"Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben hindurchgedrungen sind; denn wir lieben die Brüder."

Eberhard Bethge

„Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben hindurchgedrungen sind; denn wir lieben die Brüder.“

Predigt von Pfarrer Dr. Eberhard Bethge am 20. Juli 1962 in der St. Annen-Kirche, Berlin

Text: 1. Johannes 3, 14-16

„Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben

hindurchgedrungen sind; denn wir lieben die Brüder“.

Es wird uns schwer fallen, diesen selbstsicheren Satz mitzusprechen. Wir schrecken vor dem vollen Präsens zurück. Der Satz meint nicht Liebe zu den Brüdern als futurische Hoffnung, die wir uns einmal wünschen, sondern gründet das Wissen um das Heil in unserer Liebe jetzt. Vielleicht, dass wir wagten zu sagen: „Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben hindurchgedrungen sind“, wie es der Katechismus uns früher einmal gelehrt hat: „denn wir sind getauft“. Aber nein, Johannes drückt es nicht so aus.

Vielleicht, dass wir mit Johannes so apodiktisch und undifferenziert heute über die sprechen dürfen, derer wir gedenken? Ihre Lebensbilanz ist gezogen und niemand und nichts kann sie mehr verfälschen. Aber auch sie hätten den Satz zu ihren Lebzeiten nicht präsentisch mitsprechen wollen. Zu gut wussten sie, wie ununterscheidbar Gutes und Schuldhaftes sich bis in ihre letzten Entscheidungen hinein vermischte.

Unter uns tritt die Liebe in reiner Form nicht auf. Unsere Liebe bleibt launisch und wählerisch. Wir können nicht wagen, sie in ihren Abstufungen von der Neigung bis zur mühsam aufrechterhaltenen Freundlichkeit zur Basis des Heiles Gottes zu machen. Will aber Johannes alle Zwischenstufen auslöschen? Soll nur das Schwarz-Weiß von Liebe – Hass, von Leben – Tod gelten?

Das ist genau, was Johannes uns sagt. Und dieses gilt: Liebe ist Liebe. Noch in ihren letzten Abstufungen, noch in hundertfacher Brechung ist sie nur eine. Die Liebe ist in Wahrheit unteilbar.

Was heißt das? Es heißt zunächst etwas atemberaubend Bedrängendes und es heißt dann etwas unendlich Tröstliches für diesen Gedenktag. Zunächst: Es heißt, dass Gottes Liebe und unsere Liebe unteilbar eins sein sollen. Die hilfreiche Trennung in eine Liebe von oben und eine von unten gilt nicht. „Wir lieben“ und „Gott liebt“ sind gleichen Ursprungs. „Wir lieben“ und „Gott liebt“ sind der gleiche geistliche Tatbestand. „Wir lieben“ und „Gott liebt“ sind die gleiche, eine Basis für jene Lebensgewissheit. „Wir lieben“ ist in Wahrheit nichts als „Er liebt“ – und „Er liebt“ ist wirklich und habbar nirgends als im „Wir lieben“. Darum lässt sich Johannes von jenem apodiktischen Präsens nicht abbringen, kein Graben zwischen Ihm und uns soll das Für- und Unter-uns-Sein Gottes mehr unzugänglich machen. Es ist falsche Bescheidenheit, auf der Trennung zu bestehen.

Es ist falsche Bescheidenheit, die die Liebe als Vergangenheit zur Legende macht. Falsche Bescheidenheit, die die Liebe als zukünftig nie erreichbar machte. Die bescheidene Trennung hält sich Gottes Liebe als zu bedrängend vom Leibe und hat damit ihre Realität schon verleugnet. Die Liebe ist nie vergangen; denn Gott ist! Die Liebe ist nie aufgespart für später; denn Gott ist jetzt Gott. Wer der Liebe das Präsens raubt, tastet ihre Majestät an. Liebe ist jetzt und Leben ist jetzt; darum sind sie eins. Die Liebe weiß, dass das Vergangene, der Tod, vergangen ist. Die Liebe weiß, dass das Kommende, das Leben, ihr jetzt gehört.

Deshalb: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hindurchgedrungen sind, denn wir lieben die Brüder“. Unteilbar ist die Liebe eins nach oben und unten, nach rückwärts und vorwärts. Unteilbar wie Gott selbst.

Zum anderen: Es heißt, dass jedes armselige Bruchstück von Liebe, ja, dass noch die scheiternde Liebe aufgenommen und hineingerissen wird in jene eine unteilbare Liebe. Unser Lieben sei verdunkelt und zugedeckt; es sei vermischt und am Ersticken unter der alltäglichen Hartherzigkeit und Ehrsucht, der Unlust und Bosheit der Zunge (wovon Johannes deutlich zu reden weiß! 3. Johannesbrief); die eine Liebe beansprucht es dennoch. Sie beansprucht die großen und kleinen Opfer, die gelungenen und misslungenen Versuche und bemächtigt sich ihrer. Sie macht unsere Halbheiten zu Teilen des Ganzen, das Misslungene zu Teilen des Gelungenen, unsere Menschlichkeiten zu Teilen des Göttlichen. Die befleckten und glanzlosen Opfer gliedert sie dem einen reinen Opfer ein; die vom Tode gezeichneten Erweise der Liebe den Zeichen des ewigen Lebens. Die Taten der Ohnmacht enthüllt sie als Werke der Vollmacht. Unwiderstehlich reißt sie uns in ihren Kreis. Heilend fügt sie die Opfer, deren wir gedenken, den Werkzeugen ihres Reiches ein. Bis zur Unkenntlichkeit umkleidet sie sie mit der Autorität ihres Wesens. So hat sie dem Scheitern den Stachel genommen. So hat sie das Halt, das ihr der Hass setzte, durchschritten. So hat sie das Ende, das ihr der Tod bereitete, zu ihrem Anfang gemacht. Souverän überholt sie unser schmerzliches „Nicht mehr“. Souverän überhört sie unser skeptisches „Nie wieder“.

Nun aber ertönt der Hymnus des Johannes über einem rätselhaften Abgrund. Auch der Hass, der Tod möchte jene Unteilbarkeit praktizieren: Nicht-lieben = Tod, Bruderhass = Mord. Jener tröstlichen Unteilbarkeit der Liebe soll auch die drohende Unteilbarkeit des Hasses entsprechen.

„Wer den Bruder nicht liebt, der bleibt im Tode. Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger; und ihr wisst, dass ein Totschläger hat nicht das ewige Leben bei ihm bleibend“.

Ob wir hier dem apodiktischen Johannes bereitwilliger folgen? Steht es so schlimm, dass die Unfreundlichkeiten, mit denen wir den Nachbarn auf unser Lebensrecht aufmerksam machen und ihn in seine Schranken weisen, schon den Weg zum Mord bezeichnen? Johannes hat die Bergpredigt für sich: „Wer zu seinem Bruder sagt, du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig.“ Wir aber bleiben Gezeichnete der Erfahrung, dass die Erziehung zum Hass im Morden endet, Erziehung, die unheimlicherweise ihr Recht aus verständlichen Sicherungsbedürfnissen herleitet: Die Verteidigungslinie darf an keiner Stelle unterbrochen werden durch einen, der nicht mithasst.

Kaum verständlich ist das Rätsel, dass dem Hass solche Folgerichtigkeit innewohnt, dass ihm so überwältigende Kraft verliehen ist, dass er der Liebe solche Konkurrenz machen darf. Hier hätten wir Gott wahrhaftig Vorwürfe zu machen und befänden uns damit in der guten Gesellschaft alttestamentlicher Männer. Warum hat Hass so viel Raum und warum beherrscht er die Szene? Der Hass selbst ist nicht um Auskunft verlegen. Er zeigt auf seine Objekte und lokalisiert in ihnen alle Gründe. Aus seinen Opfern saugt er den Stoff, sich zu entflammen. Unermüdlich erfindet er dringendere Beweise seines Rechtes. Das ist seine Auskunft. Aber was ist sein Ursprung? Lebt er vielleicht aus der Kompensation seiner Schwäche? Saugt er die Kraft aus dem Neid des Todes auf das Leben? Johannes führt ihn auf die Vaterschaft des Teufels zurück. Aber damit erklärt er ja nichts, sondern verstärkt nur die merkwürdige Verborgenheit seines Ursprungs. Unvermittelt ist er da, unvermittelt impft er Gruppen und Nationen mit der Besessenheit, das Furchtbare guten Gewissens zu vollführen.

Nein, Johannes erklärt ihn nicht, er statuiert ihn! Die Erklärung bekommt ihn nie zu fassen. Das Unaufdeckbare seines Ursprungs gehört zu seinem Wesen. So erlaubt er unserer Philosophie gern das Geschäft, nach seinem dunklen Ursprung zu suchen und die dualistische Notwendigkeit der zwei Welten nebeneinander zu entwerfen. Er liebt es, wenn wir uns von dem dunklen Sog dieses dualistischen Rätsels ablenken lassen Er aber treibt sein Werk. Zu fassen bekommt ihn etwas ganz anderes. Und um dessen willen schreibt Johannes. Und um dessen willen haben wir uns hier heute versammelt. Johannes interessiert trotz seiner dualistischen Sprach- und Vorstellungswelt nicht das Rätsel dieses Dualismus: Liebe – Hass, Leben – Tod. Ihn interessiert der Hebel, der diese Welt des Hasses aus den Angeln hebt.

Die zwei Welten stehen nicht gleichwertig nebeneinander. Liebe und Hass sind kein Pendant. Sondern die machtvolle ist von der armseligen schon aus den Angeln gehoben Die laute ist von der leisen bereits überholt. Und was bei den Männern, derer wir gedenken, wie lauter Scheitern schien, hat in Wahrheit eine Welt des Hasses aus ihren Angeln gehoben. Das Geheimnis jenes Hebels ist unser Thema und nicht die Faszination dieses Abgrundes.

„Daran haben wir erkannt die Liebe, dass jener sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen!”

Das Geheimnis dieses Hebels erkennt Johannes in der Liebe des „Jenen“. Jener hat die Reihenfolge dieser Welt, die Leben – Tod lautet, umgestürzt. Nun heißt sie Tod-Leben. Der Hass fängt an, das Leben zu sichern – und endet im Tod. Die Liebe Jenes fängt an mit der Hingabe des Lebens – und endet im Leben. Hass liegt auf der Lauer, hält zurück, dass er habe – und hat nichts; Jenes Liebe verströmt sich – und hat alles. Hass entbindet titanische Lebensgeister, er verschweißt sie zu stupenden Ordnungsgefügen – und hinterlässt pulverisierte Ruinen, seine Besessenen aber entlässt er in einsamer Ratlosigkeit; Jenes Liebe lässt alle Hilfen fahren und unterliegt in ohnmächtiger Einsamkeit – und entbindet die neue Brüderlichkeit, die Brüderlichkeit der Opferbereiten.

Was ist das für eine Opferbereitschaft? Die für unsere gute Sache? Für die gute Idee? Für die zukunftsmächtige Weltanschauung? Für die Welt unserer ewigen Werte oder für die Wertvollen unter uns? Bestürzend einfach lautet es: „für uns“, „für die Brüder”, „für Menschen”! Menschen, bei denen es sich fragt, ob sie der Welt der ewigen Werte wert sind. Menschen, die unbeständiger sind als die gute Sache. Menschen, die sich verstellen und hinter der guten Idee verborgen bleiben wollen. Menschen, die noch einmal zu schwach sind, der Logik des Hasses zu widerstehen. Ihnen bringt diese Liebe das Opfer des Lebens. Sie zählen, sie sollen dem Leben gehören.

Brüder sind sie alle, denen dies Opfer gehört. Und Brüder sind sie alle, deren Opfer durch dieses eine für immer gültig gemacht ist. Das Geheimnis des Lebens ist mit ihm enthüllt und inthronisiert, wo immer Opferbereite am Werk gewesen sind und sein werden, die Hell-Scheinenden und die Nur-schwach-Leuchtenden, die bewussten und unbewussten Christen, die sich für bekehrt hielten und die Unbekehrten, die Gläubigen und die Atheisten. Ihr Opfer für Menschen, für die Brüder ist in seines aufgenommen.

„Dass Jener sein Leben für uns gelassen hat“, das hat die Augen für das universale Geheimnis geöffnet, wovon diese Welt allein in Wahrheit lebt: „daran haben wir erkannt die Liebe“. Was ist das für eine Erkenntnis? Dies Erkennen ist nicht die Wahl des Vorbildes, das man zu seinem Idol erhebt, ihm nacheifert und dennoch nicht näher kommt. Es ist ein Erkennen, wie es die Scham hat. Scham sieht sich betroffen in eine Gestalt hineingezogen, die das eigene Maß unendlich übersteigt. Es gibt auch eine ganz andere Beschämung, die zynische Beschämung; sie ruft unseren ganzen Trotz auf den Plan, mit Recht. Aber diese Beschämung in der Begegnung mit dem Opferbereiten löst eine Antwort aus, die mehr leistet, als sich der Antwortende je vorher zutraute.

So sind wir durch diese Liebe in das Geheimnis des Lebens hineingezogen. In einer schöpferischen Beschämung erkennen wir, dass dieser Tag, den wir heute begehen, kein Totengedenktag mehr ist. Er ist ein Fest des Lebens. Wir stimmen mit Johannes diesen Hymnus der Liebe an. Wir leugnen nicht, was uns heute beunruhigt. Uns beunruhigt die Unwilligkeit der Herzen, diesen Tag zu akzeptieren. Uns beunruhigt die Bindungslosigkeit unserer Gesellschaft nach einem solchen Opfer wie dem 20. Juli. Uns beunruhigt die Verstockung. Uns beunruhigt die schamlose Benutzung derer, die uns teuer sind, zur eigenen Propaganda auf allen Seiten. Aber das letzte Wort gehört dieser Beunruhigung nicht. Das niederdrückende „Umsonst“ der ersten Jahre nach 1944 hat sich verwandelt in ein anderes „Umsonst“, das Leben schaffende und majestätische Umsonst der Liebe. Und dieses Umsonst der Liebe ist Gottes. Daran lasst uns festhalten.