilung der NS-Verbrechen dem Dritten Reich ein rasches Ende hätte bereiten können. Wer die Ereignisse der unblutigen Revolution in der ehemaligen DDR vor seinem Auge Revue passieren lässt, könnte auf die Idee kommen, dass Hochhuth mit seiner Meinung gar nicht so falsch lag. In Polen und in der DDR haben die evangelische bzw. die katholische Kirche eine wichtige Rolle bei der Beseitigung der kommunistischen Diktatur gespielt. Lassen sich diese Erkenntnisse auf das Dritte Reich übertragen, und muss man heute, nach den Ereignissen in Osteuropa, nicht sehr viel kritischer die Haltung der Kirchen im Dritten Reich betrachten? 1963 war die Antwort an Hochhuth eindeutig. Man sprach von einer Überschätzung des Einflusses der Kirchen. Heute würde die Antwort nicht so eindeutig ausfallen.

Es bleibt aber ein merkwürdigerweise kaum diskutiertes Problem, das hier am Anfang meines Vortrages angesprochen werden muss. Unsere säkularisierte Gesellschaft, die sonst von den Kirchen wenig hält, ist sehr schnell bei der Hand, wenn es darum geht, den Kirchen moralisches Versagen vorzuwerfen. In ihren Augen haben die Kirchen nur eine Aufgabe: ein verbrecherisches Regime, sei es die NS-Diktatur, sei es das SED-Regime, mit allen Mitteln zu bekämpfen und ihre Verbrechen anzuprangern. Auf diese Weise ist es sogar gelungen, das Verhalten der evangelischen Kirche gegenüber dem SED-Regime so in Misskredit zu bringen, dass von dem heldenmütigen Auftreten evangelischer Christen nicht mehr die Rede ist, sondern nur noch von der Zusammenarbeit evangelischer Pastoren mit dem SED-Regime. Es ist – dies muss am Anfang meiner Ausführungen ganz klar gesagt werden – nicht die Aufgabe der Kirchen, Widerstand gegen ein noch so übles Regime zu organisieren. Die Kirchen besaßen keine Vollmacht, ihre Gläubigen zu politischem Widerstand aufzurufen. Die Entscheidung zum politischen Widerstand, eine Entscheidung, die immer mit der Möglichkeit eines Todesurteils verbunden war, konnte immer nur von einem Einzelnen getroffen werden.

Dietrich Bonhoeffer stellte im April 1933 drei mögliche Verhaltensweisen der Kirche gegenüber den Nationalsozialisten und insbesondere in der Judenfrage auf. Der Staat wäre zu neuen Wegen in der Judenfrage berechtigt, die Kirche müsse den Staat aber fragen, ob sein Vorgehen im Rahmen des Rechtsstaates bleibe. Zweitens, die Kirche habe die Aufgabe des Dienstes an den Verfolgten. Als letztes nannte er ein Vorgehen, das man geradezu als Schlüssel für das Verhalten der Kirchen gegenüber totalitären Staaten bezeichnen kann. „Die dritte Möglichkeit besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen. Solches Handeln wäre mittelbar politisches Handeln der Kirche und ist nur dann möglich und gefordert, wenn die Kirche den Staat versagen sieht, d.h. wenn sie den Staat hemmungslos ein Zuviel an Ordnung und Recht verwirklichen sieht. Die Notwendigkeit unmittelbaren politischen Handelns der Kirche ist jeweils von einer kirchlichen Versammlung (Synode, Konzil) zu entscheiden.“ Dazu ist es angesichts des Holocaust nicht gekommen. Mit diesem Versagen haben wir uns auseinander zu setzen.

Die Kirchen haben insofern dem Missverständnis über den Kern ihres Versagens Vorschub geleistet, als sie nach 1945, wo man in den meisten Fällen besser von Verfolgung gesprochen hätte, von Widerstand sprachen. Die evangelische Kirche betonte in der bekannten Stuttgarter Erklärung von 1947 ihr Versagen. Die katholische Kirche tat so, als hätte sie über den Nationalsozialismus triumphiert. Die Bedeutung der Kirchen, dies sei vorweggenommen, lag in ihrem Beharren auf christlichen Geist, in das der Ungeist des Nationalsozialismus nicht eindringen konnte.

Unsere säkularisierte Welt versteht es hervorragend, von den eigentlichen moralischen Versagern abzulenken. Das war in erster Linie die Justiz. Deutschland hatte eine großartige Tradition des Rechtsstaates zu verteidigen. Trotzdem haben sich die deutschen Richter im Dritten Reich und im SED-Regime zu Handlangern von Unrechts- und Mordregimen gemacht. Mir ist nicht bekannt, dass der Präsident des Reichsgerichts Bumke oder ein anderer hoher Richter gegen Konzentrationslager oder die Morde des 30. Juni 1934 protestiert hätte. Dasselbe gilt für die Generalität einer Armee mit einer großartigen Tradition, die es gar nicht wagte, gegen die scheußlichsten Verbrechen unserer Zeit aufzustehen. Genannt seien hier auch Ärzte, von denen eine erschreckend hohe Zahl bei der Euthanasie und bei Versuchen an lebenden Menschen in den Konzentrationslagern beteiligt waren. Es gab mehrere Institutionen, die heute mit dem Finger auf die Kirche deuten und denen es sehr gut anstünde, ihr eigenes Versagen zu bekennen. Widerstand und Kampf gegen Unrecht sind politische Aufgaben. Natürlich kann jemand einwenden, dass dieselbe Kirche, die gegen die Abtreibung kämpft und bei der Judenvernichtung schweigt, sich moralisch in eine schwierige Position bringt. Nur bedingt die Erhaltung der Seelsorge in einer christenfeindlichen Diktatur ein Mindestmaß an Zusammenarbeit mit dem Staat mit allen seinen Rücksichten. Es ging 1933-1945 und 1945-1989 für die Kirchen nicht um Kampf, sondern um Überleben.

Der katholische Publizist Fritz Gerlich gab diese Situation in den letzten Zeilen, die er als freier Journalist in seiner Zeitschrift „Der gerade Weg“ schreiben konnte, wieder, wo es heißt: „Die Kirche kann warten. Ihre unerschütterliche Kraft liegt gerade im Beharren, in ihrer Leidensfähigkeit, in der Gnadenkraft, die der Heiland ihren Gliedern spendet. Es kann uns jahrelang schlecht gehen, schlecht nach menschlichen Begriffen, wir können jahrelang nichts zu lachen haben, das macht alles nichts. Unser Herrgott kennt seine Stunde.“ Fritz Gerlich, einer der schärfsten Kritiker Hitlers und des heraufkommenden Nationalsozialismus in den Jahren 1930-33, wurde am 30. Juni 1934 in Dachau ermordet.

So sehr man die kirchenfeindlichen Äußerungen der Nationalsozialisten kannte: Von dem am 30. Januar 1933 gebildeten Kabinett erwartete niemand einen Kirchenkampf. Die Voraussetzungen, mit denen die beiden Kirchen in das Dritte Reich gingen, waren sehr verschieden. Ihr Verhältnis zur Politik und zur Weimarer Republik unterschied sich grundlegend. In den Augen der meisten evangelischen Christen in Deutschland war das Reich in der Weimarer Republik von den alten Reichsfeinden der Bismarckzeit, den Sozialdemokraten und den Katholiken, verfremdet. Von den zwölf Reichskanzlern der Weimarer Republik waren drei Sozialdemokraten und fünf Katholiken. Von den 14 Jahren, die die Weimarer Republik dauerte, wurde sie drei Jahre von Sozialdemokraten und sieben Jahre von Kanzlern der katholischen Zentrumspartei regiert. Die Mehrzahl der evangelischen Bischöfe und Pastoren waren deutschnational-monarchistisch gesinnt. Sie weinten ihr nach ihrer Beseitigung keine Träne nach. Aber nicht nur dies: Mit der 1927 in Thüringen gegründeten Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ gab es innerhalb der evangelischen Kirche eine nationalsozialistische Gruppe. Sie konnte 1932 einen erheblichen Teil der evangelischen Kirche gewinnen.

Nach außen waren die Voraussetzungen in der katholischen Kirche ganz anders. In der katholischen Zentrumspartei gab es eine politische Gruppierung, die sich auch in den Wahlen 1930-33, als alle bürgerlichen Parteien an die Nationalsozialisten Stimmen verloren, ohne größere Verluste hielt. In den gemischtkonfessionellen christlichen Gewerkschaften und in einem wohlorganisierten Vereinswesen schien die katholische Kirche in der Politik eine fast unüberwindliche Position zu haben. Der Schein trog: Innerhalb des katholischen Episkopats wurde das Zentrum zwar wegen seines politischen Einflusses geschätzt und bei Wahlen unterstützt. Das war aber kein Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie.

In Rom sah man die Verbindung zwischen der Republik und der katholischen Kirche mit großem Misstrauen. Man war dort antidemokratisch eingestellt. Das Verhältnis von Staat und Kirche in den einzelnen Ländern wollte man hier nicht von der Stärke und dem Einfluss einer katholischen Partei abhängig machen, sondern vertraglich in Konkordaten regeln.

Innerhalb des deutschen Katholizismus gab es aber keine Verbindung zum Nationalsozialismus. Einige Bischöfe, wie der Bischof von Mainz, gingen sogar so weit, Mitgliedern der NSDAP die Sakramente zu verweigern. Von daher gesehen musste man annehmen, dass die katholische Kirche der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten ablehnend gegenüber stehen würde. Ähnliche Erklärungen fehlten in der evangelischen Kirche. Da im Kabinett Hitler wichtige Ministerien von Angehörigen der Deutschnationalen Volkspartei besetzt waren, konnte man davon ausgehen, dass die evangelischen Kirchen Hitler und seinem Kabinett der nationalen Konzentration positiv gegenüberstehen würden.

Fassen wir die Anfangssituation zusammen, so kommt man um die Feststellung nicht herum, dass beide Kirchen in der parlamentarischen Demokratie kein Ideal sahen, das verteidigt werden müsse. In der katholischen Kirche war man bereit, die Position des Zentrums preiszugeben, wenn sich die Stellung der Kirche vertraglich in einem Konkordat festlegen ließ. Dazu kam, dass Katholiken gegenüber dem vom Kabinett Hitler ausgehenden nationalistischen Sog wehrlos waren. Noch immer besaßen die Katholiken aus dem Kaiserreich ein nationales Minderwertigkeitsgefühl. Gegenüber dem Nationalsozialismus und den von ihm vertretenen Ideen besaß man jedoch eine eindeutig ablehnende Position. Die Situation der evangelischen Kirchen war komplizierter. Die parlamentarische Demokratie war kein Ideal, das man für verteidigungswert hielt. Die nationalistische Woge war tief in die Pastorenschaft eingedrungen. Die Deutschen Christen hatten in einem nationalistischen Taumel alle Maßstäbe verloren. Pastoren predigten in SA-Uniform. Hitlers Worte wurden als in der Nachfolge der Offenbarung Christi stehend betrachtet und anderes mehr.

Eine Einmischung in die Politik war von den Kirchen nicht zu erwarten. Es lag an der Regierung, wie sich ihr Verhältnis zu den Kirchen gestalten würde. Von daher gesehen war es ein geschickter Schachzug der Regierung, im April 1933 mit Konkordatsverhandlungen zu beginnen. Sie machten in einer entscheidenden Phase den politischen Katholizismus wehrlos. Eine Erklärung der Bischöfe vom 28. März 1933 konnte so ausgelegt werden, als ob diese ihre Vorzüge gegen die NS-Weltanschauung und die Rassenlehre zurücknehmen würden. In den Monaten bis zum Abschluss des Reichskonkordats am 20. Juli 1933 wurden die katholischen Parteien zerschlagen. Die Nachricht von Konkordatsverhandlungen tat auch bei den Protestanten ihre Wirkung. Selbst konservative Kräfte im Protestantismus, die dem Nationalsozialismus mit Reserven gegenüberstanden, waren beunruhigt.

Im Sommer 1933 fielen dann zwei Entscheidungen, die das Verhältnis der Kirchen zum Dritten Reich prägten. Am 20. Juli 1933 schloss Hitler das Reichskonkordat ab. Mit diesem Vertrag war der Auflösungsprozess des politischen Katholizismus abgeschlossen. Die katholische Kirche verlor damit ihren Einfluss auf die Politik. Dieser Rückzug aus der Politik schien für den Episkopat und viele konservative Katholiken kein Nachteil zu sein, die mit Sorge die enge Verbindung Zentrum – Kirche betrachtet hatten. Dazu kam, dass Kardinalstaatssekretär Pacelli einen schweren, und bei der langen Erfahrung der Kirche unbegreiflichen Fehler gemacht hatte. Die katholischen Vereine wurden nur ganz allgemein geschützt, ohne dass festgelegt war, wer damit gemeint war. Pacelli ließ sich auf eine spätere Spezifizierung vertrösten, die nie erfolgte. Dies ist umso unbegreiflicher, als das katholische Vereinswesen bereits vor Abschluss des Konkordats dem Terror des Nationalsozialismus ausgesetzt war. Zentrumsangehörige, Mitglieder der christlichen Gewerkschaften und der katholischen Vereine wurden gnadenlos verfolgt, verloren ihre Stellungen, wurden verhaftet. Die Folgen des Konkordats waren für viele treue Katholiken verheerend. Die Gegenmaßnahmen gegen Verfolgungen und Vertragsbrüche konnten nach Inhalt des Konkordats allein von Rom aus erfolgen. Andererseits schützte das Konkordat vor Übergriffen des Staates auf den kirchlichen Sektor. Einen katholischen Widerstand bzw. einen Widerstand der katholischen Kirche gegen den Nationalsozialismus hat es von da an im politischen Raum nicht gegeben.

Es waren aber keineswegs nur konservative katholische Bischöfe, die zur parlamentarischen Demokratie kein Verhältnis fanden. Es ging dies weit bis in den dem Sozialismus nahe stehenden Linkskatholizismus. Der katholische Publizist Walter Dirks, der nach 1946 mit Eugen Kogon zusammen die „Frankfurter Hefte“ herausgab, lehnte die parlamentarische Demokratie als Frucht des Liberalismus ab. Am 7. Juli 1933 schrieb er: „Es kommt darauf an, daß die Jugend vor allem mit Leidenschaft die geschichtliche Aufgabe im Nationalsozialismus erkennt, die mit der Überwindung von Liberalismus und parlamentarisch-liberaler Demokratie um eine Epoche näher gerückt ist.“ Die katholische Kirche distanzierte sich leichten Herzens vom politischen Katholizismus. Der Kirchenkampf der katholischen Kirche wurde ihrer hierarchisch-autoritären Struktur gemäß zentral von Rom geleitet. Die Regierung unternahm keinen Versuch, in den engeren kirchlichen Raum vorzudringen. An ihrer Feindschaft gegen die katholische Kirche gab es jedoch keinen Zweifel. Mit wohl organisierten und propagandistisch ausgeschlachteten Sittlichkeitsprozessen gegen katholische Geistliche, mit Schikanen aller Art gegen Katholiken, der Bekämpfung von Konfessionsschulen und anderen Maßnahmen wurde der Katholizismus verfolgt. Lange mussten die deutschen Katholiken auf Gegenmaßnahmen warten. Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom März 1937 wirkte in der Situation wie ein Fanal. Mit äußerster Schärfe wurde der Regierung ihr Sündenregister vorgehalten. Mit dieser Enzyklika, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, wurde die Frage nie aufgerollt, ob es einen katholischen Widerstand geben würde. Die Rassengesetze und das von den Nationalsozialisten errichtete Terrorregime hätten dafür Ansätze geboten. Gegen die Verfolgungsmaßnahmen wurde protestiert, aber kein Widerstand geleistet.

Für uns heute ist klar, dass damit jene Stufe erreicht war, die Bonhoeffer gemeint hatte, als er von der Notwendigkeit für ein politisches Handeln für die Kirchen gesprochen hatte. Die große Chance, mit dem Papst im Rücken im Sinne Bonhoeffers einen gemeinsamen Protest des Gesamtepiskopats gegen die Rassenlehre und das Terrorregime zu erheben, war vertan. Schon damals war der Bischof von Berlin, Graf Preysing, der Meinung, die Kirche sollte den großen Konflikt nicht scheuen.

Diese Art des Kirchenkampfes, bei dem die Reaktionen auf die Verfolgtenmaßnahmen des Staates in diplomatischen Noten von Rom aus erfolgten, war für die Gläubigen eine harte Heimsuchung, die davon nichts erfuhren und das Gefühl hatten, dass sich die Kirche alles bieten ließ. Sie erlebten Verfolgungen und Schikanen aller Art, ohne dass von den Bischöfen dagegen in der Öffentlichkeit protestiert wurde. Ja, sie mussten erleben, dass die noch existierende katholische Presse Maßnahmen der neuen Machthaber lobte in der Hoffnung, diese milder zu stimmen. Wenn Kritik geübt wurde, dann wurde sie so in ein Lob eingebunden, dass sie kaum verstanden wurde. Die Stimmung gibt eine 1934 in die Schweiz geschmuggelte und unter dem Pseudonym Michael Schöffler unter dem Titel „Die Glaubensnot der deutschen Katholiken“ erschienene Schrift des katholischen Philosophen Alois Dempf wieder: „Das katholische Volk wartet auf die Führung durch die Bischöfe. Es steht, so weit es gläubig ist, mit derselben Treue und Opferbereitschaft wie in allen früheren Kirchenkämpfen zu seinen Hirten, aber es versteht bald nicht mehr, warum durch die Bemühungen der Bischöfe ein Konkordat, das in jeder Weise ausgehöhlt wird, nicht lieber gekündigt und damit der schleichende Kulturkampf zu einem offenen gemacht.“ Zu diesem offenen Kampf konnte sich Rom nicht entschließen.

Ganz anders verlief die Entwicklung im Protestantismus. Er war durch die Deutschen Christen in seiner theologischen Substanz bedroht. Diese scheuten nicht davor zurück, Hitlers Worte als göttliche Offenbarung zu interpretieren. Durch diese Übertreibungen erhielt jedoch der Protestantismus die Chance, zu sich selbst zu finden. Der nationalistische Überschwang deutsch-christlicher Pastoren verleitete Hitler dazu, sich zu weit zu wagen. Die evangelische Kirche war 1933 in Landeskirchen unterteilt, die sich nach den Landesgesetzen des Kaiserreichs ausrichteten. Es war dies das Erbe des Summepiskopats der fürstlichen Landesherren. Nach 1919 waren an die Stelle der Landesherren evangelische Landesbischöfe getreten. Hitlers Idee, die deutschen evangelischen Kirchen unter einem Reichsbischof zusammenzufassen, stieß auf ähnliche Überlegungen innerhalb der evangelischen Kirchen. Hitlers Bestrebungen nach Vereinheitlichung stießen daher auf Sympathien. Allerdings wollte Hitler die so zusammengefasste deutsche evangelische Kirche in der Hand eines nationalsozialistischen Bischofs gleichschalten. Sein Kandidat war der den Deutschen Christen nahestehende Militärbischof Ludwig Müller. Im ersten Wahlgang für einen Reichsbischof wurde im Mai 1933 Pastor Bodelschwingh gewählt. Hitler nahm diese Entscheidung jedoch nicht hin. Mit Hilfe des Staates zwangen die deutsche Christen Bodelschwingh zum Rücktritt. Am 23. Juli, nachdem Hitler in den Wahlkampf eingegriffen hatte, erlebten die Deutschen Christen einen triumphalen Erfolg. Ludwig Müller wurde von Hitler inzwischen zum „Vertrauensmann und Bevollmächtigten für Fragen der Evangelischen Kirche“ ernannt.

Es begann eine Zeit, in der Pastoren und Landesbischöfe, die nicht den deutschen Christen angehörten, verfolgt, abgesetzt oder durch Strafen diszipliniert wurden. Mit dem Reichskonkordat und der Wahl Müllers zum Reichsbischof schienen beide Kirchen im Juli 1933 paralysiert. Eine Landeskirche nach der anderen wurde gleichgeschaltet. Während sich die katholische Kirche darum bemühte, eine befriedigende Regelung für ihre von der Auflösung bedrohten Vereine zu finden, formierten sich im Protestantismus die Gegenkräfte. Der Anlass war zunächst relativ geringfügig. Unter Martin Niemoeller und Karl Barth begann sich eine kleine Gruppe evangelischer Theologen zu bilden, die die Entwicklung mit steigender Sorge betrachtete. Diese Gruppe wurde im September 1933 zum ersten Mal zum Widerspruch getrieben, als Ludwig Müller verfügte, alle Pastoren mit jüdischer Abstammung sollten entlassen werden. Diese Verfügung betraf nur eine ganz kleine Schar von nicht einmal einem Dutzend evangelischer Pastoren. Die Opposition um Karl Barth und Martin Niemoeller sah darin mit Recht eine Grundsatzfrage. Man durfte es nicht zulassen, dass die Rassenlehre von der Kirche übernommen wurde. Mitte September 1933 gründete sich der Pfarrer-Notbund, aus dem die Bekennende Kirche hervorgehen sollte. Die Absicht, den Arierparagraphen für die evangelische Kirche verbindlich zu machen, hatte inzwischen auch zu Protesten im Ausland geführt.

Hatte Hitler im Juli noch in den Wahlkampf eingegriffen, so hielt er sich Ende September zurück, als in Wittenberg die Nationalsynode zur Wahl Müllers zum Reichsbischof schritt. Die evangelische Kirche wurde nach dem Führerprinzip organisiert. Gerade dagegen richtete sich der Widerstand des Pfarrer-Notbundes, der Hitler eine empfindliche Niederlage beibrachte. In einer Versammlung im Sportpalast am 13. November 1933 überzogen die die Versammlung beherrschenden Deutschen Christen die Ausrichtung der Kirche hin zu „heldischer Frömmigkeit“ und „artgemäßen Christentum“.

Der Pfarrer-Notbund unter Martin Niemoeller nutzte die in den evangelischen Kirchen entstandene Empörung über die Verstiegenheiten der Sportpalastkundgebung. Am 31. Mai 1934 erklärten sich führende Theologen des Pfarrer-Notbundes in der Barmer Theologischen Erklärung als die Kirche. In sechs Sätzen grenzte man sich gegen die völkischen Irrlehren der Deutschen Christen ab und formulierte in einem Bekenntnis die Grundlagen einer von staatlicher Bevormundung freien Kirche. Während die Reichskirche unter Reichsbischof Müller in ihrer theologischen Substanz immer mehr verfiel, gründeten sich überall im Reich Gemeinden der Bekennenden Kirche. Der Versuch des Dritten Reiches, die evangelische Kirche als völkische Kirche gleichzuschalten, war gescheitert. Hitler hatte sich eine schmerzliche Niederlage eingehandelt.

Aber: aus der Politik hatten sich beide Kirchen ausgeschaltet. Wie bei der katholischen Kirche begann eine Politik der Nadelstiche, der Verhaftungen und Verfolgungen gegen die Bekennende Kirche. 1937 versuchte der Staat über das neu gegründete Reichskirchenministerium unter Minister Kerrl sich des Verwaltungsapparates der deutschen evangelischen Kirche zu bemächtigen. Die schon erwähnte Enzyklika „Mit brennender Sorge“ machte für kurze Zeit die Regierung den Kirchen gegenüber vorsichtiger.

An dieser Stelle gilt es jedoch, kurz Möglichkeiten und Aufgaben kirchlichen Widerstandes zu reflektieren. Dem Nationalsozialismus war ein tiefer Einbruch in die evangelische Kirche gelungen, der auch nicht rückgängig gemacht werden konnte. Bis auf die Landeskirchen von Bayern, Württemberg und Hannover waren alle evangelischen Landeskirchen in den Händen nationalsozialistischer Bischöfe. Pastoren der Bekennenden Kirche standen überall in einem ständigen Abwehrkampf. Widerstand hieß hier nicht, den Nationalsozialismus zu bekämpfen, sondern einen Damm gegen den Ungeist des Dritten Reiches aufzurichten. Dasselbe gilt natürlich auch für die katholische Kirche. Allerdings brachte hier die päpstliche Enzyklika eine Diskussion in Gang, ob man nicht das päpstliche Beispiel nachahmen und nun konsequent die Rechtsverletzungen des Dritten Reiches anprangern sollte. Haupt dieser Richtung war der Bischof von Berlin, Konrad Graf Preysing. Seine Versuche, seine Bischofskollegen zu einer klaren Stellungnahme gegen die NS-Diktatur zu bringen, scheiterten an dem zähen hinhaltenden Widerstand des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Johannes Bertram von Breslau. Kardinal Bertram war ein geheimer Bewunderer Hitlers. Als Vorsitzender der Bischofskonferenz zog er die Leitung des Kirchenkampfes an sich. Er hatte dabei ein höchst bequemes System von Eingaben und Protesten entwickelt, die vorher mit den staatlichen Stellen abgesprochen waren und die daher auch nichts bewirkten. Ein Teil der größeren Beschwerden wurden über den Vatikan abgewickelt, die kleineren versandeten in der Praxis Kardinal Bertrams. Dieses, von vielen nicht durchschaute, System war für die übrigen Bischöfe sehr bequem. Graf Preysing konnte sich gegen die Protestpolitik Kardinal Bertrams nie durchsetzen. Die Folge war eine tiefe Vertrauenskrise zwischen Episkopat und Gläubigen, die sich im Stich gelassen fühlten.

Es ist hier aber grundsätzlich zu fragen, was kirchlicher Widerstand bewirken konnte. Mehr als eine Verteidigung kirchlicher Positionen ist vor dem Zweiten Weltkrieg nicht geleistet worden. Das hatte freilich zur Folge, dass der Geist des Nationalsozialismus in die katholische und in die Bekennende Kirche nicht eindringen konnte. Innerhalb eines totalitären Systems ist das ein wichtiger Faktor. Der gegen die Bekennende Kirche geführte Kampf hatte erhebliche Auswirkungen auf das evangelische Bürgertum. Viele, die sich später im Widerstand engagierten, haben aus dem Kirchenkampf die ersten Anstöße erhalten. Das gilt auch für die Katholiken, die sich Widerstandsgruppen anschlossen. Allerdings hat hier die im modernen Katholizismus weit verbreitete Staatsferne nicht zu einem so eindeutigen Engagement im Widerstand geführt. Das Konkordat gab der katholischen Kirche einen Rückhalt. Sie war nie in ihrer seelsorgerischen Funktion gefährdet.

Beide Kirchen, die Bekennende Kirche und die katholische Kirche, wollten unpolitisch bleiben und sahen nicht, dass eine Zurückweisung des NS-Gedankengutes von den Machthabern als politisches Handeln begriffen wurde. Es war ein langsam vor sich gehender Wandel, bis man die prinzipiell kirchenfeindliche Haltung voll begriff. Ein erheblicher Teil kirchlicher, insbesondere katholischer Beschwerden richteten sich gegen die nationalsozialistischen Ersatzreligionen, wie die Gottgläubigen, und gegen Alfred Rosenbergs Schriften. 1933/34/35 hatte man sich auf den engen Bereich der Kirche zurückdrängen lassen. Selbst die Rassengesetze vom 15. September 1935, ja die Pogrome vom November 1938 riefen keine Proteste der Kirchen mehr hervor.

In beiden Kirchen, das gilt für die katholische nicht weniger wie für die evangelische, herrschte eine Staatstreue, die beide Kirchen veranlasste, in ihren Protesten nicht an die Öffentlichkeit zu gehen, sondern sich direkt an Hitler zu wenden. In ihm, dessen Charakter beide Kirchen lange falsch einschätzten, sahen sie das legitime Staatsoberhaupt. Sie kamen damit der Regierung entgegen, die sich von den Denkschriften und Protesten nicht beeindrucken ließ, während sie, wie sich später zeigen sollte, vor öffentlichen Kundgebungen zurückwich. Diese Ambivalenz kann an folgendem Beispiel verdeutlicht werden: Am 28. März 1936 erging an den Führer eine Denkschrift der „Vorläufigen Kirchenleitung der Bekennenden Kirche“, in der gegen die Manipulation der Reichstagswahl, das Faktum der Konzentrationslager und gegen die ideologische Forderung des „Judenhasses“ protestiert wurde. Das Echo war gleich Null. Eine öffentliche Kanzelabkündigung der Vorläufigen Kirchenleitung kurze Zeit danach, in der festgestellt wurde, dass der Christ zu widerstehen habe, wenn der Staat etwas verlange, was gegen Gottes Willen und gegen das Evangelium sei, führte zu Verhaftungen und Verfolgungen. Die Situation änderte sich mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Der Staat benutzte den Krieg zur Aufhebung und Beschlagnahme von Klöstern und kirchlichem Eigentum. Der Konflikt wurde unvermeidlich, als 1940 die erste große Mordaktion des NS-Regimes, die Tötung von Geisteskranken, anlief. Da viele dieser Kranken in kirchlichen Anstalten untergebracht waren, konnten die Kirchen daran nicht vorbeisehen. Nachdem Proteste des evangelischen Landesbischofs von Bayern Wurm, des Bischofs von Münster Graf Galen und des Münchner Kardinals Faulhaber nichts gefruchtet hatten, entschloss sich Bischof Graf Galen im August 1941 zu dem spektakulären Schritt einer Predigt im Dom von Münster, in der er die Mordaktion offen verurteilte. Bis dahin waren der Aktion ca. 120 000 Menschen zum Opfer gefallen. Auf geheime Weisung Hitlers wurde die Aktion gestoppt. Trotzdem sind bis Kriegsende noch etwa 20 000 Menschen getötet worden.

Ähnlich wie bei der Enzyklika „Mit brennender Sorge“, so versuchte auch jetzt Bischof Graf Preysing seine Kollegen zu einer gemeinsamen Erklärung aller deutschen Bischöfe, die an einem Tag von allen Kanzeln verlesen werden sollte, zu bewegen. In dieser Erklärung sollten der Mord an Geisteskranken, die Verbrechen in Polen und andere Untaten offen angesprochen werden. Die Geschichte dieses Hirtenbriefes, für den sich neben Preysing der Erzbischof von München-Freising Kardinal Faulhaber und der Erzbischof von Freiburg Gröber einsetzten, ist ein einziges Trauerspiel. Mit allen Mitteln hintertrieb Kardinal Bertram diese Aktion, indem er so tat, als ob er mitmachen würde, hinterrücks den österreichischen Episkopat aufhetzte und schließlich im März 1942 kategorisch erklärte, er werde diesen Hirtenbrief nicht mittragen, ja damit drohte, sich offen von ihm zu distanzieren. Damit war die eigentliche Absicht vertan. Nur eine gemeinsame Erklärung aller Bischöfe konnte die beabsichtigte Wirkung haben, während die Aktion einzelner Bischöfe, noch dazu, wenn sich Kardinal Bertram davon distanziert hätte, diese der Verfolgung ausgesetzt hätte. Trotzdem wurde eine abgeschwächte Form in München von Faulhaber verlesen. Auch in einigen anderen Bistümern, u.a. Osnabrück, Trier und Würzburg, wurde diese Form verlesen. Sie hatte kaum eine Wirkung. Ob ein gemeinsamer Schritt aller katholischen Bischöfe in der ursprünglich geplanten Schärfe eine Wirkung gehabt hätte, kann nur vermutet werden. Zeitlich wäre er vor der Wannseekonferenz gelegen, auf der die Vernichtungsaktion gegen die Juden beschlossen wurde. Bei der Empfindlichkeit, mit der die Machthaber auf Galens Predigt reagiert hatten, ist wahrscheinlich, dass die Vernichtungsaktion gegen die Juden entweder gar nicht oder wenigstens später in Gang gekommen wäre.

Ende des Jahres kam es zu einer gemeinsamen Aktion der Kirchen. Am 9. Dezember 1941 protestierte der evangelische Landesbischof Wurm im Auftrag der evangelischen Kirchenkonferenz bei Hitler gegen die unverträgliche Behandlung der Kirchen. Wurm verwahrte sich außerdem gegen die Maßnahmen gegen die Geisteskranken und die sich steigernde Härte in der Behandlung der Juden. Einen Tag später protestierte Kardinal Bertram bei Hitler gegen die Verfolgung der katholischen Kirche und die Verletzung „ewiger Gesetze“. Diese Aktion verlief ohne Echo. Die Machthaber waren klug genug, die Proteste auf sich beruhen zu lassen.

Mit der 1942 angelaufenen Vernichtungsaktion der europäischen Juden, gegen die es keine Proteste der Kirchen gibt, war die Situation eingetreten, von der Bonhoeffer gemeint hatte, dass sie ein gemeinsames, von einem Gremium beschlossenes politisches Handeln verlangt hätte. Der sog. Dekalog-Hirtenbrief von 1943, der von allen Kanzeln im Reich verlesen wurde, stellte in seiner verklausulierten Form die schärfste Äußerung der katholischen Kirche gegen das Dritte Reich dar. Auch hier hatte Kardinal Bertram eine so unklare Aussage erzwungen, wo angesichts der unvorstellbaren Verbrechen eine klare Sprache nötig gewesen wäre, dass dieser Hirtenbrief von den Machthabern ohne größere Gegenaktion hingenommen wurde. Ihre Rechnung war richtig. Eine scharfe Reaktion hätte die Öffentlichkeit nur auf das bestgehütete Geheimnis der NS-Herrschaft aufmerksam gemacht.

Es wurde schon auf die indirekten Auswirkungen der Haltung der Kirchen auf Teile des deutschen Widerstandes hingewiesen. An zwei Aktionen waren Teile des Episkopats beteiligt. Im Herbst 1939 hatte sich im Oberkommando der deutschen Wehrmacht um den Befehlsheber des Heeres von Brauchitsch und den Generalstabschef Halder eine Widerstandsgruppe gebildet. Dr. Joseph Müller wurde mit dem Auftrag zu Papst Pius XII. geschickt, über den Vatikan herauszubekommen, welche Bedingungen Deutschland in einem Frieden eingeräumt erhalten würden, wenn es gelungen war, Hitler und seine Regierung zu stützen. Gegen den Rat seiner Umgebung, die ihn vor einem Eintreten für die deutsche Opposition warnte, setzte sich der Papst für diese Gruppe ein und richtete an den englischen Vatikanbotschafter die Frage, ob nach der Ausschaltung Hitlers durch deutsche Generale ein Friede auf der Basis der Grenzen von 1938 möglich wäre. Nach ausweichenden Antworten Englands schaltete sich Pius XII. viermal persönlich ein, um die englische Seite von der Ernsthaftigkeit dieser Aktion zu überzeugen. Voraussetzung war die Beseitigung des NS-Regimes. Es konnte eine Übereinstimmung über die Garantie Deutschlands in den Grenzen von 1937 erzielt werden. Eine Zusicherung, dass die Alliierten stillhalten würden, wenn in Deutschland ein Umsturz erfolgen würde, kam nicht zustande. Hans von Dohnanyi gab eine Zusammenfassung „X-Bericht (nicht erhalten)“ über das Ergebnis der Aktion Müllers an Halder weiter. Sie war offensichtlich optimistischer gehalten, als es den Antworten der englischen Regierung entsprach. Halder, der diesen Bericht Brauchitsch vorlegte, konnte von dem Oberbefehlshaber des Heeres keine Zustimmung erreichen, die Kontakte weiterzupflegen. Der Überfall auf Norwegen – Dänemark beendete die Aktion. Über Dr. Müller ging von General Oster eine Warnung an den Vatikan vor einem deutschen Angriff im Westen Ende April 1940. Dieser wurde von Rom an die Nuntiaturen in Paris und Brüssel weitergegeben. Die vatikanischen Funksprüche wurden vom „Forschungsamt“ Görings entschlüsselt. Eine von Heydrich in Gang gesetzte Untersuchung Ende Mai 1940 konnte von Admiral Canaris abgebogen werden.

Die zweite Aktion betraf den Kreisauer Kreis, an dessen Beratungen die Jesuitenpatres König, Delp und Rösch und Eugen Gerstenmaier als evangelischer Theologe teilnahmen. Die drei genannten Jesuiten taten dies mit Wissen, ja sogar im Auftrag von Kardinal Faulhaber. Auch mit Bischof Graf Preysing hatte der Kreisauer Kreis Beziehungen. Hier haben evangelische und katholische Christen gemeinsam Überlegungen für ein Deutschland nach Hitler angestellt.

Ich komme zum Schluss. Beide Kirchen, die katholische wie die evangelische, wurden vom Dritten Reich verfolgt und drangsaliert, ohne dass allerdings je ihre seelsorgerliche Aufgabe in Frage gestellt wurde. Beide Kirchen haben sich dem totalitären Anspruch des NS-Regimes widersetzt. Sie waren so gesehen ein Refugium für Andersdenkende. Einen Widerstand, der das NS-Regime gefährdet hätte oder seine Beseitigung angestrebt hätte, ging von ihnen nicht aus.

Wer die Protestnoten katholischer und evangelischer Bischöfe liest, kommt zu dem Ergebnis, dass in ihnen genannt wurde, ohne dass allerdings die Gräuel in Polen und der Sowjetunion oder die systematische Vernichtung der Juden im Einzelnen angesprochen wurde. Diese Protestnoten ließen sich die Machthaber gefallen, weil sie wussten, dass jede öffentliche Reaktion darauf ihre Verbrechen bekannt gemacht hätte. Das aber war es, was die Regierung unter allen Umständen vermeiden wollte. Man kann Kardinal Bertram vorwerfen, dass er mit seinen Protestnoten das Spiel der Nationalsozialisten gespielt hat. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass jede öffentliche Aktion unabsehbare Folgen gehabt hätte. Wie ein öffentliches Anprangern der NS-Verbrechen im Krieg auf die Öffentlichkeit gewirkt hätte, wissen wir nicht.

Das Beispiel des Protestes am Mord an Geisteskranken des Bischofs Galen zeigt jedoch, wie empfindlich die NS-Machthaber darauf reagierten. Der von Bischof Graf Preysing und dem Jesuitenprovinzial Rösch geforderte, von allen Kanzeln zu verlesende Hirtenbrief des gesamten deutschen Episkopats Ende 1941 kam nicht zustande. In ihm sollten die bis dahin verübten Mordaktionen an Geisteskranken, in Polen und der Sowjetunion mit aller Deutlichkeit angesprochen werden. Eine geschlossene Aktion des gesamten deutschen Episkopats hätte mit großer Wahrscheinlichkeit weitere Verbrechen verhindert. Das Risiko war allerdings vorhanden, dass eine solche Aktion eine allgemeine Christenverfolgung ausgelöst hätte. Die Bedenken Kardinal Bertrams gegen einen solchen Hirtenbrief betrafen allerdings weniger die möglichen Gegenmaßnahmen des Staates, als den Vorwurf, dem er die katholische Kirche nicht aussetzen wollte, sie wäre der Front in den Rücken gefallen. Ob die Regierung sich im Krieg dazu entschlossen hätte, muss als unwahrscheinlich gelten.

Wir sind anfangs von der Behauptung Hochhuths ausgegangen, eine energische Verurteilung der NS-Verbrechen durch die Kirche, gemeint war hier die katholische Kirche, hätte ein Ende des Dritten Reiches herbeigeführt. Eine solche Verurteilung ist in aller Öffentlichkeit nicht erfolgt. Ich habe, daran anknüpfend, die Frage gestellt, ob ein solcher Schritt mit allen seinen Folgen von den Kirchen hätte riskiert werden dürfen. Eine Legitimation dazu besaßen die Kirchen nicht. Das betrifft in gewisser Weise auch das Verhalten der Kirchen unter dem SED-Regime. Ihr Verhalten 1933/1945 und 1949/1989 war auf Bewahren und Erhalten des christlichen Gedankengutes und der Seelsorge ausgerichtet. Eine solche Haltung bedeutete in beiden Regimen auch ein Zusammenarbeiten mit den staatlichen Stellen. Dieses Beharren und Bewahren war für den totalitären Staat gleich welcher Couleur mit seinem Anspruch des totalen Erfassens der Menschen Widerstand. In der Sowjetunion begann die Regierung 1917 mit einem Vernichtungskampf gegen die russische orthodoxe Kirche und ihre Einrichtungen. 1945 waren die Sowjets in Polen und der DDR vorsichtiger. Sie versuchten, ähnlich wie die Machthaber des Dritten Reiches, in ihrem Machtbereich die Kirchen durch Gegenmaßnahmen und Bespitzelungen, aber auch durch Verfolgungen auf ihren engeren Bereich zurückzudrängen. Sie haben mit der Entchristlichung des öffentlichen Lebens und der Bevölkerung große Erfolge erzielt, ohne einen letzten Kern von Gläubigen überwinden zu können. Diesen Kern konnte auch die SED in vierzig Jahren Herrschaft nicht überwinden. Dies ist eine allgemeine Erfahrung. Wie ein offener Kampf, sei es gegen das Dritte Reich, sei es gegen die kommunistische Herrschaft, ausgegangen wäre, muss offen bleiben. Die Kirchen sind in erster Linie moralische Anstalten mit der Verpflichtung, gegen Unrecht und staatliche Willkür zu kämpfen. Mit dem organisierten maschinellen Massenmord an den Juden überschritt die NS-Regierung den Punkt, wo die Kirchen, unabhängig von den möglichen Folgen, ihre Stimme hätte erheben müssen. Sie haben es nicht getan und müssen heute mit dem Vorwurf leben, versagt zu haben. Etwas anderes ist ihr Verhalten gegenüber einem totalitären Staat. In jedem antichristlichen totalitären Regime werden die Kirchen zwischen Anpassung, Mitmachen und Festhalten am christlichen Glaubensgut einen Weg finden müssen.

Der deutsche Widerstand, in dem sich eine relativ kleine Gruppe von Nichtchristen und Christen beider Konfessionen zusammenfanden, zeigt, dass Widerstand vom Entschluss des Einzelnen abhängt. Die lange Geschichte des Christentums kennt viele und lange Phasen von Verfolgungen aller Art. Eine aktive Rolle der Kirchen bei der Beseitigung eines Regimes ist nicht bekannt. Politisches Handeln im Sinn eines von den Kirchen organisierten Staatsstreichs gehört nicht zu ihren Aufgaben. Die Kirchen haben zwischen 1933 und 1945 und zwischen 1949 und 1989 im Interesse ihrer Gläubigen versucht, in einem antichristlichen Staat zu überleben. Schwäche, Versagen und Anpassung sollen damit nicht entschuldigt sein. Widerstand im eigentlichen Sinn kann aber immer nur die Entscheidung des Einzelnen sein. Der deutsche Widerstand, dessen spektakulärsten Ereignis, das Attentat vom 20. Juli 1944, in diesen Tagen sich zum 50. Mal jährt, kennt viele Beispiele eines aus christlichem Geist erwachsenen Entschlusses zum Widerstand. Die Ereignisse des Jahres 1989 in der DDR gehen aber darüber hinaus. Es waren evangelische Christen, die den Anstoß gaben, ein angeblich so festgefügtes Regime in Frage zu stellen. Diese Haltung entsprach dem Geist der Frauen und Männer des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Es war das, was man mit Recht als Aufstand des Gewissens bezeichnet hat. In ihm haben sich Christen und Nichtchristen vereinigt. Aber es war nicht die evangelische oder die katholische Kirche, die zu diesem Aufstand aufrief, sondern Menschen, die aus ihrer christlichen Überzeugung heraus handelten. Das Gewissen zu schärfen, christliche Überzeugung und christliches Glaubensgut zu bewahren und von daher in die Welt zu wirken ist das, was den Kirchen in einer pluralistischen Gesellschaft verblieben ist. Dies ist die Erfahrung, die uns aus zweimal Kirchenkampf in Deutschland geblieben ist. In einer Gesellschaft, die von der Verantwortung des Einzelnen getragen ist, liegt es an diesen und den von ihnen berufenen Politikern, Publizisten, Juristen, kurz gesagt an der Öffentlichkeit, den Absturz eines Staates in die Willkürherrschaft totalitärer Regime zu verhindern. Die Rolle der Kirchen, und das konnte auch nicht anders sein, gab den Hintergrund, die Richtung an.